Total recall - oder: Alle reden von Werbung, wir auch!

Werbeanzeigen verändern autobiografische Erinnerungen

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In dem Schwarzenegger-Film "Total Recall" (1990) lebt eine virtuelle Urlaubsindustrie davon, ihren Kunden wertvolle Erinnerungen in ihr Hirn zu pflanzen. Die Methode ist so perfekt, dass die Urlaubsfreudigen die künstlichen Seifenblasen anschließend nicht mehr von den Geschichten ihres wirklichen Lebens trennen können. Regisseur Paul Verhoevens Vision könnte sich aber auch ohne futuristische Technologien realisieren lassen.

US-Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Werbeanzeigen geeignet sind, Kindheitserinnerungen zu verändern. Menschen erinnern auch solche Ereignisse, die sie nie erlebt haben. Erwachsenen, denen etwa eine gefälschte Anzeige von Disney World-Besuchern gezeigt wurde, die Bugs Bunny die Hand schüttelten, waren anschließend fest davon überzeugt, dass sie als Kinder dasselbe erlebt hätten. Aber das ist bereits deshalb ausgeschlossen, weil das Riesenrabbit als Warner-Bros-Figur keinen Zutritt zu Disneys Themenparks hat. Die Ergebnisse wurden jetzt an der Glasgow University vorgestellt. Das Forschungsteam unter der Leitung von Elizabeth Loftus von der University of Washington in Seattle ermittelte, dass potenziell autobiografisch ausgerichtete Werbung Ereignisse, selbst wenn sie sich unmöglich ereignet haben können, kurzerhand den eigenen Kindheitserlebnissen zugeschlagen werden.

Die Recherchen der als Diva of Disclosure bekannten Gedächtnisforscherin wurden vom 25-jährigen Jubiläum von Disney World in Orlando inspiriert. Disney betrieb die Anzeigenkampagne unter dem für die Studien bezeichnenden Titel Remember the Magic. Nach den Beobachtungen der Forschungsgruppe beginnt die Werbeindustrie ohnehin inzwischen zu begreifen, dass Erinnerungen konstruiert werden. So werden Produkte im Kontext denkbarer autobiografische Ereignisse besonders nachhaltig von Konsumenten aufgenommen.

Der Getränkehersteller Stewart's entdeckte, dass sich viele ältere Erwachsene erinnern, als Heranwachsende ihr nichtalkoholisches Bier aus Flaschen getrunken zu haben. Das ist aber bereits auf Grund der schlichten Tatsache unmöglich, dass das Unternehmen erst vor zehn Jahren mit der Distribution von Flaschen begann. Zuvor war das Getränk nur in Erfrischungshallenautomaten erhältlich. Die Flaschen sind zudem mit Slogans wie "original", "old fashioned" und "since 1924" geschmückt, die der autobiografischen Selbsttäuschung auf die magischen Sprünge helfen sollen. Die Erinnerungsforscher ziehen das Fazit:

In einem gewissen Sinne ist das Leben ein Prozess ständiger Veränderungen des Gedächtnisses, das immer wieder durch neue Erfahrungen geprägt wird.

Die Forscher machen sich auch bereits Gedanken über die schwer wiegenden ethischen Implikationen ihrer Ergebnisse. Ist es in Ordnung, dass das Marketing wissentlich die persönliche Lebensgeschichte der Konsumenten umschreibt? Nun dürfte diese Frage so grotesk sein wie die meisten Reklameinhalte selbst, die mit fast allen Mitteln die Aufmerksamkeit ihrer potenziellen Kunden manipulieren wollen. Selbstverständlich werden Werbemagier ihre Werbebotschaften auch historisch stärker aufladen, wenn es der allmächtigen bis ohnmächtigen Kaufentscheidung dient. Das Verbot subliminaler Werbung dürfte solche Inhalte ohnedies nicht treffen. Die Forscher fühlen sich indes veranlasst, nun Konsumenten zu warnen, sich die unheimliche Macht des "Total recall" der Werbung zu vergegenwärtigen.

Dabei dürfte es erheblich interessanter sein festzustellen, dass Erinnerungen wie alle Gehirntätigkeiten konstruiert werden. Der scheinbar unbestechliche Speicher des eigenen Lebens erschien schon Nietzsche als Fiktion: "Das habe ich getan", sagt mein Gedächtnis. "Das kann ich nicht getan haben" - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - gibt das Gedächtnis nach (Jenseits von Gut und Böse). Mit anderen Worten: Es ist jetzt kein Dilemma mehr, wenn Erlebnishungrige sich keinen Vier-Sterne-Premium-Urlaub leisten können, so lange sie sich nur gezielt den aufregenden Verlockungen der Reklame hingeben. Nach diesem hochpolitischen Beitrag zum sozialen Frieden bleibt nur noch der Hinweis: Nun "Nogger dir einen". Dieses Langnese-Happynese-Event aus den sechziger Jahren können sich aber auch Spätgeborene ohnehin leisten, weil der Eiskremhersteller seinen Klassiker schon deshalb eiskalt im Programm hält, damit auch die süßesten Realerlebnisse der Kindheit jederzeit wieder erschleckt werden können.