Transatlantiker vs. Eurasier – wer wird Deutschlands Zukunft entscheiden?

Kompass mit BRD-Nadel, USA- und Russlandflagge auf deer Skala

Deutschlands lange Westintegration steht auf dem Prüfstein. Geht es um traditionelle Bündnistreue oder eine neue flexible Haltung? Ein Abgleich.

Spätestens mit dem Beginn des russisch-ukrainischen Krieges ist in Deutschland ein heftiger interner Konflikt um dessen internationale Ausrichtung ausgebrochen. Transatlantiker fordern vehement die Isolierung Russlands und Vertiefung der deutschen Westausrichtung, während Eurasier für eine ausgewogenere Positionierung zwischen West und Ost argumentieren. Eine sachliche Evaluierung deutscher Interessen ist geboten.

Die größtenteils seit 1945 und gänzlich seit 1990 bestehende deutsche Westintegration steht auf dem Prüfstand. Das hat einerseits damit zu tun, dass sich die westliche Hegemonialmacht USA, ebenso wie der politische Westen im Allgemeinen, im relativen Abstieg befinden, während andererseits der Globale Süden, und hier insbesondere der asiatische Kontinent, einen relativen Aufstieg erleben.

Dementsprechend erscheint es nur folgerichtig, die deutsche Interessenlage und Positionierung im internationalen System auf deren zeitgemäßen Zustand zu überprüfen.

Folgt man den Argumenten transatlantisch geprägter Teile der deutschen Machtelite, gebietet die gegenwärtige geopolitische Situation ein Besinnen auf traditionelle Bündnisverhältnisse. Ferner seien in der Vergangenheit begangene Irrtümer im Umgang mit den (euro-)asiatischen Giganten Russland und China aufzuarbeiten und im Zweifelsfall zu revidieren.

In diesem Rahmen kommt eine deutsche Selbstverortung am ehesten dem gleich, was Vizekanzler Robert Habeck als "dienende Führungsrolle" definiert hat.

Doch wem dient die deutsche Regierung im Rahmen einer derartigen Ausrichtung eigentlich wirklich? Dass sich die Bedingungen für die deutsche Volkswirtschaft, geschweige denn die Lebensbedingungen der allgemeinen deutschen Bevölkerung, zuletzt gebessert hätten, darf zumindest infrage gestellt werden.

Es ist in ebendiesem Kontext, in dem eine eher eurasisch orientierte Fraktion die Rolle Deutschlands etwas differenzierter betrachtet. Sie sieht, im Kontrast zur transatlantischen Fixierung, eine Chance zur Flexibilisierung der deutschen Position gekommen – und argumentiert mit validierbaren deutschen Interessen.

Transatlantismus als Relikt der deutschen Nachkriegsordnung

Transatlantische Klassen- und Herrschaftsstrukturen, die also den (west-)europäischen und den (nord-)amerikanischen Raum miteinander verbinden, gehen in ihren Ursprüngen mindestens bis in das 19. Jahrhundert zurück. Hier war Deutschland politisch, im Kontext der "Deutschen Frage", zunächst außen vor, beziehungsweise, im Rahmen beider Weltkriege, gar Kontrahent westlicher Bündnissysteme.

Dieser Umstand änderte sich mit der bedingungslosen Kapitulation 1945 und der weitflächigen Besetzung Deutschlands durch die Westalliierten.

In den Jahrzehnten nach 1945 entwickelte sich die BRD, vor allem auch im Rahmen der Vereinigung beider deutscher Staaten 1990, erneut zu einer dominanten Regionalmacht in Europa – dieses Mal jedoch, ähnlich wie Japan, nicht autark, sondern eingebettet in das westliche Bündnissystem unter hegemonialer Führung des US-amerikanischen Imperiums.

Es liegt in der Natur der Sache, dass die BRD seither nur mit variierend intensiven Einschränkungen auf internationaler Ebene agieren konnte und hier immer wieder auch mit den Interessenlagen in Washington konfrontiert gewesen ist.

Geht es nun nach Teilen der deutschen transatlantischen Elite, stellt diese Art der eingeschränkten Souveränität kein wirkliches Problem dar, solange die BRD im Rahmen ihrer "dienenden Führungsrolle" einen halbwegs privilegierten Platz in der westlichen Hierarchie einnimmt.

Gerade zuletzt hat sich jedoch, wie eingangs angedeutet, die Frage aufgedrängt, wie sinnvoll eine derart einseitige internationale Ausrichtung nach Westen ist, denn deutsche und US-amerikanische Interessen sind keineswegs immer kongruent miteinander.

Geostrategische Einseitigkeit birgt für Deutschland eher Nachteile

Die Energieversorgung Deutschlands und Europas spielt, um ein zentrales geopolitisches Beispiel zu nennen, in diesem Kontext eine wichtige Rolle, wie Helen Thompson in den ersten drei Kapiteln ihres Buches "Unordnung" dargelegt hat. Thompson beschreibt hier, wie Washington und Moskau bereits seit Jahrzehnten um die europäische Energieversorgung sowie prinzipiellen Einfluss in Europa konkurriert haben.

Derartige Zusammenhänge bleiben leider oft unbeleuchtet, wenn gegenwärtig über Deutschlands Position zwischen diesen beiden Großmächten diskutiert wird. Insbesondere im Kontext der deutschen Energieversorgung – den USA war Nordstream 2 bereits seit langem ein Dorn im Auge –, sowie Berlins Positionierung gegenüber Moskau im Allgemeinen, deutet einiges darauf hin, dass Washington zuletzt enormen Einfluss gegenüber Berlin geltend gemacht hat, um die deutsche Elite auf den US-amerikanischen Kurs einzuschwören.

Nun muss man keineswegs auf einen der wichtigsten deutschen Staatsmänner, Otto von Bismarck, zurückgreifen , um Argumente dafür vorzulegen, dass es aus deutscher Sicht heraus strategisch unklug erscheint, eine erneute Konfliktsituation mit Moskau in Kauf zu nehmen oder gar aktiv anzustreben.

Es sollte normalerweise bereits ausreichen, sich die geographische Lage Deutschlands, als eurasische Regional- oder Mittelmacht zwischen West und Ost, vor Augen zu führen.

Deutschland folgt auf US-amerikanischem Holzweg

Betrachtet man die momentan gröbste Konfliktursache zwischen Moskau und dem US-geführten Westen, den russisch-ukrainischen Krieg, realistisch, wird schnell ersichtlich, dass die typische westliche Kontextualisierung des Konfliktes um die Ukraine defizitär ist.

Einen ehrlichen Umgang mit der Tatsache, dass die Konfliktursachen, abgesehen von internen ukrainischen Faktoren, vor allem auch von externen Einflüssen, sowohl von West als auch von Ost, maßgeblich bedingt worden sind, sucht man zudem oft vergeblich.

Entgegen der oft einseitigen Schuldzuschreibungen und dadurch bedingten erheblichen Antagonisierung Russlands, existiert eine beachtliche Menge Evidenz, dass es der US-geführte Westen gewesen ist, der eine potenziell produktive und kooperative Verbindung zu Moskau aus kurzsichtigen und vermutlich auch fehlgeleiteten geostrategischen Erwägungen heraus geopfert hat.

Dieser Eindruck drängt sich geradezu auf, wenn man in Betracht zieht, dass selbst konservative US-Geostrategen wie Henry Kissinger und Zbigniew Brzezinski vergleichsweise frühzeitig gegen die aktuelle Konfrontation zwischen West und Ost argumentierten.

So schrieb Kissinger anno 2014, in einem Meinungsbeitrag in der Washington Post, dass "wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, [sie] kein Außenposten der einen Seite gegenüber der anderen [sein dürfe] – sie sollte [stattdessen] als eine Brücke zwischen [beiden Polen] fungieren."

Brzezinski wiederum argumentierte, in seinem letzten Beitrag in Buchform anno 2012, für eine "historische Annäherung" zwischen dem Westen und Russland. Eine solche historische Annäherung bedeute, "dass der Prozess des Zusammenwachsens zwischen dem Westen und Russland auf geduldige und ausdauernde Weise verfolgt werden sollte, wenn er wirklich nachhaltig sein soll."

Für eine eurasischere Selbstverortung Deutschlands

Schenkt man derartigen Perspektiven Beachtung, lässt sich konkludieren, dass sich Berlin gegenwärtig einer fehlgeleiteten Washingtoner Elite beugt, die, bereits seit längerer Zeit, nicht einmal im Sinne der langfristigen geostrategischen Interessen der USA selbst agiert. Folgerichtig könnte es aus deutscher Sicht betrachtet Sinn ergeben, den teils vorauseilenden Gehorsam gegenüber Washington noch einmal grundlegend zu überdenken.

Das bedeutet nicht, dass Deutschland sich gänzlich von den USA lossagen kann oder sollte. Ohnehin sind die unzähligen "entweder oder"-Debatten in diesem Kontext nicht mehr zeitgemäß.

Berlin könnte sich aber sowohl dessen transatlantischer als auch eurasischer Interessen wieder mehr bewusst werden und diese mit mehr Selbstbewusstsein gegenüber Washington artikulieren, statt sich in teils blind anmutender Gefolgschaft im Fahrwasser eines absteigenden Imperiums zu verlieren. Die sich bereits seit Längerem abzeichnenden Veränderungen innerhalb der globalen Machthierarchie öffnen ein günstiges Fenster hierfür.

Man muss zudem immer wieder aufs Neue daran erinnern, dass eine kollektive Sicherheitsarchitektur in Europa nur unter Einbeziehung Russlands langfristigen Frieden und Wohlstand sicherstellen kann. Insbesondere Deutschland sollte sich, auch angesichts der eigenen komplexen Geschichte mit Russland, diesen Umstand wieder deutlicher vor Augen führen.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem damit einhergehenden Ende des Ersten Kalten Krieges wurden zweifellos genug Chancen auf einen dauerhaften Frieden in Europa vergeben – die Schuld dafür ist keineswegs nur in Moskau zu suchen, sondern ebenso in Berlin und Washington.