Transhumanismus und KI: Bedrohung des Menschen
Seite 3: Allianz mit Neoliberalismus
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Transhumanismus, Neoliberalismus und Silicon Valley-Kapitalismus gehen eine unheilige Allianz ein, wie mehrere Kritiker bemerken.
Erstaunlicherweise entdeckt man nicht zuletzt die Vorstellung des Homo oeconomicus in den Tiefen des Transhumanismus. Denn dank der KI könnte der Mensch tatsächlich zum rein rationalen, eigenutzmaximierenden Wesen mit sich niemals ändernder Präferenz werden!
All die Kritik an dem radikal vereinfachenden Modell der klassischen Wirtschaftswissenschaft wären dann Schnee von gestern und der Mensch wäre – dank Technik – endlich das, was einige schon immer behauptet haben: ein Homo oeconomicus.
Aber die Vorstellung eines Tages unser Gehirn auf einer Festplatte abspeichern zu können, übersieht, dass der Mensch auch aus einem weiteren Grund nicht einzig in Daten ausgedrückt und in Nullen und Einsen zerlegt werden kann: den Körper. Etliche Experimente der Verhaltensökonomie haben die geradezu erstaunliche Irrationalität des Menschen bewiesen.
Das irrationale Element und die Vernunft als Pressesprecher
Eine Entscheidung in komplexen moralischen Fragen kann dadurch beeinflusst sein, ob der Mensch sich gerade die Hände gewaschen oder eine warme Tasse in den Händen hält. Ein Richterspruch kann davon abhängen, ob der richterliche Magen gerade mit einem Essen beruhigt wurde oder nicht.
Wie wir uns fühlen, beeinflusst unser Denken! Der Mensch ist nicht das rationale Wesen, das die Anhänger des Homo oeconomicus so gerne hätten, sondern ein eher irrationales Wesen, das Entscheidungen zuerst intuitiv trifft, bevor die Vernunft als unser Pressesprecher auftritt, und möglichst überzeugende Argumente für die Entscheidung zu finden sucht.
Körperliche Empfindungen
Und nicht zuletzt: Menschen können ohne ihren Körper und den körperlichen Empfindungen nicht denken. Einen ungewollten Beweis liefern Menschen, die in Folge extrem seltener Hirnschädigungen an einer radikalen Unterdrückung ihrer Gefühle leiden.
Ihr Intelligenzquotient ist zwar unverändert, aber sie haben massive Probleme im Alltag Entscheidungen zu fällen. Wenn es ihnen dennoch gelingt, sind die Entscheidungen oft völlig absurd. Joachim Bauer unterstreicht daher:
Die Ansicht, Menschen seien Maschinen, bedeutet eine Verkennung der biologischen Realitäten. Körper und Gehirn des Menschen bedürfen der Realität. Sie sind außerdem soziale Akteure, sie reagieren auf soziale Interaktionen.
Eine generelle Frage sei erlaubt: Was benötigen Menschen wirklich: ein Upgrade für das Gehirn, eine genetische Optimierung, eine KI, die rund um die Uhr Entscheidungen abnimmt, eine Dauerparty oder das Leben unserer sozialen Natur oder Begegnungen, Unterstützung, Großzügigkeit und Berührungen?
Die Herrschaft von Big Data
In der Welt des Transhumanismus besteht der Mensch angeblich nur aus Daten. Daher kann es kaum verwundern, dass grundsätzlich nur das zählt, was quantifizierbar, in Zahlen ausgedrückt, binär erfasst und in Nullen und Einsen als auswertbare Daten zerlegt.
Damit verlieren wir komplett genau das aus dem Blick, was unser Leben wirklich lebenswert macht.
Mithilfe der möglichst vollkommenen Vermessung der Menschen und der Welt wird die Künstliche Intelligenz vermutlich in baldiger Zukunft anbieten, die meisten oder vielleicht sogar alle Entscheidungsfragen unseres Lebens zu beantworten inklusive aller moralischen Dilemma (und diese vielleicht sogar für uns zu beantworten, ohne dass wir überhaupt gefragt haben.
Denn – so die liebenswerte Begründung – die Dauerparty des Lebens solle nicht durch schwermütige Probleme belastet werden). Kants Kategorischer Imperativ ("Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.") wird zur Vergangenheit, denn im Transhumanismus benötigt der Mensch dank einer omnipräsenten KI keinen moralischen Leitfaden mehr.
Philipp von Becker bringt es auf den Punkt:
Im Transhumanismus würden wir uns richtig verhalten, weil es gar keine Alternative mehr gibt (und wir kein Gefühl für richtig und falsch mehr haben).
Verlust der Freiheit und Ende der Demokratie
Yuval Noah Harari beschreibt das Selbstbild des Menschen, das der Transhumanismus befördert:
Die Menschen werden sich nicht mehr als autonome Wesen betrachten, die ihr Leben entsprechend den eigenen Wünschen führen, sondern viel eher als eine Ansammlung biochemischer Mechanismen, die von einem Netzwerk elektronischer Algorithmen ständig überwacht und gelenkt werden.
Der Transhumanismus verspricht eine möglichst vollkommene Freiheit, schafft aber einen Menschen, der gesagt bekommen möchte, was er tun soll, um endlich von der Verantwortung für das eigene Leben befreit zu sein.
Der Transhumanismus erbaut damit ein Gefängnis, denn der Mensch verliert mehr und mehr die Fähigkeit, eigene Entscheidungen fällen und Verantwortung für sein Leben übernehmen zu können. Er wird also zum unmündigen Menschen.
Der Transhumanismus verspricht dem Menschen, die Grenzen des Mensch-Seins zu überwinden, und schafft dabei den Menschen als eigenständiges und unabhängiges Wesen ab. (Dabei wird auch übersehen, dass, wer die Macht über die Entscheidungsarchitekturen der Künstlichen Intelligenz hat, auch die Macht über die Menschen besitzt.)
In der logischen Konsequenz droht damit auch das Ende der Demokratie. Denn die gemeinsame Kompromisssuche und die Mehrheitsentscheidung würde durch die angeblich optimale Lösung der KI ersetzt werden. Kein Dialog. Kein Zuhören. Kein Perspektivwechsel. Keine Suche nach einem gemeinsamen Nenner. Noch einmal Harari:
Die Demokratie in ihrer gegenwärtigen Form kann die Verschmelzung von Biotechnologie und Informationstechnologie nicht überleben. Sie wird sich entweder radikal neu erfinden müssen, oder die Menschen werden künftig in "digitalen Diktaturen" leben.
Frage nach der Wirklichkeit
Der Transhumanismus stellt nicht nur das Wesen des Menschen und unsere Natur infrage, sondern auch die Wirklichkeit. Der Philosoph David Chalmers drückt es vielleicht am radikalsten aus:
1. Man kann nicht wissen, dass man sich nicht in einer Simulation befindet.
2. Wenn man nicht wissen kann, dass man sich nicht in einer Simulation befindet, kann man auch nichts über die Außenwelt wissen.
3. So: Du kannst nichts über die Außenwelt wissen.
Seine Schlussfolgerung: "Wir sind wahrscheinlich Simulationen." Für Joachim Bauer ist das die "Vollendung des Realitätsverlustes". Das bedeutet einen vollkommenen Rückfall hinter die Aufklärung, die den Menschen aus seiner Unwissenheit befreien wollte. Digitale Mystik!
Starre Zweiklassengesellschaft
Der Transhumanismus, der sich so gerne selbst als eine radikal liberale und zukunftsorientierte Denkrichtung des Fortschritts feiert und die Freiheit in leuchtend großen Buchstaben auf seine Fahnen schreibt, führt zwangsläufig auch zu einer starren Zweiklassengesellschaft.
Denn die Lösungsvorschläge zur Optimierung des Nachwuchses, zur Selbstoptimierung und zur Überwindung des Todes werden natürlich keine patentfreien Lösungen sein, sondern zu einem neuen Luxusgut auf dem Technikmarkt, den sich nur die Crème de la crème leisten können wird. (Die unheilige Allianz mit dem Neoliberalismus ist per definitionem keine Open Source-Bewegung.)
Der Siegeszug des Transhumanismus und der KI würde ewige und massive Ungleichheit mit sich bringen. Harari warnt:
Doch so wie Big Data-Algorithmen die Freiheit auslöschen könnten, so könnten sie gleichzeitig die ungleichsten Gesellschaften hervorbringen, die es je gab. Aller Reichtum und alle Macht könnten sich in den Händen einer winzigen Elite konzentrieren, während die meisten Menschen nicht unter Ausbeutung, sondern unter weitaus Schlimmerem zu leiden haben – bedeutungs- und nutzlos zu sein.
Die Erlebnismaschine
Ganz im Sinne von David Pearces Wunsch, das Leben solle eine ewige Dauerparty sein, hier zum Abschluss ein Gedankenexperiment. Der Philosophen Robert Nozick schlug bereits in den 1970er-Jahren die Idee einer "Erlebnismaschine" vor, bei der das Gehirn an einen Computer angeschlossen werden könnte.
Stellen Sie sich vor, diese Erlebnismaschine würde Ihnen exakt die richtige Kombination von Dopamin, Opiaten und Serotonin zuführen, sodass Sie sich für immer und ewig glücklich fühlen würden. Kein Leid. Keine Trauer. Kein Frust. Keine Enttäuschung. Nie mehr.
Das Leben eine einzige Dauerparty dank der Erlebnismaschine, die Ihnen ununterbrochen Bilder in Ihr Gehirn projizieren würde, die genau Ihrem Wunsch nach Glückserlebnissen entspricht. Weltmeister in Ihrer Lieblingssportart? Kein Problem. Ein Literaturpreis gefällig? Ein wunderbarer Partner? Kinder, die Sie lieben? Alles und immer.
Es gibt nur einen kleinen Haken. Ihr Gehirn ist dauerhaft an einen Computer angeschlossen (wie im Film "Matrix" hätten sie sich für die blaue Pille entschieden). Sie würden nicht mehr arbeiten, keine Beziehungen mehr haben oder Härten des Lebens erleiden müssen. Sie wären schlicht und einfach vollkommen glücklich. Wie würden Sie sich entscheiden?
Wollen Sie für immer an die Erlebnismaschine angeschlossen werden? Die Suche nach dem Sinn unseres Lebens oder eine Welt, wo diese Frage keinen Sinn mehr ergibt und überhaupt nicht mehr verstanden wird?
Würde es nicht vielleicht nicht ein wenig sinnvoller sein, dass die Abertausende hochintelligenter Menschen und die Abermilliarden Investitionskapital sich weniger dem Ziel annehmen, den Menschen künstlich zu einer Maschine zu formen, sondern die Welt zu einer mitmenschlicheren Welt zu machen?