Tschetschenen gehen auf Distanz zu angeblichen Boston-Attentätern

Die Brüder Tsarnajew lebten offenbar bereits seit 2002 in den USA. Beide sind gläubige Muslime. Über Terror-Sympathien gibt es nur Vermutungen. Ein Tat-Motiv fehlt

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Dschochar Tsarnajew, der 19jährige Jugendliche, der in dem Bostoner Vorort Watertown von einem Großaufgebot von schwer bewaffneten Sicherheitskräften gesucht wird, hatte mit Terrorismus nichts zu tun. Dies sagt zumindest ein Mann, der sich gegenüber dem russischen Fernsehkanal NTW per Telefon (Interview ab 2:18) als Vater der angeblichen Attentäter von Boston vorstellt.

Zu einem persönlichen Treffen mit den Fernsehreportern war der Mann, der in Machatschkala, der Hauptstadt der moslemisch geprägten russischen Teilrepublik Dagestan lebt, nicht bereit. Seine Kinder seien "zum Guten" erzogen worden, sagt der Mann, der Automechaniker sein soll, mit finanzieller Unterstützung von tschetschenischen Kreisen mit seinen vier Kindern in die USA gereist ist und seit kurzem wieder nach Russland zurückgekehrt ist. Er glaube nicht an die Vorwürfe der amerikanischen Behörden. Erst vorgestern habe er mit Dschochar telefoniert. Er habe für drei Monate zu seinen Eltern nach Dagestan kommen wollte, um dort Urlaub zu machen. Tamerlan Tsarnajew soll vom Januar bis zum Juli 2012 in Russland gewesen sein. Er flog von New York nach Moskau.

Die Brüder Tsarnajew am Anschlagsort in Boston. Bild: FBI

Flüchtlings-Odyssee

Der Mann berichtet, die Familie habe zunächst in Tschetschenien gelebt und sei dann in die russische Teilrepublik Kalmykien übergesiedelt. Dort sei der älteste Sohn, Tamerlan Tsarnajew zur Welt gekommen. Die Familie sei dann in die zentralasiatische Republik Kirgistan übergesiedelt, wo der zweite Sohn, Dschochar Tsarnajew, geboren wurde.

Dschochar ist übrigens auch der Vorname des 1991 gewählten tschetschenischen Präsidenten Dudajew, der während des ersten Tschetschenien-Krieges, am 21. April 1996, im tschetschenischen Dorf Gechitschu von einer russischen Rakete getötet wurde.

Warum ist die Familie Zarnajew so oft umgezogen, fragt man sich. Der Grund war vermutlich, dass die Familie einfach einen Platz zum Überleben suchte. Anfang der 1990er Jahre in der Krisenregion Nordkaukasus so einen Platz zu finden, war angesichts der Flüchtlingsströme aus Tschetschenien äußerst schwer. Da bot sich vermutlich Kirgistan an, wo es eine tschetschenische Diaspora gab, nachdem Stalin 1944 in die zentralasiatische Republik 70.000 Tschetschenen deportieren ließ.

Die Familie Zarnajew siedelte sich in der Stadt Tokmok nicht weit von der kirgisischen Hauptstadt Bischkek an. Der Leiter der tschetschenischen Diaspora in Kirgistan, Adnan Dschabrailow, erklärte gegenüber Radio Svoboda, die Familie Tsarnajew hätte dort "neben der Zuckerfabrik" gelebt. Die Familie sei "sehr intelligent" gewesen: "Alle studierten an Fachhochschulen." Das letzte Mitglied der Familie Tsarnajew habe Kirgistan vor zehn Jahren verlassen.

Nicht nur das offizielle Tschetschenien auch das offizielle Kirgistan geht auf Distanz zu den beiden angeblichen Attentätern. Die Tsarnajews sind abgereist und haben keine Spuren hinterlassen, so der Tenor der offiziellen Stellungnahmen in beiden Republiken. Angesichts der Tatsache, dass die beiden verdächtigen Brüder Dschochar und Tamerlan Kirgistan im Alter von acht bzw. 15 Jahren verlassen haben, sei es unangebracht, sie mit Kirgistan in Verbindung zu bringen, heißt es nüchtern in einer Erklärung des Staatlichen Komitees für nationale Sicherheit Kirgistans.

Und unter welchen Umständen lebte die Familie in den USA? Wie Radio Svoboda berichtete, lebten die beiden Brüder Tsarnajew zusammen mit sechs anderen Mitgliedern der Familie in einem Haus. Zweimal gab es Probleme mit der Polizei. 2009 wurde Tamerlan festgenommen, weil er gegen seine Freundin Gewalt anwandte und im Juni letzten Jahres wurde die Mutter der Brüder, Subejdat, festgenommen, weil sie in einem Geschäft für Frauenkleidung Waren im Wert von 1.500 Dollar entwendet haben soll, meldete der -Sender.

Nach den bisherigen Berichten russischer und westlicher Medien ergibt sich folgendes Bild: Die Familie Tsarnajew siedelte 2001 mit ihren zwei Söhnen und zwei Töchtern von Kirgistan in die dagestanische Hauptstadt Machatschkala über. Dort gingen die vier Kinder zur Schule. Ein Jahr später reisten die Brüder Tsarnajew dann über die Türkei in die USA aus.

Nach Angaben eines Onkels lebten die Brüder seitdem in der Stadt Cambridge, nicht weit von Boston. Dschochar besuchte die Cambridge Rindge and Latin School, erhielt ein Stipendium und begann angeblich ein Chirurgie-Studium, wechselt dann aber auf ein Zahnarzt-Studium an der University of Massachusetts Dartmouth. Sein Bruder, Tamerlan, machte ein Ingenieur-Studium und heiratete eine Amerikanerin, die angeblich zum Islam konvertierte. Die beiden haben ein Kind. Tamerlan soll seit 2007 Aufenthaltsrecht in den USA gehabt haben. Auch Dschochar hat 2011 die Staatsbürgerschaft erhalten.

Die Brüder betrieben beide aktiv Sport, Dschochar als Ringer. Tamerlan, der Boxer war, nahm in den USA an nationalen Box-Wettkämpfen teil. Boxen und Ringen sind die beliebtesten Sportarten in Tschetschenien.

Dschochar Tsarnajew. Bild: FBI

Fremd in den USA?

Nach Medienberichten wurde Tamerlan 2009 von der Polizei festgenommen, weil er mit Gewalt gegen seine Freundin vorgegangen sein soll. Wie ein Fotograf, der den 26jährigen Boxer Tamerlan fotografierte, unter einem Foto notierte, soll der Tschetschene unter den Amerikanern keine Freunde gehabt haben, weil er diese "nicht verstehe".

Stichhaltige Hinweise auf Terrorsymphatien von Tamerlan und Dschochar Tsarnajew gibt es bisher nicht. Im russisch-sprachigen Netzwerk vk.com hat Dschochar eine Website, die er gestern um 04:04 zuletzt besuchte. Dort gibt es Links zu Freundesgruppen von Tschetschenen und islamisch-religiösen Websites, aber keine Gewaltaufrufe. Auf dem YouTube-Account (?) von Tamerlan sollen sich "extremistische Materialien" befinden, die zum Teil aber nicht zugänglich sind, meldete die Nachrichtenagentur Ria Novosti.

Als Weltanschauung gibt der angebliche Attentäter Dschochar Tsarnajew auf vk.com den "Islam" und als persönlichen Prioritäten "Karriere und Geld" an. Gewaltbereitschaft lässt sich daraus nicht ableiten. Dschochar scheint auch nicht völlig erfolglos gewesen zu sein. Immerhin bekam er an seinem Wohnort Cambridge ein Stipendium von 2.500 Dollar.

"Schande über das tschetschenische Volk"

In einem emotionalen Appell rief Ruslan Tsarni, ein Onkel der Brüder Tsarnajew, seinen Neffen Dschochar auf, sich zu stellen l und seine Taten zu bereuen. Er habe Schande über das ganze tschetschenische Volk gebracht. Schon 2009, als er zuletzt mit seinem Neffen Tamerlan sprach, sei deutlich geworden, dass dieser einen Hang zum Extremismus habe. Er habe seinem Neffen geraten, Karriere zu machen.

Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow drückte sein Mitleid für die Terror-Opfer in Boston aus, erklärte aber, die beiden Brüder hätten nicht in Tschetschenien gelebt. "Sie wuchsen in Amerika auf. Deshalb sind das ihre Kinder, nicht unsere", erklärte Kadyrow, der auf seine autoritär regierte russische Teil-Republik nichts kommen lassen will.

Der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, forderte die US-Administration auf, klar zu stellen, welche Staatsangehörigkeit die Brüder Tsarnajew haben. Es gäbe die Information, dass die Brüder mit türkischen Pässen in die USA eingereist seien. Einen Kontakt zwischen dem russischen und US-Geheimdienst gäbe es in dieser Frage bisher nicht, monierte der Putin-Sprecher. Doch die Meinung des tschetschenischen Präsidenten teilt der russische Präsident nicht. Eine Aufteilung in "unsere und fremde" Terroristen sei nicht zulässig, so der Putin-Sprecher. Egal welcher Nationalität die Terroristen sind, "sie haben alle gleich Unannehmlichkeiten verdient".

Die Brüder Tsarnajew sind zwar nicht in Tschetschenien aufgewachsen, doch der Krieg hat auch sie vermutlich bis heute traumatisiert. Von den 1,2 Millionen Menschen, die 1991 in Tschetschenien lebten, flüchteten während der beiden Tschetschenien-Kriege nach Schätzungen von Flüchtlingsorganisationen 400.000 Menschen in benachbarte russische Regionen, nach Europa oder die USA. Vor dem ersten Krieg (1994 bis 1996) war bereits fast die gesamte russische Bevölkerung aus der Kaukasusrepublik geflüchtet, weil sie sich angesichts der starken Unabhängigkeitsbewegung der Tschetschenen nicht mehr sicher fühlte. Heute hat Tschetschenien wieder 1,3 Millionen Einwohner. Weil die Flüchtlingslager in Russland ab 2003 geschlossen wurden, kehrte ein großer Teil der Binnenflüchtlinge nach Tschetschenien zurück.