Türkei: Erdoğans Taschenspielertricks
Der umjubelte "lupenreine Demokrat" bringt immer mehr Menschen hinter Schloss und Riegel - und lässt der EU gegenüber seine Muskeln spielen
Wer in diesen Tagen aus der Türkei oder über sie berichtet, hat wenig Garantien. Bis auf eine: die Sicherheit, dass die Informationen bereits veraltet sind, wenn sie publiziert werden. Es ist schlicht nicht möglich, der rasenden Geschwindigkeit, mit der Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Abbau demokratischer Rechte derzeit vorantreibt, standzuhalten.
Gerade sind alle Medien voll des Lobes, dass die Pro-Erdoğan-Manifestation am vergangenen Sonntag in Köln einigermaßen glimpflich abgelaufen ist (Köln: Erdoğan-Jubelshow ohne größere Zwischenfälle beendet), schon kommt die Information über den Ticker, dass der deutsche Botschafter in Ankara, Michael Erdmann, einbestellt wurde. Bzw. dessen Stellvertreter, weil Erdmann sich derzeit im Urlaub befindet. Der "Büyük Lider", wie Erdoğan seit dem vereitelten Putsch vom 15. Juli 2016 von seinen Getreuen genannt wird, ist verschnupft, weil er selbst nicht zu dem Event in Köln einreisen durfte, und noch nicht einmal eine Rede des "Sultans von Tayyipistan" (Deniz Yücel, Welt) live übertragen werden durfte.
Das sei "inakzeptabel", ließ Erdoğans Sprecher Ibrahim Kalın via der Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı verlauten. Justizminister Bekir Bozdağ sprach von einer "Schande für die Demokratie". "Die Türkei tritt sozusagen nach" kommentierte eine Sprecherin des NDR-Radios diesen ungeheuerlichen Vorgang.
Der Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin, Martin Schäfer, versuchte indes zu beschwichtigen. Das seien normale diplomatische Gepflogenheiten, äußerte er Medien gegenüber. Es sei eine schöne Gelegenheit für einen Austausch zwischen der deutschen und der türkischen Regierung.
Ganz so normal dann doch nicht, denn seit der im Juni 2016 im Bundestag beschlossenen Armenien-Resolution wurde Erdmann von der türkischen Regierung nicht mehr empfangen. Doch die türkische Regierung setzt noch eins drauf: Wenn die EU den Bürgerinnen und Bürgern der Türkei bis Oktober 2016 keine Visumfreiheit garantiert werde, dann werde die Türkei den Flüchtlingsdeal aufkündigen.
Ungeachtet der Tatsache, dass es keine gute Idee der EU war, Menschenhandel mit dem Despoten vom Bosporus zu betreiben, käme ein Sieg in diesem Machtspiel nicht nur Erdoğan zugute. Die Visumfreiheit würde in der aktuellen Situation vielen die Möglichkeit eröffnen, sich einer eventuell drohenden Verhaftung zu entziehen. Allerdings wurden unterdessen 50.000 Reisepässe von der türkischen Regierung für ungültig erklärt. Weder wurden die von dieser Maßnahme betroffenen Personen in Kenntnis gesetzt, noch wurden die Namen veröffentlicht.
In türkischen Medien wurde Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am vergangenen Montag als Hitler bezeichnet und dargestellt. "'Heil Merkel!' titelt die türkische Zeitung 'Aksam' und zeigt die Kanzlerin mit Hitlergruß. Das Blatt steht Erdogans AKP-Partei nahe. Auch andere Medien provozieren mit Nazi-Vergleichen", berichtet der SPIEGEL.
Der "gütige" Patriarch
Unterdessen lässt Erdoğan innenpolitisch Milde walten. Der Zuspruch, den er durch die Demo am vergangenen Sonntag in Köln auch in Europa erfuhr, hat ihn offensichtlich gütig gestimmt. Er werde die Respektlosigkeiten und Beleidigungen einmal noch verzeihen, äußerte er im Hinblick auf die knapp 2.000 Verfahren, die wegen Beleidigung des Präsidenten in die Wege geleitet wurden.
Tatsächlich? Alle 2.000?
Nein, natürlich nicht. Erdogans Anwalt, Hüseyin Aydin, erklärte, dass alle entsprechenden Anzeigen gegen die Politikerinnen und Politiker der pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) aufrechterhalten und weiterlaufen werden. Betroffen von Erdoğans Mildtätigkeit ist u.a. Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der faschistischen Partei MHP.
Auch für das Ausland gilt das nicht. Das Verfahren gegen Jan Böhmermann wird also weiterlaufen.
Nun auch der Fußball
Unterdessen räumt der "Büyük Lider" weiter auf: Anfang der Woche traten alle Vorsitzenden und Mitglieder der Ausschüsse des türkischen Fußballverbands "Türkiye Futbol Federasyonu" (TFF) zurück, nachdem "Sicherheitsprüfungen" eingeleitet wurden. Betroffen sind insbesondere der Disziplinar- , der Schiedsrichter- sowie der Doping-Ausschuss.
"Das bekannte Sportportal 'Sporx.com' berichtete, die Leitung des TFF hätte die Mitarbeiter vorher zum Rücktritt aufgefordert, da der Verband aufgrund der Statuten nicht befugt sei, Mitglieder der Ausschüsse zu entlassen", schreibt die FAZ.
Mit der Maßnahme soll geprüft werden, welche Fußball-Funktionäre der Bewegung Fetullah Gülens angehören. Die wittert Erdoğan ja bekanntlich überall. Kein Wunder, hat er doch einst gemeinsam mit Gülen seinen auf Korruption und Vetternwirtschaft beruhenden Machtapparat aufgebaut.
Die Vorgeschichte
Wir erinnern uns: Anfang 2015 trug Erdoğan der erstaunten Öffentlichkeit seine Vorstellungen über das Präsidialsystem vor, das er nach den Wahlen im Juni 2015 zu installieren gedachte. Der ehemalige Ministerpräsident tat sich schwer mit seiner Degradierung vom politischen zum repräsentativen Staatsoberhaupt und wollte die Verfügungsgewalt über das Parlament, die Justiz und das Militär künftig in seinen Händen gebündelt wissen. Zwar bleib er in seinen Ausführungen vage, klar aber war, dass ihm eine Machtkonzentration zu seinen Gunsten vorschwebte. Das brachte ihm den Beinamen "Sultan" ein.
Um dieses "Sultanat" errichten zu können, hätte die Verfassung geändert werden müssen. Dazu hätte es entweder einer Zweidrittelmehrheit im Parlament bedurft oder einer Mehrheit von 60%, um eine Volksabstimmung in die Wege zu leiten.
Wir erinnern uns weiter: Es folgte der überraschende Wahlsieg der HDP, einem Wahlbündnis, das gern auf pro-kurdisch verkürzt wird, wobei meistens nur "kurdisch" im Gedächtnis haften bleibt, das aber aus der Gezi-Bewegung hervorgegangen ist und Linke, Liberale, Öko, Feministinnen, Lesben und Schwule, Kriegsdienstverweigerer, Friedensbewegte und eben auch ethnische Minderheiten in sich vereint. Ein Bündnis, das so breit gefächert ist, dass sogar der nicht eben als linksradikal verschriene Grünen-Chef Cem Özdemir es aktiv unterstütze.
Die Rache des verhinderten Sultans
Der Einzug der HDP ins Parlament vermasselte dem Möchtegern-Sultan die Tour. Also entfachte dieser kurzerhand den Krieg in den kurdischen Gebieten neu, schob die Ursachen dafür der kurdischen Arbeiterpartei PKK in die Schuhe, und versuchte die HDP zu diskreditieren, indem er sich als verlängerter Arm der kurdischen Guerilla im türkischen Parlament diffamierte. Das war der Moment, in dem die kurdischen Gebiete nach einer kurzen Phase der Entspannung und Hoffnung wieder in den Ausnahmezustand versetzt wurden. Dieser Ausnahmezustand ist mittlerweile auf das ganze Land ausgeweitet.
Erdoğan provozierte Neuwahlen, indem er eine Regierungsbildung im vorgeschriebenen Zeitraum verhinderte und hoffte, dass seine Rache an der HDP sich bei den Neuwahlen zu seinen Gunsten auswirken würde.
Erstens kommt es anders …
Nachdem die HDP auch bei den Neuwahlen die 10-%-Hürde knacken konnte, drehte der verhinderte Sultan völlig am Rad. Seine Antwort war Krieg, mit Hunderten Toten, Dutzenden zerstörten Städten, Zigtausend Menschen auf der Flucht, Inhaftierungen von politisch Aktiven und Medienleuten. Quasi als Höhepunkt wurde der Mehrheit der HDP- Abgeordneten die Immunität entzogen. Diese sehen sich jetzt Dutzenden Verfahren ausgesetzt, als deren Konsequenz mehrere Jahrzehnte Haft (pro Person!) befürchtet werden.
Der "Putsch nach dem Putsch"
Seit dem vereitelten Putsch vom 15. Juli 2016 wurde die Welle der Repression auf das ganze Land ausgeweitet. Die Wiedereinführung der Todesstrafe wird diskutiert. Angeblich, weil "das Volk" das "so will". Der türkische Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci hält mit seinen Gewaltphantasien nicht hinterm Berg: "Wir werden die Verräter so hart bestrafen, dass sie darum flehen werden, getötet zu werden."
Am vergangenen Wochenende kündigte Erdoğan ein "kleines Paket" mit Verfassungsänderungen an (Erdoğan: Ausbau der Macht über Militär und Geheimdienst). Nach einer Welle von Entlassungen und Verhaftungen von Tausenden Militärangehörigen, Mitgliedern der Justiz, Staatsbediensteten, Medienleuten und Schließung von Medienanstalten und Verlagen das Tüpfelchen auf dem I, um sein erträumtes Sultanat Wirklichkeit werden zu lassen.
Erpressung in Form von Sippenhaft
62 Journalistinnen und Journalisten wurden seit dem 15. Juli 2016 inhaftiert. Einige von ihnen konnten sich der Verhaftung entziehen, darunter der ehemalige Chefredakteur der regierungskritischen Tageszeitung Yarına Bakış, Bülent Korucu. Als die Polizei ihn weder in seiner Wohnung in Istanbul noch in seiner Heimatstadt Erzurum auffinden konnte, wurde kurzerhand seine Ehefrau festgenommen. Um Korucu zu zwingen, sich der Polizei zu stellen. Ihm wurde gedroht, sonst auch die Kinder in Gewahrsam zu nehmen.
Die Türkei ist derzeit von einer Welle von Entlassungen und Verhaftungen in schwindelerregender Geschwindigkeit in bis dato unvorstellbarem Ausmaß erfasst. Es gab in der Türkei bislang drei Militärputsche, 1960, 1971 und 1980 sowie eine nicht bewaffnete politische Intervention des Militärs 1997. In den ersten drei Fällen folgten Repression und Verfolgung. Es gab blutige Auseinandersetzungen, Verhaftungen, Verletzte, Verschwundene, Folter, Tote. Doch Erdoğan schafft binnen zwei Wochen mehr Entlassungen und Verhaftungen als andere vor ihm in Jahren. Und das nicht, weil er einen Putsch durchgeführt, sondern nachdem er einen vereitelt hat. Viele sprechen deshalb von dem "Putsch nach dem Putsch".
Existenzen werden vernichtet
Im Rahmen der massenhaften Suspendierungen und Verhaftungen wurde nun auch begonnen, die Vermögen der Betroffenen einzuziehen. Zunächst betrifft das etwa 1.000 Richter. Aber da ist bestimmt noch viel Luft nach oben, was diese Geldbeschaffungsmaßnahme angeht. Doch auch wenn ihr Vermögen nicht eingezogen wird, vielleicht auch, weil sie über keine nennenswerten Ersparnisse verfügen, bedeutet Erdoğans Rachefeldzug die Vernichtung von Existenzen. Zum einen für diejenigen, die eben noch gut dotierte Posten bekleideten und sich plötzlich hinter schwedischen Gardinen wiederfanden. Daran wiederum hängen Familien. In vielen Fällen, z.B. bei den geschlossenen Medienanstalten, auch Unternehmen, also Beschäftigte - und deren Familien.
Es ist also nicht nur eine politische Strafaktion, sondern auch eine ökonomische. Sowohl von den neu zu besetzenden Stellen als auch von der Finanzspritze profitiert der Sultan, der sein Tayyipistan immer mehr nach seinen Vorstellungen gestalten kann. U.a. indem er die Gefährten der Vergangenheit, die Gülen-Anhänger, gegen seine aktuelle Gefolgschaft austauschen kann.
Spielgeld als belastender Beweis
Der "Büyük Lider" wird es nicht müde zu betonen, dass nur diejenigen betroffen seien, die in den vereitelten Putsch verwickelt gewesen seien, bzw. mit der CEMAAT, der mittlerweile berühmten Parallelstruktur seines ehemaligen Weggefährten Fetullah Gülen, in Verbindung stünden. Allein die Summe der Verhaftungen lassen daran Zweifel aufkommen.
Während ich den Artikel schrieb, erreichte mich die Nachricht, dass 67 HDP- Aktive alleine in der Region Erzurum festgenommen wurden.
"Der Druck auf die kurdische und türkische Linke scheint wieder zuzunehmen, beziehungsweise ist weiterhin auf sehr hohem Niveau. Die groß angelegte Aktion der Polizei seit dem Morgengrauen ist noch nicht zu Ende. Die Zahl der Festnahmen kann also noch steigen. Die Gründe sind noch unklar", schreibt ein Aktivist auf Facebook. Diese Massen-Festnahmen können beim besten Willen nicht mit Nähe zu der viel zitierten "Parallelstruktur" erklärt werden.
Noch ein Beleg dafür, dass die Aussage Erdoğans nicht stimmt, ist die Verhaftung des Verlegers und Chefredakteurs der in Iskenderun erscheinenden Zeitung Olay (Ereignis), Nihat Durmuş. Olay ist weder Gülen nahe, noch ein linksradikales Kampfblatt, sondern ein übliches regionales Medium: solide Lokalberichterstattung mit einer Prise PR-Journalismus.
Schließlich lebt das Blatt, wie viele andere überall auf der Welt, u.a. vom Anzeigengeschäft. Allerdings mit einem gesellschaftskritischen Anspruch. Mit anderen Worten: Es gilt als links. Iskenderun liegt am südlichsten Zipfel des Mittelmeeres, in der Provinz Hatay, direkt an der Grenze zu Syrien. Auf beiden Seiten beginnen hinter Iskenderun die kurdischen Gebiete. Der NATO-Stützpunkt Incirlik ist nicht weit. Was Durmuş bisweilen dazu veranlasst, unbequeme Fragen zu stellen. Z.B., wenn dubiose Militärtransporte aus Incirlik in Richtung Kurdistan/Türkei oder Syrien zu beobachten sind. Oder auffallend viele Salafisten in den Straßen der Stadt zu sehen sind. Oder wenn Erdoğan das Parlament über den militärischen Einmarsch nach Syrien abstimmen lassen will, ob das dann bedeute, dass auch die Provinz Hatay Kriegsgebiet werde.
Durmuş war Zeit seines Lebens Linker - und Atheist. Er war mehrfach inhaftiert, u.a. Anfang der 1990er Jahre in Folterhaft. In demselben Gefängnis, in dem er seit vergangenen Freitag wieder inhaftiert ist. Nur dieses Mal nicht als Linker, sondern als Gülen-Anhänger. Als Beweis dafür wurde ihm ein Spielgeld-Dollarschein präsentiert.
Freiheit oder Knast - diese Frage ist für Journalistinnen und Journalisten in der Türkei sozusagen zum Hütchenspiel verkommen. Mit Taschenspielertricks werden sie hinter Schloss und Riegel gebracht, wenn sie nicht auf Erdoğans Schleimspur kriechen.
Auch in diesem Fall mit gravierenden Konsequenzen: dem Verlag ist eine Druckerei angeschlossen. Beides gibt Menschen Lohn und Brot. Sollten Verlag und Druckerei langfristig geschlossen werden, verlieren die Angestellten ihre Jobs - und so manche Familie ihre Existenzgrundlage.
Durmuş' in Hamburg lebende Nichte Zeliha hat eine Petition für die Freilassung von Durmuş auf den Weg gebracht. Auch wenn damit vermutlich nicht die Freiheit erreicht wird, ist eine Unterzeichnung der Petition jedoch eine deutliche Zeichensetzung für die Meinungs- und Pressefreiheit.