Türkei: Putschversuch und Gefahr des Bürgerkriegs?

Erdogan-Anhänger besetzen die Plätze. Bild

Wie steht es um Demokratie und Rechtsstaat - und was würde ein Bürgerkrieg für die EU bedeuten?

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Nur kurz hielt das Aufatmen am Wochenende an, als sich herausstellte, dass der Putschversuch in der Türkei gescheitert und die Gefahr einer Militärdiktatur abgewendet war. Doch nun scheint das Land am Rande des Abgrunds zu stehen. Präsident Recep Tayyip Erdogan führt eine beispiellose Säuberungsaktion durch, Kritiker und Gegner auf allen staatlichen Ebenen werden ausgeschaltet. Wie kam es dazu? Wie sieht die Lage derzeit aus? Droht der Türkei ein Bürgerkrieg?

Drei Jahre lang war jede Demonstration auf dem Istanbuler Taksim-Platz, der an den Gezi-Park angrenzt, verboten. Jeder Versuch wurde von der Polizei brutal niedergeknüppelt. Taksim - das war ein Symbol der jungen, gebildeten, säkularen Türkei.

Seit Samstag versammeln sich dort die Anhänger des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Die Polizei lässt sie in Ruhe. In der Mitte des Platzes weht eine überdimensionale türkische Flagge. Die AKP hat Taksim erobert. Sich selbst und ihren Präsidenten sehen die Demonstranten als Verteidiger der Demokratie.

Erdogan dankte ihnen: Sie hätten eine wichtige Rolle bei der Niederschlagung des Putschversuchs gespielt. In der Putschnacht waren sie in Massen auf die Straßen gegangen, hatten sich den Panzern in den Weg gestellt. Erdogan weiß jetzt, dass es keine hohlen Sprüche sind, wenn sie skandieren: "Wir töten für dich, wir sterben für dich!"

Was ist geschehen?

Am Freitagabend nach Einbruch der Dunkelheit rollten Panzer durch die Straßen von Istanbul und Ankara. Soldaten sperrten zwei der vier Bosporusbrücken; Kampfjets donnerten im Tiefflug über die Städte hinweg; der Atatürk-Flughafen in Istanbul wurde abgeriegelt und der Luftraum gesperrt; in Ankara feuerten Militärhubschrauber auf das Parlament, das Polizeihauptquartier, die Zentrale des Inlandsgeheimdienstes MIT, den Präsidentenpalast.

Soldaten stürmten Büros der Regierungspartei AKP und besetzten zeitweise den Staatssender TRT. Dort zwangen sie eine Moderatorin, eine Erklärung eines "Rates für Frieden in der Heimat" zu verlesen. Es hieß, das Militär habe die Macht im Land übernommen und wolle Demokratie und Menschenrechte im Rahmen der Verfassung wiederherstellen. Die Menschen sollten ihre Häuser nicht verlassen, es sei das Kriegsrecht verhängt.

Umgehend dementierte Ministerpräsident Yildirim (AKP): Es handele sich um einen Putschversuch, aber die gewählte Regierung sei an der Macht und der Präsident an einem sicheren Ort. Erdogan hatte sich am Freitag im Ferienort Marmaris aufgehalten. Kurz nach seinem Abflug sei dort das Hotel, in dem er sich aufgehalten habe, bombardiert worden, sagte er am folgenden Morgen. Die dafür verantwortlichen Soldaten sagten aus, man hätte ihnen den Befehl gegeben, in Marmaris einen gesuchten Top-Terroristen zu jagen und wussten angeblich gar nicht, dass ihr Ziel Erdogan war.

Gegen zwei Uhr Ortszeit in der Nacht zum Samstag summten in der ganzen Türkei die Handys. Über die staatliche Telefongesellschaft Türk Telekom wurden SMS versendet, in denen Recep Tayyip Erdogan persönlich das "ehrenhafte türkische Volk" dazu aufrief, auf die Straße zu gehen und "Demokratie und Frieden" zu schützen. Zugleich erklang im ganzen Land aus den Moscheen der Ruf der Muezzine - aber es war nicht der übliche Gebetsruf. Sondern ein Gebet für die Toten, das üblicherweise verlesen wird, wenn jemand gestorben ist. Wird es ohne einen solchen Anlass verlesen, kann es als Aufruf zu Kampf und Widerstand aufgefasst werden. Kurz darauf meldete sich Erdogan in einer Liveschalte von CNN Türk per Handy und bekräftigte seinen Aufruf an seine Anhänger, auf die Straßen zu gehen. Und sie taten es.

Bis zum Samstagmittag gab es noch vereinzelte Kämpfe vor allem in Ankara, aber schon im Laufe der Nacht wurde klar: Der Putschversuch ist gescheitert. Zwar hatte es vereinzelte Gruppen gegeben, die den Soldaten zujubelten und ihnen applaudierten, aber nennenswerten Rückhalt gab es nirgends im Land. Noch in der Nacht verkündeten die drei großen Oppositionsparteien im türkischen Parlament - die kemalistisch-sozialdemokratische CHP, die nationalistische MHP und die prokurdische HDP -, dass sie einen Militärputsch entschieden ablehnen und dass die demokratische Ordnung gewahrt bleiben müsse.

Auch die Kurden im Osten der Türkei protestierten gegen den Putsch, was manchen verwundert haben mag, hat Erdogan doch im Frühjahr ihre Städte bombardieren lassen, was hunderte Todesopfer forderte. Aber die Kurden sind grundsätzlich Gegner der Armee und mussten befürchten, dass sich ihre Lage unter einer Militärjunta noch weiter verschlechtert.

Die landesweite Ablehnung des Putsches quer durch alle politischen und gesellschaftlichen Lager wurde allerdings vielfach als Zustimmung für Erdogan und die AKP missverstanden. Dem ist bei weitem nicht so. Man muss es eher so verstehen, dass demokratisch orientierte Akteure einen Militärputsch per se nicht gutheißen können - dass aber auch alle anderen die Gefahr sahen, dass die Türkei in ägyptische oder gar syrische Verhältnisse abrutschen könnte. In der Vergangenheit hatte es bereits drei erfolgreiche Militärputsche in der Türkei gegeben, zuletzt 1980. Wobei das Militär jedes Mal die verfassungsmäßige säkulare Ordnung im Sinne der kemalistischen Prinzipien wiederhergestellt hatte - jedes Mal aber eben auch mit enormem Blutvergießen.