Türkische Offensive: Die Stunde der Befreiung für IS-Kämpfer und -Anhängerinnen?
Das Gefangenen-Lager in Ain Issa wurde niedergebrannt. Frankreich will gefangene IS-Kämpfer mit abziehenden Truppen schnell in den Irak bringen
Das Lager in Ain Issa brennt. Nach Angaben der kurdischen Nachrichtenagentur ANHA sollen islamistische Milizen, die mit der Türkei verbündet sind, sich dort "eingeschmuggelt" und das Feuer gelegt haben.
Laut einer kürzlich erschienenen Reportage zweier US-Extremismusforscher, die das Lager im Sommer besuchten, hielten sich dort 256 Frauen und 1.000 Kinder unter Aufsicht von kurdischen Sicherheitskräften auf. Es gab im Lager Ain Issa eine eigene Sektion für IS-Familien. Die Atmosphäre wurde als gewaltsam geschildert. Ähnlich wie im bekannteren Camp al-Hol war die IS-Ideologie und deren Diktatur der brachialen Scharia-Auslegung prägend für die Situation im Lager.
Dass man sich dort von den islamistischen Milizen, die mit der Türkei verbündet sind und worunter einige auch Verbindungslinien zum IS haben, Befreiungsaktionen versprach, war längst kein Geheimnis mehr. Das kursierte in Medienberichten wie auch auf Twitter. Der Alt-Kalif al-Bagdadi hatte dies bei seiner letzten Ansprache angekündigt und zur Pflicht seiner Anhänger gemacht.
Als nun kürzlich gemeldet wurde, dass die Türkei Gefängnisse bombardiert haben soll, hieß es, dass 100 IS-Dschihadisten mit ihren Familien die Flucht aus dem IS-Camp Ain Issa gelungen sei (Türkei bombardiert gezielt IS-Gefängnisse), was darauf aufmerksam machte, dass sich auch IS-Kämpfer unter den Lagerinsassen befanden.
Am frühen Mittwochabend berichtet nun die deutsche Ausgabe der kurdischen ANF-News, dass "protürkische Dschihadisten (…) nach schweren Kämpfen mit den Demokratischen Kräften Syriens in das Ain Issa Camp vorgedrungen (sind). Sie haben dort alle inhaftierten IS-Mitglieder befreit und das Camp anschließend in Brand gesetzt."
Damit ist ein Szenario Wirklichkeit geworden, vor dem die Europäer gewarnt worden waren. Wie sich der Mangel an Entschlossenheit rächt, ist noch offen. Die Regierungen in Berlin, London und Paris haben das Problem mit den gefangenen IS-Kämpfern und den IS-Familien, Frauen und Kindern, auf die lange Bank geschoben oder, wie es die französische Regierung weiter praktiziert, in den Irak verlagert.
Mit der türkischen Offensive ist nun das, was die Europäer als entfernte Möglichkeit behandelten, im Fall des Lagers Ain Issa Wirklichkeit geworden: Dass die Kurden nicht mehr auf die Gefangenen aufpassen können und diese dann zum IS zurückkehren und ihm neuen Auftrieb geben oder möglicherweise gar als Dschihadisten wieder zurück in ihre Herkunftsländer sickern (unter den bisher Freigekommenen sind einige "Gefährder"). So schnell können sich die Verhältnisse in den Krisenzonen des Nahen Ostens und die Risikoeinschätzung ändern.
Überforderte Europäer
Was für den Waffenexport in vermeintlich vertrauenswürdige Länder der Region ein Exempel ist, gilt auch für politische Entscheidungen, die sich auf brüchigen Grundsätzen ausruhen ("Mit Assad wird nicht verhandelt", "Man könnte ja über die Idee eines Internationalen Gerichtshofs nachdenken" - Seehofer): Schnell ist eine Situation da, die vor Augen führt, dass alles doch ganz anders kommen kann.
Wie viele IS-Kämpfer bereits aus Gefängnissen in Nordsyrien entkommen sind, ist derzeit nicht zu ermitteln. Die Situation ist unübersichtlich und Reporter vor Ort sind rar, wofür nicht nur die Kriegsgewalt, sondern auch Erdogan sorgt. Das Thema IS-Gefangene ist ein Politikum, wie es schon die Pressemitteilung des Weißen Hauses aufzeigte, die der türkischen Militäroperation vorausging.
Im kurzgefassten Kommuniqué wurden die gefangenen IS-Kämpfer eigens erwähnt. Trump bearbeitete das Thema dann weiter. Für ihn war das ein Grund zu Belehrung der Europäer, die ihre IS-Kämpfer nicht rechtzeitig zurückgeholt haben, trotz der wiederholten Aufforderungen seinerseits. Und es war ein Grund für schlecht verborgenen Schadenfreude, als Trump öffentlich ausmalte, dass die in Freiheit gelangten IS-Kämpfer nicht in die USA kommen würden, sondern sich in die europäischen Länder aufmachen würden.
Entsprechend aufgeladen waren die ersten Meldungen zu den IS-Gefangenen und der erste Alarm am vergangenen Sonntag. Ob denn nun die türkischen Militärs Gefängnisse oder Lager beschossen haben und dadurch IS-Mitglieder freigekommen sind oder ob die SDF oder die YPG die Lager selbst aufgemacht haben, wurde zur Streitfrage der verschiedenen Lager. In der Berichterstattung wurde dabei wenig unterschieden, ob es sich nun um gefangene IS-Frauen handelt oder um IS-Kämpfer handelt.
"Haut ab, geht!"
Wie ein französischer Bericht vom vergangenen Montag nahelegt, hat das kurdische Aufsichtspersonal im Lager Ain Issa die Türen selbst geöffnet, weil man sich außerstande sah, die Lageraufsicht angesichts der türkischen Offensive aufrechtzuhalten. "Haut ab, geht", sollen die Kurden gesagt haben, so die Text-Nachricht einer von zehn Französinnen, die mit insgesamt 25 Kindern das Lager 50 Kilometer nördlich von Rakka verlassen haben sollen.
Die Angaben stammen von zwei Autorinnen, die laut Le Parisien im Zuge einer Buchrecherche nahen Kontakt zu französischen IS-Anhängerinnen haben. Schon in dem Bericht vom Montag wird eine der Kontakte damit zitiert, dass man die Zelte verbrannt habe, in denen sie zuvor gelebt hätten.
Beste Verbindungen in die Lager
Es gibt einige Meldungen, die die Hoffnung der Gefängnis- oder Lagerinsassen, Frauen wie Männer, auf eine Rückkehr in die Welt des IS stützen. Laut einer Übersicht von BBC-Monitor gibt es auffällige Anzeichen dafür, dass IS-Milizen die Lager ins Visier genommen haben und sie angreifen.
Eine Dschihadistin, die einer Aktionsgruppe zur Befreiung von Frauen in den Lagern angehört, bestätigt in einem Interview mit dem für besondere Quellenarbeit bekannten Dschihad- und IS-Experten Aymenn Jawad Al-Tamimi, was sich bei einem Aufstand Anfang Oktober im Lager al-Hol schon zeigte: Dass es ein Schmuggelsystem gibt, das nicht nur Waffen ins Lager schaffen, sondern auch IS-Frauen rausbringen kann.
Dies lässt als möglich erscheinen, dass solche Aktionen angesichts der fluiden Situation in Nordsyrien auch bei IS-Milizen mit entsprechenden Summen machbar sind, vielleicht nicht bei den "prominenten" IS-Kämpfern, aber bei den weniger bekannten? Ob sich diese dann tatsächlich nach Europa aufmachen, wäre die nächste Etappe in diesem worst case-Szenario.
Wie die aktuelle Meldung vom Lager Ain Issa vorführt, braucht es vielleicht gar keine "Lösegelder" mehr, um Gefangene frei zu bekommen. Videoclips von den "türkischen Bodentruppen" - den Dschihadisten im Sold Ankaras - dokumentieren Abholungen von inhaftierten IS-Kämpfern und ihren Familien vom Lager Ain Issa, die vermutlich eher brachial verliefen.
Frankreich: IS-Gefangene werden in den Irak gebracht
Die französische Regierung nimmt solche Möglichkeiten ernst, bleibt aber bei ihrer bisherigen Lösung. Wie heute berichtet wird, sollen französische Soldaten, die aus Syrien abziehen, IS-Gefangene in den Irak bringen, wo sie ins Gefängnis gesteckt und abgeurteilt werden. Es geht um etwa ein Dutzend französischer IS-Kämpfer, so der gut vernetzte Journalist Georges Malbrunot.
Die irakische Regierung verlangt aber nach Informationen des Senders Europe 1 eine ansehnliche Geldsumme dafür - und sie will, dass dies diplomatisch diskreter abläuft als bei den letzten Fällen. Die sorgten wegen der Todesurteile nach umstrittenen Gerichtsverfahren international für eine schlechte Publicity des Irak und für juristische Komplikationen, da Frankreich offiziell Gegner der Todesstrafe ist.
Wie nun das weitere Schicksal der verurteilten französischen IS-Kämper aussieht, ist nicht bekannt. Solange diese in irakischen Gefängnissen sitzen, muss das Problem nicht dringend gelöst werden. Allerdings ist es nun auch nicht unbedingt so, dass man sich derzeit getrost auf die Stabilität der irakischen Regierung und des politischen Systems verlassen kann (Irak: Proteste eskalieren).
"Sie lernen nicht"
"Sie lernen nicht", lautet der lakonische Kommentar des französischen Dschihad-Experten Wassim Nasr zum Vorgehen seiner Regierung. Nasr warnte schon vor Jahresfrist davor, dass sich die Pariser Regierung mit dem "Nein" zur Zurücknahme der IS-Kämpfer mit französischer Staatsbürgerschaft dem Risiko aussetze, sich erpressbar zu machen.
Dabei sprach er auch die Möglichkeit an, die nun überraschend nahegerückt ist: Dass die IS-Kämpfer wie auch die IS-Anhängerinnen französischer Nationalität in die Herrschaftsbefugnis von Baschar al-Assad geraten könnten, der dies als politisches Kapital verwenden könnte. Geht es nach Informationen des bereits erwähnten Journalisten Malbrunot, so befinden sich bereits mehrere Dutzend Franzosen oder Personen mit Doppelstaatsbürgerschaft, darunter die französische, in Gefängnissen, die der syrischen Regierung unterstehen.
In Deutschland hat man solche Spekulationen gar nicht erst behandelt. Zum Problem der IS-Frauen und Kindern mit deutscher Staatsangehörigkeit, die in kurdischen Lagern festgehalten werden, heißt es seit Wochen und Monaten immer nur, dass die Regierung in Berlin an einer Lösung arbeite. Erst als sich Anwälte einschalteten, gab es Bewegung über den Rechtsweg: Kinder wurden abgeholt (Deutsche IS-Kinder: Viele Schwierigkeiten und eine harte Haltung).
Als Begründung, weshalb die deutsche Regierung in ihrem politischen Manövrierraum beschränkt war, wurde immer wieder angeführt, dass die deutschen IS-Frauen nicht konsularisch betreut werden können, da sie von einer kurdischen Verwaltung festgehalten werden, die Deutschland offiziell - aus Rücksicht auf die Türkei - nicht anerkennen kann.
Bislang ist das größte Lager mit IS-Frauen und deren Kinder, al-Hol in der Nähe von al-Hasaka, weit vom Aktionsraum der türkischen Militäroperation entfernt. Dort sollen sich etwa 130 deutsche Staatsangehörige befinden. Die Tagesschau berichtete Anfang der Woche von Ängsten deutscher IS-Frauen vor der Übernahme des Lagers durch die syrische Armee. Dies ist derzeit nicht unwahrscheinlich.