UN-Bericht zu Sri Lanka: Militär tötete 40.000 Zivilisten

Der Untersuchungsbericht kritisiert die Mitverantwortung der Vereinten Nationen für das Massaker

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Vor knapp zwei Jahren ging der 30-jährige Bürgerkrieg im südasiatischen Inselstaat Sri Lanka mit einem Sieg der Armee zu Ende. Präsident Mahinda Rajapakse feiert sich seither als Lichtgestalt, die das Land heldenhaft vom Terror der tamilischen Guerillaorganisation Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) befreit hat.

Über die Opfer unter der Zivilbevölkerung (Das tägliche Blutbad in Sri Lanka) gibt es allerdings noch immer keine offiziellen Zahlen. Die Regierung behauptet bis heute ernsthaft, es sei während des gesamten Krieges 2008/2009 "kein einziger Zivilist" getötet worden. "Es gab keine Menschenrechtsverletzungen. Es gab keine zivilen Opfer" - so Präsident Rajapakse gegenüber dem Time Magazine. Eine Position, die der Economist nun als "große Lüge" bezeichnete (Sri Lanka: Regierung verkündet Sieg über Rebellen).

Denn immer wieder gelangen Berichte und vor allem sehr viele von Soldaten gemachte Fotos und Videos (Streit um Video von Kriegsverbrechen in Sri Lanka) an die Öffentlichkeit, die offenkundig Gräueltaten der Regierungstruppen zeigen. Viele Zeugen berichten auch von Kriegsverbrechen der Rebellen.

Deshalb beauftragte UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon im Juni 2010 ein Expertenpanel damit, einen Bericht über diese Ereignisse anzufertigen. Geleitet wurde das Gremium von dem früheren indonesischen Generalstaatsanwalt Marzuki Darusman, Jasmin Sooka von der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission und dem US-Rechtsprofessor Steven Ratner.

Der Militärseinsatz kostete 40.000 Zivilisten das Leben

Der nun mit großer Verzögerung erschienene 200-seitige Report of the Secretary-General's Panel of Experts on Accountability in Sri Lanka widerspricht den Behauptungen der srilankischen Regierung: Es gebe "glaubwürdige Anschuldigungen" ernster Verletzungen internationalen Rechts durch Regierungstruppen und die LTTE, einige davon "reichen bis zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit", stellt der Report fest.

Es ist vor allem die Dimension der Massaker an Zivilisten, die erschreckend ist und viele Fragen aufwirft. So kommt der UN-Report anhand einer großen Anzahl "glaubwürdiger Quellen" zu dem Schluss, dass es zwischen Januar und Mai 2009 mehr als 40.000 getötete Zivilisten gegeben haben könnte. Die meisten hätten ihr Leben in den letzten Tagen vor Kriegsende am 18. Mai verloren.

Die Armee bombardierte systematisch Flüchtlingslager und Hospitäler

Der Report hebt hervor, dass der Angriff auf Zivilisten wiederholt und systematisch, also absichtlich erfolgte. "Die meisten zivilen Opfer hat es in der Endphase des Krieges durch Bombardierungen der Regierung gegeben." Das Militär habe eine für die tamilische Zivilbevölkerung eingerichtete No-Fire-Zone "systematisch" mit schwerer Artillerie beschossen. Außerdem seien "systematisch" immer wieder Hospitäler bombardiert sowie gezielt Nachschublinien für Lebensmittel, UN-Zentren und Schiffe des Roten Kreuzes angegriffen worden.

Weiter habe es zahlreiche Vergewaltigungen durch Regierungssoldaten gegeben, Gefangene seien gefoltert und reihenweise exekutiert worden. Das Panel fordert Sri Lanka auf, dafür die Verantwortung zu übernehmen.

Die LTTE exekutierte tamilische Flüchtlinge

Die tamilischen Rebellen benutzten die Zivilbevölkerung als menschliches Schutzschild und hätten "aus nächster Nähe" tamilische Flüchtlinge erschossen, die versuchten, aus der letzten von den Rebellen kontrollierten Enklave zu flüchten. In der Endphase hätte die LTTE Zwangsrekrutierungen aller Altersgruppen durchgeführt, bis hin zu 14-jährigen.

Diese Passagen des Berichts werden viele Tamilen in der "Diaspora" nur ungern zur Kenntnis nehmen. Auch zwei Jahre nach der Vernichtung der LTTE in Sri Lanka halten sie noch immer die Tiger-Flagge hoch und glauben zu 90 Prozent daran, dass ihr als Sonnengott verehrter Führer Prabhakaran noch lebt.

Die UN tragen eine Mitverantwortung für die Massaker

Der Report macht vor allem das Missverhältnis zwischen dem Ausmaß der offensichtlich begangenen Kriegsverbrechen und den demgegenüber völlig unangemessen schwachen internationalen Reaktionen deutlich. Es kann nur als beschämend bezeichnet werden, dass ein Ereignis, welches der frühere UN-Sprecher in Sri Lanka, Gordon Weiss, mit dem 1995 stattgefundenen Massaker in Srebrenica vergleicht, weltweit kaum wahrgenommen wurde.

Ähnlich wie in Ex-Jugoslawien und Ruanda stellt sich in Sri Lanka außerdem die Frage nach dem Mitwirken der Vereinten Nationen bei den Kriegsverbrechen. Die Autoren des UN-Reports sprechen es deutlich aus: Die Vereinten Nationen tragen eine Mitverantwortung für Zehntausende getöteter Zivilisten, da sie sich 2009 dagegen entschieden, provisorische Zahlen über zivile Opfer zu veröffentlichen - was den Ruf nach einem Schutz der Zivilisten gestärkt hätte. Ban Ki-Moons gescheiterte Strategie bestand offensichtlich darin, seinen langjährigen Freund Rajapakse mit "stiller Diplomatie" von den schlimmsten Kriegsverbrechen abzuhalten.

Nur durch eine undichte Stelle war aus dem United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs kurz vor Kriegsende eine interne Schätzung heraus gesickert, die bis Ende April von 7.000 zivilen Toten ausging. Zum einen stellt sich die Frage, wie es zu dieser - aus heutiger Sicht - viel zu niedrigen - Schätzung kommen konnte. Zweitens bleibt ungeklärt, weshalb nicht einmal diese Zahl veröffentlicht werden sollte.

Kann oder will die UNO nicht handeln?

Zum Schluss spricht das Expertenteam die Empfehlung aus, ein internationales Gremium solle die Kriegsverbrechen untersuchen, da eine interne Untersuchung durch den srilankischen Staat extrem unwahrscheinlich sei.

Ban Ki-Moon kommentierte dies mit den Worten, er könne "nichts tun". Ohne die Zustimmung der srilankischen Regierung oder eine Entscheidung des UNO-Sicherheitsrates sei es ihm nicht möglich, die Massaker offiziell untersuchen zu lassen.

Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Navi Pillay widersprach dem: Die Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen sei keine Frage des Wollens oder der politischen Präferenzen, sondern eine juristische Pflicht. Der UN-Menschenrechtsrat in Genf war nach Kriegsende im Mai 2009 allerdings dadurch aufgefallen, dass er sich weigerte, Kriegsverbrechen zu untersuchen - gegen die Empfehlungen von Pillay, die das Gremium beaufsichtigt. Es bleibt zu hoffen, dass das Gremium im Juni eine kompetentere Entscheidung trifft, wenn der UN-Report dort auf die Tagesordnung kommt.

Ist UN-Stabschef Nambiar in Kriegsverbrechen verwickelt?

Die Politik der Vereinten Nationen gegenüber Sri Lanka ist nicht nur von falscher Zurückhaltung, sondern auch von offensichtlichen Interessenskonflikten geprägt, die sich vor allem in der Person des Stabschefs von Ban Ki-Moon, Vijay Nambiar, kristallisieren.

So soll Nambiar seine Mitarbeiter im Mai 2009 angewiesen haben, wegen der 20.000 getöteten Zivilisten - dies war schon damals der UN-interne Wissensstand - , "keinen Aufstand zu machen", meldete die Londoner Times.

Der zweite kritische Punkt betrifft die Rolle Nambiars in der sogenannten "White Flag"-Affäre. Damit ist die Tötung der gesamten LTTE-Führungsriege in den letzten Tagen des Krieges gemeint. Die Times-Reporterin Marie Colvin berichtet, dass sie am 18. Mai mit LTTE-Führungskadern in Kontakt stand, die sich ergeben wollten. Sie hätten darum gebeten, dass "Nambiar anwesend sein sollte, um ihre Sicherheit zu garantieren". Der in Colombo stationierte UN-Stabschef sagte Colvin daraufhin am Telefon, er habe das Ehrenwort des srilankischen Präsidenten Mahinda Rajapakse: Wer sich mit "einer weißen Flagge" in Händen ergebe, habe nichts zu befürchten - und deshalb sei eine Präsenz der UN bei der Übergabe nicht notwendig. Nur wenige Stunden später waren alle LTTE-Führer tot. Ihre leblosen Körper wurden von der Armee zur Schau gestellt.

Was damals geschah, gehört bis heute zu den am wenigsten aufgeklärten Ereignissen des Krieges. Bekannt wurde allerdings, dass Vijays Bruder Satish Nambiar als Militärberater für die srilankische Armee arbeitete. Außerdem sagte Ex-General Sarath Fonseka - der während des Kriegs Chef des srilankischen Militärs war - einer Oppositionszeitung im Dezember 2009, der srilankische Verteidigungssekretär Gothabaya Rajapakse habe den Befehl gegeben: "Tötet sie alle!" Seit diesem Interview sitzt Fonseka im Gefängnis.

Welche Rolle Nambiar bei diesem Ereignis spielte, was er wusste und ob er tatsächlich ein neutraler Vermittler war, wird in dem neuen UN-Report nicht diskutiert. Bisher hat Nambiar in einem hier transkribierten Interview mit Al Jazeera nur bestätigt, dass er an den Verhandlungen teilgenommen hat - über den Tod der LTTE-Kader wisse er aber nichts, vielleicht seien sie auch von der Tamil Tigers selbst getötet worden.

Inzwischen hat eine tamilische Diasporagruppe aus der Schweiz wegen der "White-Flag"-Affäre eine Anzeige beim Internationalen Strafgerichtshof eingereicht.