"Über Mitglieder der griechischen Regierung wurde mehrheitlich negativ berichtet"

Kim Otto, Professor für Wirtschaftsjournalismus, zur Berichterstattung deutscher Medien in Sachen griechischer Staatsschuldenkrise

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Eine Berichterstattung, die die journalistischen Qualitätskriterien Neutralität und Vielfalt nicht erfüllt, eine Berichterstattung, die in ihrer Gesamtheit unausgewogen ist, eine Berichterstattung, die Hintergrundberichterstattung zu gewichtigen Themen vernachlässigt: Kim Otto, Professor für Wirtschaftsjournalismus an der Universität Würzburg, hat in einer umfangreichen Studie untersucht, welchen Journalismus große deutsche Medien im Hinblick auf die griechische Staatsschuldenkrise abgeliefert haben.

1.442 Artikel waren Gegenstand der Studie, die im Auftrag des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung durchgeführt wurde. Sein Befund verdeutlicht: Die "Griechenlandberichterstattung" der Presse ist klar Partei ergreifend und von Meinungen und Wertungen durchsetzt. Im Interview mit Telepolis zeigt Otto, der auch als Journalist für die ARD-Sendung Monitor arbeitet, wie genau die zum Vorschein gekommenen Schwachstellen in der Berichterstattung aussehen.

Die Berichterstattung zur Staatsschuldenkrise in Griechenland war über einen langen Zeitraum mit eines der zentralen Themen in den Medien. Immer wieder gab es Stimmen, die einen zu unausgewogenen Journalismus beklagten und auf Defizite in der Berichterstattung verwiesen haben.

Die nun veröffentlichte Studie "Die Berichterstattung deutscher Medien in der griechischen Staatsschuldenkrise" ist insbesondere auch im Hinblick auf andere Analysen interessant, die sich ebenfalls mit der Presse im Hinblick auf die "Griechenlandberichterstattung" auseinandergesetzt haben. So kamen etwa Margarete Jäger, Leiterin des Duisburger Insituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS), und Regina Wamper, Germanistin und Politikwissenschaftlerin, bei einer Untersuchung von Kommentaren der Süddeutschen Zeitung zu dem Ergebnis, dass sich bei den Kommentierungen einer bestimmter "Hintergrundfolie" bedient wurde, die den Positionen der "Herrschenden" mit zu wenig Distanz begegneten ("Die SZ folgt dem technokratischen Herangehen der politischen Akteure").

Die Medienwissenschaftler Matthias Thiele und Rainer Vowe haben die politischen Talkshows untersucht, die sich mit dem Thema Griechenland beschäftigt haben. Ihr Fazit: Gerahmt wurden die Talkshows von Titeln, die eine imaginäre Bedrohung erzeugten. Anstelle von Unparteilichkeit der Moderatoren, erfolgte ein Schulterschluss mit den Gästen (Talkshow-Kritik: Völlige Einseitigkeit und ein nationaler Wir-Diskurs).

Die Studie von Prof. Dr. Kim Otto und Andreas Köhler (wissenschaftlicher Mitarbeiter der Professur für Wirtschaftsjournalismus an der Universität Würzburg) geht nun in die Breite der Berichterstattung und bestätigt ein weiteres Mal, wie problembeladen Teile der Presse beim Thema Griechenland vorgegangen sind.

Otto, der auch in der Journalistenausbildung tätig ist, verdeutlicht im Interview, dass die Griechenlandberichterstattung vor allem auch unter einer europäischen Perspektive mangelt. Zu stark fokusierten Journalisten auf nationale Interessen, eine gesamteuropäische Betrachtung bleibe oft außen vor.

"In der griechischen Staatsschuldenkrise zeigte sich die Komplexität europäischer Wirtschaftspolitik"

Sie haben sich in Ihrer Studie mit der Berichterstattung deutscher Medien in Sachen Staatsschuldenkrise in Griechenland auseinandergesetzt.
Warum das Interesse an diesem Thema?
Kim Otto: Ich arbeite auf der einen Seite als Professur für Wirtschaftsjournalismus an der Universität Würzburg wissenschaftlich. Auf der anderen Seite bin ich als Mitglied der ARD-Monitor-Redaktion ja auch Journalist wie Sie. Und in den Jahren zwischen 2010 und 2016 gab es unter Kollegen schon eine große Diskussion, ob wir angemessen über Griechenland berichten.
In der griechischen Staatsschuldenkrise zeigte sich die Komplexität europäischer Wirtschaftspolitik. Wirtschaftsjournalismus muss diese komplexen und vernetzten Zusammenhänge erklären und dabei Kriterien journalistische Qualität einhalten, damit in dieser europäischen Staatsschuldenkrise in der Bevölkerung keine Verunsicherung entsteht, die diese Krisen und Konflikte verschärft. War zu Beginn des Jahres noch eine Mehrheit der Bevölkerung für einen Verbleib Griechenlands im Euro, so sprach sich im Juni 2015 eine Mehrheit gegen einen Verbleib Griechenlands im Euro aus und eine deutliche Mehrheit gegen weitere Zugeständnisse an Griechenland. Das notwendige Vertrauen der deutschen Bevölkerung in die griechische Regierung schwand im ersten Halbjahr 2015 jedoch erkennbar, die Verunsicherung nahm zu.
Hier wäre also auch ein guter Wirtschaftsjournalismus gefordert gewesen?
Kim Otto: Ja, natürlich. Hier war ein Wirtschaftsjournalismus gefordert, der umfassend, ausgewogen, hintergründig, vielfältig und neutral über relevante Aspekte und Vorgänge informiert, um seiner gesellschaftlichen Aufgabe nachzukommen.
Und das hat er nicht:
Kim Otto: Ich und viele meiner Kollegen hatten das Gefühl: Da wird einseitig Partei für die deutsche Regierung ergriffen und wenig hintergründig über die intensiven Reformbemühungen der griechischen Regierung berichtet. "Die Halbstarken von Athen", "Keine weiteren Milliarden für die gierigen Griechen" - derartige Schlagzeilen prägten das erste Halbjahr 2015.
: Wie sind Sie denn bei Ihrer Untersuchung vorgegangen?
Kim Otto: Die Studie untersuchte die Berichterstattung der Journalisten zur griechischen Staatsschuldenkrise im ersten Halbjahr 2015 in der deutschen Medienöffentlichkeit am Beispiel der Tageszeitungen "Die Welt", "Bild", "Frankfurter Allgemeine Zeitung", "Süddeutsche Zeitung" und "Die Tageszeitung" sowie der Onlineplattform "Spiegel Online". Mittels quantitativer Inhaltsanalyse der Artikel zur griechischen Staatsschuldenkrise wurden Berichterstattungsintensität, Anlässe, Akteure, Inhalte, Themen und Wertungen erfasst. Dies erlaubt Aussagen über die Vielfalt, die Ausgewogenheit und die Neutralität der Berichterstattung. Außerdem sind auch Aussagen zur Tiefe der Hintergrundberichterstattung über die Reformpolitik sowie das Ausmaß der Europäisierung in der Berichterstattung möglich.
Das hört sich nach einer ziemlich umfangreichen Untersuchung an.
Kim Otto: Das ist sie auch. Der Untersuchungszeitraum reicht von der Formierung der neuen griechischen Regierung unter Alexis Tsipras am 28.01.2015 bis zum Auslaufen des zweiten Hilfspakets am 30.06.2015. Es handelt sich um eine Vollerhebung. Insgesamt wurden 1444 Artikel ausgewertet. Wir haben ein ziemlich aufwändiges Kategoriensystem genutzt. Alleine die Codieranweisung hatte über 70 Seiten. Die zu erfassenden Reformvorschläge zentralen Dokumenten wurden ausgewählt: die Reformliste der griechischen Regierung vom 24.02.2015, das griechische Regierungsprogramm und der Fortschrittsbericht der EU. 




Die Berichterstattung war in ihrer Gesamtheit nicht ausgewogen

Zu welchen Ergebnissen sind Sie gelangt?
Kim Otto: Diese Studie zeigt, dass die Journalisten in Deutschland in der Berichterstattung zur griechischen Staatsschuldenkrise wesentliche Qualitätskriterien zu wenig beachtet haben. Die Berichterstattung war in ihrer Gesamtheit nicht ausgewogen zwischen unterschiedlichen Positionen und Meinungen. Auch über die Gesamtheit der untersuchten Medien und über das gesamte politische Spektrum kann eine unausgewogene Berichterstattung postuliert werden. Sie erfüllte auch in vielen Artikeln das Qualitätskriterium der Neutralität nicht, weil Journalisten ihre Meinung in Nachrichten einbrachten. Journalisten bezogen eigene Positionen auch außerhalb von meinungsorientierten Darstellungsformen. Bei der Auswahl von direkt und indirekt zitierten Akteuren wurde das Qualitätskriterium der Vielfalt in zahlreichen untersuchten Artikeln nicht gewahrt.
Es fiel auf, dass einige der untersuchten Medien nur Akteure zitierten, die die Meinung des Blattes vertraten. Vielfach fand eine differenzierte Hintergrundberichterstattung zu den Reformvorhaben der griechischen Regierung nicht statt. Die Reformvorschläge wurden nur oberflächlich und nicht ausführlich behandelt. Die untersuchte deutsche Berichterstattung zur griechischen Staatsschuldenkrise erfüllte demnach die untersuchten Qualitätsmerkmale der Vielfalt, Ausgewogenheit, Neutralität und Hintergrundberichterstattung nur sehr begrenzt.
Wie haben sich die Schwachstellen in der Berichterstattung denn bemerkbar gemacht?
Kim Otto: 558 der 1.442 untersuchten Artikel zur griechischen Staatsschuldenkrise haben keinen einzigen konkreten Reformvorschlag aufgegriffen. Wenn die Journalisten über Reformen berichteten, dann standen die Politikfelder Haushaltspolitik und die Steuer- und Finanzpolitik im Mittelpunkt. Sozialpolitik, Infrastrukturpolitik und Tarifpolitik u.a. spielten nur eine geringe Rolle. Die Liste der gar nicht oder kaum thematisierten Reformvorhaben ist lang. "Bild" berichtete über 73 Reformziele gar nicht, auch alle anderen untersuchten Medien erwähnten jeweils über 20 konkrete Reformvorhaben nicht einmal.
Wenn es auf dem Höhepunkt der deutschen Berichterstattung zur griechischen Staatsschuldenkrise oft nicht um die konkreten Reformvorschläge gegangen ist, stellt sich die Frage: Womit haben sich die Medien denn stattdessen befasst?
Kim Otto: Wir haben festgestellt, dass es in fast jedem zweiten Artikel allgemein um Hilfsprogramme und dabei hauptsächlich um Fragen des Auslaufens, der Zusammensetzung, der Raten, der Zustimmung und Ablehnung gegangen ist. Bei der Analyse der deutschen Berichterstattung zur griechischen Staatsschuldenkrise fällt zudem auf, dass in vielen Artikeln die Inhalte und Reformziele, über die gestritten wurde zwischen Griechenland und den Institutionen, nicht benannt wurden, dafür jedoch sehr oft eine mögliche Konsequenz des Scheiterns von Verhandlungen: der Grexit.
Insgesamt wurde ein Euro-Austritt Griechenlands in fast in jedem dritten Artikel erwähnt. In der Summe blieben die Journalisten der untersuchten Medien in ihrer Berichterstattung über die Reformen in Griechenland größtenteils an der Oberfläche. Nur wenige Artikel lieferten eine tiefe Hintergrundberichterstattung über die diskutierten Reformen in Griechenland.
Können Sie genauer erklären inwiefern die Berichterstattung nicht ausgewogen war? Und: Was genau verstehen Sie unter einer ausgewogenen Berichterstattung?
Kim Otto: Ausgewogenheit ist eines der zentralen Qualitätskriterien des Journalismus auf normativ-demokratietheoretischer Ebene, das heißt, bei Kontroversen sollen Befürworter und Gegner, bzw. ihre Positionen, in etwa in einem ausgewogenen Verhältnis, zu Wort kommen.
Das geht auch aus dem dem Rundfunkstaatsverstrag und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hervor.
Kim Otto: Das Bundesverfassungsgericht nutzt dafür den Begriff der "gleichgewichtigen Vielfalt". Die Vielfalt an Meinungen und Interessen muss gleichgewichtig zum Ausdruck kommen. Auch wenn es gesetzliche Regelungen für die Presse hinsichtlich der Ausgewogenheit nicht gibt, so sollten auch hier in der Gesamtheit der Berichterstattung gegensätzliche Positionen in einem ähnlichen Verhältnis berücksichtigt werden, um die öffentliche Meinung nicht ungleichgewichtig zu beeinflussen. Damit ist nicht gemeint, dass alle möglichen Positionen, Gruppen und Akteure genannt werden müssen, jedoch mindestens zwei zentrale gegensätzliche Richtungen und Positionen.

Vorherrschendes Denkmuster: "Die Griechen sind selber schuld"

Gut, und jetzt übertragen auf die Berichterstattung zu Griechenland.
Kim Otto: In der Berichterstattung zur griechischen Staatsschuldenkrise heißt die Forderung nach Ausgewogenheit, dass die zentralen unterschiedlichen Positionen und die wichtigsten sie vertretenden Akteure in diesem aktuellen Konflikt gleichgewichtig in der Gesamtberichterstattung vorkommen sollten. Hierzu zählt auf der einen Seite eine angebotsorientierte Position, die eine Verringerung der Staatsverschuldung fordert und insbesondere von der deutschen Regierung in der griechischen Staatsschuldenkrise vertreten wurde, und auf der anderen Seite eine nachfrageorientierte Position, die höhere Staatsausgaben zur Belebung der Wirtschaft in der Krise vorsieht und von der griechischen Regierung vertreten wurde.
Nun haben Sie ja bereits dargelegt, dass Sie in Ihrer Studie zu dem Ergebnis gekommen sind: Die "Griechenland-Berichterstattung" war sehr stark von Meinung durchsetzt.
Kim Otto: So ist es. Die Berichterstattung zur griechischen Staatsschuldenkrise ist mehrheitlich meinungsorientiert und damit auch zugleich wertend. Über Mitglieder der griechischen Regierung wird mehrheitlich negativ berichtet. Rund die Hälfte der untersuchten Artikel in denen Wertungen der griechischen Regierung enthalten sind, stellen die griechische Regierung negativ dar, nur 16,9 Prozent weisen eine positive Wertung auf und in 32,4 Prozent ist die Darstellung in der Berichterstattung ausgewogen. Akteure, die sich ausgewogen oder positiv gegenüber Griechenlands Regierung äußern, kommen zwar häufig zu Wort, ihrer Position wird jedoch im Text bei den meisten untersuchten Medien häufiger widersprochen als bei Akteuren, die sich negativ gegenüber der griechischen Regierung äußern.
Wie kam denn die deutsche Regierung in der Berichterstattung weg?
Kim Otto: Die deutsche Regierung wird in den Artikeln viel weniger bewertet. Wenn sie bewertet wird, dann wird über sie ausgewogener berichtet. In 40,5 Prozent der Artikel wurde die Position der deutschen Regierung negativ dargestellt, in 14,1 Prozent positiv und in 45,6 Prozent der Artikel wurde ausgewogen berichtet. Damit wird auch über die beiden gegenüberstehenden Positionen einer angebotsorientierten und einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik in der griechischen Staatsschuldenkrise und die diese Positionen vertretenden Akteure ‒ die griechische und die deutsche Regierung ‒ nicht gleichgewichtig berichtet. Die Berichterstattung über die zentralen Positionen und Akteure ist nicht ausgewogen.
Lassen Sie uns doch mal eine Zahl aufgreifen. In der Studie zeigen Sie auf, dass in über 50 Prozent der untersuchten Artikel Mitglieder der griechischen Regierung negativ dargestellt wurden; 16,9 Prozent der Artikel waren den Regierungsmitgliedern positiv gestimmt. Nun könnte man ja auch einfach sagen: Die "berichterstattenden" Journalisten haben eben erkannt, dass die griechische Regierung aufgrund ihres Agierens es verdient, negativ dargestellt zu werden. Eine zu einfache Erklärung? 

Kim Otto: Allerdings: Ich glaube, es hat sich bei den Journalisten ein Deutungsmuster durchgesetzt. Die Griechen sind selbst schuld an ihrer Krise, und wenn wir Deutsche für die Griechen mit Milliarden bürgen, dann haben sie auch die Reformen zu machen. Natürlich haben die griechischen Regierungen in der Vergangenheit viel falsch gemacht. Aber wir vergessen zwei Sachen. Erstens sind die Griechen wie andere Länder auch in die Staatsschuldenkrise wegen der weltweiten Finanzkrise gerutscht. Die Griechen mussten - wie andere auch - mit Milliarden ihre Banken retten. Zweitens gibt es wohl kaum ein Land, das so massiv, in so kurzer Zeit, so viele Reformen durchsetzen musste. Das Land und seine Menschen liegen am Boden, 25 Prozent Arbeitslosigkeit, 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, fast jeder dritte griechische Haushalt gilt inzwischen als arm.
Im Februar 2015 übernahm das Linksbündnis Syriza die Amtsgeschäfte in Athen, forderte ein Ende des drastischen Sparkurses, höhere Sozialausgaben und einen Schuldenschnitt. Dem verweigerte sich die so genannte Troika aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank, aber auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble.

Journalisten wollen zunehmend die Meinung der Leser beeinflussen

Lassen Sie uns nochmal auf die wertenden "Zuschreibungen" eingehen, die in den nachrichtlichen Artikel zu finden waren. Was meinen Sie damit?
Kim Otto: Damit Meinungen für die Leser nachvollziehbar als solche zu erkennen sind, ist die Trennung von Nachricht und Meinung ein wichtiges Kriterium für journalistische Qualität. Die Trennung von neutralen und wertfreien Nachrichten von journalistischen Wertungen resultiert ebenso wie die Ausgewogenheit aus den rundfunkrechtlichen Regelungen und hat sich nach 1945 auch in der Presse etabliert, auch wenn sie hier nicht explizit gesetzlich fixiert ist.
Hier wird sie mit den vielfältigen Funktionszuschreibungen an den Journalismus begründet. An dieser Stelle sind zwei besonders relevant: Auf der einen Seite steht die Informations- und Chronistenfunktion, auf der anderen Seite die Mitwirkung an der Meinungsbildung. In den Medien hat sich mit dem politischen Kommentar jedoch ein Genre ausdifferenziert, in dem Meinungsäußerung legitim und erwünscht ist. Wenn Nachrichten und Meinungen eindeutig gekennzeichnet sind, weiß der Leser, welcher Interpretationsrahmen angemessen ist. So kann der Verdacht einer verdeckten Einflussnahme zerstreut werden.
Ein erstaunliches Ergebnis der Studie ist: Journalisten vertreten auch in eigentlich neutralen Darstellungsformen ganz offen ihre Meinung. In rund 15 Prozent der Nachrichten und Berichte sowie auf jeden zehnten Hintergrundartikel trifft das zu, wodurch das Qualitätskriterium der Neutralität verletzt wird. Als neutrale Darstellungsformen sollten Nachrichten, Berichte und Hintergrundberichte frei von Meinungsäußerung der Journalisten sein.
Haben Sie Beispiele?
Kim Otto: Sätze wie "Was Varoufakis sagt, ist Hohn und Spott für den Bundestag" oder "Varoufakis tut, als wäre nichts geschehen" oder "Schäuble beweist damit eindrucksvoll, dass er mindestens so geübt im Werfen von Nebelkerzen ist wie sein griechischer Kollege Yanis Varoufakis". Solche Meinungsäußerungen haben in Nachrichten und Berichten nichts zu suchen. Genauso wie: "Die griechische Regierung verweigert sich bislang in bemerkenswertem Maß auch innovative Ansätze zur Erleichterung ihrer Schuldenlast." Da muss der Leser den Eindruck haben, er bekomme eine neutrale Information. Aber das ist doch ganz klar eine Meinungsäußerung.
Wie erklären Sie sich diese Verwendung von wertenden Begrifflichkeiten in nachrichtlichen Formaten?
Kim Otto: Wie bereits gesagt: Das allgemeine Deutungsmuster "die Griechen sind selber schuld" und "die Griechen haben die Reformen zu machen" hat sich aber bei vielen Journalisten durchgesetzt. Die Journalisten haben wahrscheinlich aufgrund dieses Deutungsmusters unprofessionell gearbeitet.
Die fehlende Trennung von Meinung und Nachricht ist bei Boulevardmedien häufig zu finden. Allerdings haben die Journalisten der Qualitätszeitungen in ihrer Berichterstattung zur griechischen Staatsschuldenkrise ebenfalls unprofessionell gearbeitet. Generell gibt es einen Trend: Das Ziel, mit seiner Meinung den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen, wird für Journalisten in den Wirtschaftsredaktionen immer wichtiger, dass zeigte eine Redaktionsbefragung. Während 1990 nur jeder 5. Wirtschaftsjournalist angab, die Meinung der Rezipienten beeinflussen zu wollen, verfolgen 2014 drei Viertel aller Journalisten in den Wirtschaftsredaktionen dieses Ziel.
Was bedeutet es für einen Qualitätsjournalismus, wenn die Grenzen zwischen nachrichtlicher Berichterstattung und Kommentierung bzw. Meinung verschwimmen?
Kim Otto: Europäische Wirtschaftspolitik ist durch ein hohes Maß an Komplexität gekennzeichnet, wie sich auch in der griechischen Staatsschuldenkrise zeigt. Hier ist eine Vielzahl von nationalen, europäischen und internationalen politischen Akteuren an Verhandlungen und Entscheidungen beteiligt. Die europäischen Staaten und Bürger haften mit Milliardenbeträgen füreinander. 851 Milliarden Euro wurden bereits für die Rettung europäischer Krisenstaaten ausgezahlt, weitere 944 Milliarden Euro wurden zugesagt.
Kompetenter Wirtschaftsjournalismus muss diese komplexen und vernetzten Zusammenhänge erklären. Dafür muss er Kriterien journalistischer Qualität einhalten, damit in dieser griechischen Staatsschuldenkrise in der Bevölkerung keine Verunsicherung entsteht. Wirtschaftsjournalismus muss daher umfassend, ausgewogen, hintergründig, vielfältig und neutral über relevante Aspekte und Vorgänge informieren, um seiner gesellschaftlichen Aufgabe nachzukommen.
Wie lässt sich die Berichterstattung zukünftig wieder ins rechte Lot bringen?
Kim Otto: Ein weiteres Ergebnis der Studie ist und das ist das Grundproblem: Zwei nationale Akteure, die griechischen und die deutsche Regierung, stehen erkennbar im Mittelpunkt der wirtschaftspolitischen Berichterstattung. Die untersuchten Medien stellen durch ihre bi-nationale Berichterstattung einen bi-nationalen Konflikt da. Von einer europäisierten Öffentlichkeit kann nicht gesprochen werden. Das heißt: Die Journalisten haben aus einer rein deutschen Sichtweise berichtet und nicht versucht die Perspektive der Griechen einzunehmen. In diesem Moment berichte ich natürlich nicht über die Reformen in Griechenland und ihre Folgen für die Bevölkerung, sondern über die Folgen eines Schuldschnittes für Deutschland.
Sie fordern also, dass Journalismus stärker von einer europäischen Perspektive geprägt sein sollte?
Kim Otto: Genau das ist es. Ich glaube wir Journalisten müssen eine europäische Perspektive einnehmen. Angesichts der Bedeutung europäischer Institutionen und Zusammenhänge in der Wirtschaftspolitik ist eine europäische Perspektive im Wirtschaftsjournalismus von besonderer Relevanz. Dies gilt insbesondere in der griechischen Staatsschuldenkrise, in der politische Entscheidungen über die Finanzhilfen aus Steuergeldern der europäischen Bürger für die Rettung Griechenlands von europäischen Institutionen, wie der Europäischen Kommission, der EZB oder der Eurogruppe, getroffen werden.
Die Herstellung einer europäischen Öffentlichkeit trägt wesentlich zum Verständnis europäischer Entscheidungen und so zu deren Legitimität bei. Diese Studie zeigt, dass die Journalisten in Deutschland in der Berichterstattung die europäische und griechische Perspektive zu wenig beachtet haben.