Übergewicht als Schicksal?

“Fat-collection day“, 1942. Foto: Franklin D. Roosevelt Library (NLFDR), National Archives and Records Administration. Gemeinfrei

Wer als Kind bereits im Kindergarten übergewichtig ist, wird es mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit bleiben, stellen US-Wissenschaftler fest

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Stubenhocker war früher, auf dem Land, nicht gerade eine Auszeichnung für ein Kind. Heute hört man es kaum mehr. Dafür erfährt man in letzter Zeit einiges darüber, wie sehr Kinder einer beinahe schicksalhaften Lage ausgesetzt werden, die bereits in frühen Jahren das Leben auf vorgezeichnete Bahnen lenken. Wo ein Kind aufwächst, bestimmt sein soziales Schicksal, haben amerikanische Untersuchungen im letzten Jahrzehnt festgestellt (Mit dem Umzug das Leben verbessern).

Auch der französische Soziologe Eric Maurin kam zwei Jahre später bei seiner Untersuchung über Abstiegsängste zu einem ähnlichen Ergebnis Das "soziale Schicksal" der Kinder werde als gleichbedeutend mit der Wahl des Viertels interpretiert. Und jüngst wies eine amerikanische Untersuchung darauf hin, dass Armut auch in dem Land mit dem Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Aufstiegsmythos für viele Kinder Schicksal ist: "Armut wird großenteils 'vererbt'. Pech hat, wer an Orten aufwächst, in denen die soziale Mobilität von unten nach oben gering ist."

Nun haben sich US-Wissenschaftler das Übergewichtsproblem von amerikanischen Kindern über einen längeren Zeitraum angeschaut und festgestellt: Wer als Kind bereits im Kindergarten übergewichtig ist, wird es mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit bleiben, wenn nicht rechtzeitig etwas gegen die Körperfülle unternommen wird.

Das Ergebnis, das dem durchschnittlichen Laienverstand nicht als besonders erstaunlich vorkommen mag, überrascht laut einem Zeitungsbericht, viele Experten. Da es zeigt, dass die bisherigen Maßnahmen gegen die "nationale Übergewichts-Epidemie" nicht genügend gut greifen. Sie waren zu generell ausgelegt. Man müsse früher damit beginnen und sich mehr auf die riskanten Fälle beziehen, so die neue Einsicht aus der Studie.

Risiko vier bis fünf Mal höher als bei den dünneren Klassenkameraden

Weshalb die Studie viel Beachtung findet, liegt zum einen an der großen Stichprobe, die ihr zugrunde liegen, sowie daran, dass die BMI-Daten der repräsentativen Auswahl der 7.738 Kinder über einen längeren Zeitraum erhoiben wurden. Jeweils sieben Mal vom Eintritt in den Kindergarten bis zur achten Klasse wurden die Kinder gemessen und gewogen. Herauskam, dass die Hälfte der Kinder, die in der achten Klasse als "fettleibig" eingestuft wurden, dies schon zu Anfang des Kindergartens waren.

Drei Viertel der "sehr fettleibigen" (i.O. "very obese") Kindergartenkinder waren in der achten Klasse "fettleibig": "Das Risiko, dass bei stark übergewichtige Kindergartenkinder später in der achten Klasse Adipositas diagnostiziert wurde, war vier bis fünf Mal höher als bei den dünneren Klassenkameraden."

Laut Studie spielten die ethnische Zugehörigkeit und das Einkommen der Familie zwar eine Rolle bei Messungen der Kinder im jüngsten Alter, ab dem Alter von fünf Jahren sollen diese Faktoren bei übergewichtigen Kindern keine Rolle bei der Bewertung von Risiken für spätere Lebensjahre mehr spielen.

Ganz einig darin, wie die genetische Prädisposition hier hineinspielt, sind sich die Wissenschaftler nicht, für die Experten steht dagegen fest, dass man gegen das Übergewicht schon für die allerersten Lebensjahren Programme entwickeln sollte, die sich nicht auf Ernährungsratschläge für alle beschränken, sondern speziell die Risikofälle ansprechen.

Teuere Behandlung

Bemerkenswert ist, wie teuer Maßnahmen im Einzelfall den Eltern kommen können. Laut New York Times-Bericht müssen Eltern stark übergewichtiger bzw. an Fettleibigkeit leidender Kinder die Hilfe aus eigener Tasche bezahlen und zwischen 1.500 und 3.000 Dollar für eine Behandlung hinlegen, die gewöhnlich ein Jahr dauert. Die Ratschläge der Hausärzte, heißt es dazu, sei, wenn er denn überhaupt gegeben werde, meist wirkungslos.

In den zahlreichen Kommentaren zum Artikel wird darauf hingewiesen, dass die Nahrungsmittelindustrie eine wichtige Rolle bei der Fettleibigkeit spiele, dass die Industrie, die mit viel zu viel Zucker und Hormonen arbeite, über höhere Steuerzahlungen dazu beitragen müsse, Maßnahmen gegen das Übergewicht zu finanzieren. Andere machen auf das vielgehörte, übliche Argument aufmerksam, dass Kinder zu viel vor Medien sitzen, vor dem TV und an Computerspielen und zu viele Süßigkeiten konsumieren.

1919 als achtjähriges Kind zehn Kilometer weit zum Fischen gegangen

Nicht nur das falsche Essen, sondern auch, dass sich die Kinder zu wenig bewegen, wird beklagt. Tatsächlich könnte dies auch damit zusammenhängen, dass Eltern, insbesondere der Mittelschicht, sehr viel mehr auf ihre Kinder achten (Stichwort: Helikoptereltern) und ihnen heutzutage aus einer gesteigerten Empfindlichkeit gegenüber Risiken Bewegungsraum nehmen. Sportstunden alleine machen nicht wett, was durch fehlenden Möglichkeiten zum Herumtoben, -laufen und Ausflüge, die ohne Aufsicht unternommen werden, an Bewegung versäumt wird.

Eine britische Grafik, die anzeigt, wie sehr sich der Bewegungsradius eines Urgroßvaters, der als achtjähriges Kind 1919 knapp zehn Kilometer weit zum Fischen gehen konnte - ohne Aufsicht -, von dem seines Urenkels, der unbeaufsichtigt gerade mal ein paar Hundert Meter alleine die Straße hinunterlaufen darf, ist zwar alles andere außer ein wissenschaftlicher Beweis.

Sie macht aber anschaulich, wie sich Kindheiten verändern und dass Eltern doch auch andere Möglichkeiten haben, als nur über Kontrolle zu agieren, was der Fall wäre, wenn sie einzig auf die Ernährung aufpassen. Diese Kontrollreichweite hört sowieso beim Kiosk auf, der neben der Schule steht.