Übergewicht und Substanzkonsum: Regierungen wünschen sich gesünderes Volk
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Die Niederlande schlossen 2018 einen "Nationalen Präventionsbeschluss". Jetzt zeigt sich: Übergewicht, Alkohol und Rauchen sind noch nicht zurückgegangen. Was brauchen wir für ein gutes Leben?
In einem kapitalistischen System geht es immer ums Geld: Kosten müssen runter, Gewinne müssen rauf. Das hat auch Auswirkungen aufs Gesundheitssystem, das inzwischen in vielen Ländern nach Marktprinzipien eingerichtet ist.
Dabei ist es nicht nur im Trend, mit technisch-medizinischen Innovationen, bürokratischen Kurzschlüssen wie den Fallpauschalen für Behandlungen und Druck auf das Personal die Kosten zu reduzieren. Auch die Bevölkerung soll sich gesünder verhalten, Stichwort "Prävention".
Die wissenschaftliche Forschung trägt ihren Teil dazu bei: Immer wieder heißt es beispielsweise, gefahrlosen Alkoholkonsum gebe es nicht, auch nicht bei geringen Mengen; oder man könne auch vom Passivrauchen schon sterben.
Dabei werden aber oft nur relative Risiken diskutiert, die nichts über das absolute Krankheitsrisiko aussagen. Stellen wir uns vor, dass von den Abstinenzlern 1 von 100 an einer bestimmten Krebsart stirbt – und von den Gewohnheitstrinkern (grob: Frauen im Schnitt ein Glas, Männer zwei Gläser pro Tag; idealerweise mindestens zwei Tage ohne Alkohol pro Woche) sterben 2 von 100 daran.
Dann hat sich die Wahrscheinlichkeit verdoppelt, stieg das relative Risiko also um 100 Prozent. Absolut gesehen erkranken aber 98 von 100, also 98 Prozent der Gewohnheitstrinker nicht. Das sollte man gegen den Nutzen von Substanzkonsum abwägen (Die Droge als Instrument). Zu den genauen wissenschaftlichen Daten ein anderes Mal mehr.
Nationaler Präventionsbeschluss
Bei der Bekanntgabe des "Nationalen Präventionsbeschlusses" verkündete der damalige Staatssekretär des niederländischen Gesundheitsministeriums: "Wir gönnen jedem Niederländer ein gesundes Leben." Dafür sollten die folgenden Ziele erreicht werden:
2040 sollen nur noch fünf Prozent der Bevölkerung rauchen. Dafür soll der Preis pro Päckchen spätestens im Jahr 2023 bei 10 Euro liegen. Die Zigaretten sollen, wie in Australien, in neutralen Packungen verkauft werden und in den Supermärkten aus dem Sichtfeld verschwinden. Automaten soll es keine mehr geben.
Erwachsene sollen ihren "problematischen" Alkoholkonsum reduzieren: Problematisch ist nach Sicht der niederländischen Regierung, wenn Frauen mehr als 14, Männer mehr als 21 Standardgläser Alkohol pro Woche trinken – oder mehr als vier beziehungsweise sechs bei einer Gelegenheit.
Um das zu erreichen, sollen Rabattaktionen für alkoholische Getränke eingeschränkt werden. (Im Sommer 2021 wurden per Gesetz Rabatte tatsächlich auf maximal 25 Prozent beschränkt.) Der Jugendschutz soll mit minderjährigen Testkäufern stärker kontrolliert werden. Und auf "sozialen" Medien oder bei Sportveranstaltungen soll es weniger Alkoholreklame geben.
Zur Gewichtsabnahme soll die Bevölkerung besser über gesunde Ernährung informiert werden. Trinkwasser soll an immer mehr öffentlichen Orten – wie Schulhöfen oder Bahnhöfen – frei verfügbar werden. Der Zuckergehalt in Getränken soll reduziert und Süßigkeiten sollen in geringeren Mengen verkauft werden. Auch soll das Angebot in Kantinen gesünder werden.
Ernüchterung 2021
Die jetzt für das Jahr 2021 vorliegenden Daten sind demgegenüber ernüchternd: So haben laut Daten des nationalen Statistikbüros immer noch so viele Niederländerinnen und Niederländer Übergewicht (Body-Mass-Index ab 25) wie im Jahr 2018, als der "Beschluss" verkündet wurde. Das betreffe immerhin die Hälfte(!) der Bevölkerung.
Die Anzahl der Raucher sei nur leicht zurückgegangen, von 22 auf 21 Prozent. Ebenso habe die Häufigkeit des problematischen Alkoholkonsums nur leicht abgenommen, während die Anzahl der schweren Trinker konstant geblieben sei.
Deutliche Unterschiede zeigen sich zwischen ärmeren und wohlhabenderen, sowie zwischen niedriger und höher gebildeten Menschen: So würden mit 31 Prozent doppelt so viele Menschen mit niedrigerem Einkommen zumindest gelegentlich rauchen wie jene mit höheren Einkünften.
Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Übergewicht: Das hätten ebenfalls eher ärmere und eher niedrig gebildete Menschen. Beim Alkoholkonsum sei es aber genau anders herum: Unter den wohlhabendsten Menschen befänden sich die meisten schweren Trinker.
Wenn man aber bedenkt, dass die Menschen in der Coronapandemie fast zwei Jahre lang durch verschiedene Schutzmaßnahmen und Lockdowns eingeschränkt wurden, dann kann man die Ergebnisse auch positiv werten. Übergewicht und Substanzkonsum hätten nämlich auch deutlich zunehmen können, so wie die verbrachte Zeit im Internet oder beim Computerspielen (Medien- und Drogenkonsum in der Coronapandemie).
Individuum oder Gesellschaft?
Diese Ergebnisse machen deutlich, dass Gesundheit, Substanz- und Drogenkonsum keine rein individuelle Entscheidung ist. Menschen konsumieren nämlich auch, um bestimmte Ziele zu erreichen oder bestimmte Probleme zu bewältigen (Die Droge als Instrument). Letzteres geht aber meist nur für eine bestimmte Zeit gut, wenn die Konsummengen steigen oder die ungelösten Probleme größer werden.
In einer kapitalistischen Gesellschaft gibt es hier natürlich einen Interessenkonflikt: Denn der Konsum führt einerseits zu höheren Gewinnen der Nahrungs- und Genussmittelindustrie – und die kleinen Niederlande sind sogar der größte Bierexporteur der Welt. Andererseits verdient der Staat an Besteuerung von Nahrungs-, Genussmitteln und der Unternehmensgewinne mit.
Zudem dürfte die Alkohol- und Zigaretten-Lobby gut vernetzt sein. Ein Verbot scheint mir darum eher als unwahrscheinlich. Außerdem nimmt der Konsum in vielen europäischen Ländern auch nicht zu oder langfristig sogar ab (Brauchen wir ein Alkoholverbot?).
Wenn die Hälfte der Bevölkerung als übergewichtig gilt oder zu viele Menschen – aus Sicht der Gesundheitspolitiker – problematische Mittel konsumieren, kann man die Prävention allein aufs Individuum abwiegeln: Mehr Prävention und Belohnungen für gutes, sowie Nachteile für schlechtes Verhalten.
Das ist Politik nach dem Prinzip "Belohnen und Strafen", wie es im frühen 20. Jahrhundert schon die Behavioristen im Sinn hatten. In der Psychologie nennt man es "instrumentelle Konditionierung". Etwas subtiler funktioniert das "Nudging" (englisch für "Anstupsen"), das Menschen die "richtige" Entscheidung einfacher machen will.
Der Fokus aufs Individuum entspricht dem neoliberalen Paradigma, Ziele von oben nach unten vorzugeben, die Verantwortung für das Erreichen dieser Ziele aber auf die unteren Ebenen abzuwiegeln. Da aber gleichzeitig Konsum, Gewinne und Steuern erhört werden sollen, kann man dieser Politik eine gewisse Doppelzüngigkeit vorwerfen (Die Doppelzüngigkeit der Gesundheitspolitik).