Überwachungsstaat Deutschland? Die RAF, Klette und die Zukunft der Privatsphäre

Demonstration einer Gesichtserkennungssoftware von 2014. Bild: Pete Woodhead, CC BY 2.0 Deed

Terrorfahndung und Gesichtserkennung: Polizei und CDU fordern mehr Befugnisse, Digitalrechtler wehren ab. Welchen Überwachungsstaat wollen wir?

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? Am 26. Februar haben Beamte des Landeskriminalamts Niedersachsen mit Unterstützung der Berliner Polizei im Stadtteil Kreuzberg das ehemalige RAF-Mitglied Daniela Klette festgenommen. Der Fall hat in den deutschen Medien breite Wellen geschlagen.

Auch Telepolis berichtete mehrfach darüber. Und schnitt dabei auch einen entscheidenden Aspekt an, dessen Tragweite in vielen übrigen Medien deutlich zu kurz kam.

"Um ein Haar" kam "KI" der Polizei zuvor

Am vergangenen Donnerstag eröffnete der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs Klettes Haftbefehl von 2018. In diesem wird der 65-Jährigen vorgeworfen, zwischen 1990 und 1993 an drei Anschlägen der Terrororganisation Rote Armee Fraktion (RAF) beteiligt gewesen zu sein.

Klette, die dem Ermittlungsrichter in ihrem Geburtsort Karlsruhe vorgeführt wurde, soll sich des versuchten Mordes in zwei Fällen schuldig gemacht haben. Hinzu kommen: mutmaßliche Mittäterschaft bei Schusswaffenanschlägen, einer Sprengstoffexplosion und eine Serie von Raubzügen.

Nun zu dem eingangs genannten entscheidenden Aspekt: Zwar war es letztlich ein Hinweis aus der Bevölkerung an das LKA Niedersachsen, der zur Ergreifung Klettes führte. Allerdings hatte der Journalist und rbb-Podcaster Khesrau Behroz Klette schon im Dezember "um ein Haar" ausfindig machen können, wie es in mehreren Medienberichten heißt.

Das übrigens in Zusammenarbeit mit einem Rechercheur des Portals Bellingcat, spezialisiert auf "Informationen, die jeder finden kann", gefördert unter anderem auch von der Europäischen Kommission.

Die zentrale Rolle der Gesichtserkennungssoftware ...

Die zentrale Rolle spielte dabei aber die datenschutzrechtlich bedenkliche Gesichtserkennungssoftware namens PimEyes, die Klettes Gesichtszüge auf einem Foto in einem Berliner Capoeira-Studio "wiedererkannte".

... und der Skandal im Skandal

Für einige Medien, darunter etwa das ZDF, beinhaltete die Erfassung von Klette deshalb gleichsam einen Skandal im Skandal.

Es war nicht der offenkundige, nämlich, dass die 65-Jährige rund 30 Jahre mitten in Deutschland unbehelligt untertauchen konnte. Sondern der, dass das Instrumentarium der Sicherheitsbehörden scheinbar nicht mit der technologischen Entwicklung schritthalten darf.

Das digitale Zivilrechts-Portal Netzpolitik hat diesen vermeintlich naheliegenden Schluss allerdings zuletzt als irreführend bezeichnet. Und vor seinen Implikationen gewarnt.

Law-and-order-Vertreter fordern mehr Überwachungstechnologie

In dem Kommentar "In welcher Welt wollen wir leben?" kritisieren die Redakteure Anna Biselli und Markus Reuter, dass der Einsatz der Facial-Recognition-Software PimEyes traditionelle Law-and-Order-Stimmen aus der deutschen Polizeigewerkschaft und der CDU wieder hat laut werden lassen.

Deren Forderungen nach "mehr KI" suggerierten, dass den Ermittlern kein ausreichendes technologisches Instrumentarium zur biometrischen Erfassung von Personen vorliege. Der Kommentar widerspricht dieser Darstellung ausdrücklich und liefert entsprechende Gegenbeispiele:

Leicht zu finden ist etwa das "Gesichtserkennungssystem" des Bundeskriminalamts, das es seit 2008 gibt. Damit kann die Polizei zwar nicht wahllos nach Gesichtern im Internet suchen, aber Bilder etwa mit Material von bekannten Straftäter:innen in ihrer eigenen Datenbank INPOL abgleichen.

In der INPOL-Datei waren Anfang 2023 immerhin 6,7 Millionen Bilder zu 4,6 Millionen Personen gespeichert. 2022 konnte die Bundespolizei mit ihrer Technik 2.853 unbekannte Personen identifizieren. Es laufen auch Tests dazu, wie die Polizei massenhafte Daten aus dem öffentlichen Raum effizienter nach Gesichtern scannen kann. All das fällt bei den aktuellen Forderungen unter den Tisch.

Netzpolitik

Hintertüren für biometrische Überwachung

Des Weiteren kommen die Netzpolitik-Autoren auf das "historische" (Digital-Kommissar Thierry Breton) KI-Gesetz (AI Act) der Europäischen Union zu sprechen, bei dem auch "Hintertüren für biometrische Überwachung" festgelegt wurden.

Aus Sicht der Opposition brechen die Ampel-Parteien damit ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag, das "Recht auf Anonymität sowohl im öffentlichen Raum als auch im Internet" zu sichern.

Wie zahlreiche andere Vertreter der digitalen Zivilrechtsbewegung, etwa die europäische NGO Reclaim your Face, hatte Netzpolitik zuvor mehrfach vor einem "Nummernschild im Gesicht" gewarnt, das die persönliche Freiheit unter Vorbehalt stelle und so den öffentlichen Raum zu einem potenziellen Panoptikum transformiere:

Es droht eine Zukunft, in der niemand mehr im Park sitzen oder sich durch die Stadt bewegen kann – ohne Gefahr zu laufen, dass Gesichtsbiometrie oder andere biometrische Daten permanent gerastert und abgeglichen werden. Das Gefühl, dass wir permanent beobachtet werden, wirkt sich auch auf andere sensible Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit aus. Die Technik wird Menschen Angst machen, gegen Regierungen zu protestieren, wenn klar ist, dass es theoretisch technisch möglich ist, per Knopfdruck Teilnehmer:innen-Listen solcher Proteste zu erstellen.

Netzpolitik

Zentralregister? Europas schmaler Grat zwischen Sicherheit und Privatsphäre

Diese Implikationen einer biometrischen Überwachung werden besonders deutlich, wenn sie im Zusammenspiel mit einer zentralisierten, digitalen Personendatenbank betrachtet werden. Dafür muss man wohl nicht länger nach China oder Indien schauen, wo solch ein flächendeckendes Zentralregister bereits etabliert ist

Die kürzlich beschlossene Verordnung der EU zur digitalen Brieftasche (eIDAS) birgt – trotz des Verzichts auf die hochumstrittene lebenslange Identifikationsnummer – noch immer einige Fallstricke in Bezug auf die anlasslose Massenüberwachung.

Parallel dazu ist die Chatkontrolle nach einer Modifikation des Gesetzentwurfs wieder – oder: noch immer – nicht vom Tisch. Netzpolitik hat am vergangenen Mittwoch die entsprechenden Verhandlungsdokumente dazu veröffentlicht.

Vorratsdatenspeicherung im öffentlichen Raum

Fragwürdigerweise ist es gerade die "Stadt des Rechts", aus der auch Daniela Klette stammt, die jene – sozusagen: – Vorratsdatenspeicherung im öffentlichen Raum ohne allzu große Bedenken voranbringen will, damit aber bislang noch regelmäßig scheitert. Über zwei dieser Projekte hat auch Netzpolitik bereits ausführlich berichtet.

So plante die Stadtverwaltung der badischen Stadt am Oberrhein 2021, in Zusammenarbeit mit dem Energiekonzern EnBW am zentral gelegenen und hoch frequentierten Europaplatz ein System automatisierter Videoüberwachung zu installieren.

Das System sollte mittels automatischer Verpixelung die Anonymität der gefilmten Personen garantieren und dazu dienen, im Falle unmittelbarer Gefahr die Polizei zu alarmieren. Personenbezogene Daten, so das Versprechen, würden nur im Falle eines Verbrechens einsehbar.

Doch der Karlsruher Gemeinderat lehnte damals ab. Auch deshalb, hieß es, weil das Kriminalitätsaufkommen an besagtem Platz zu gering sei, um eine solche polizeiliche Maßnahme zu rechtfertigen.

Vor kurzem scheiterte auch ein ähnlicher Vorstoß der CDU-Fraktion am Veto der Stadträte, einen weiteren Platz in der Karlsruher Südstadt – der oft auch von Trinkern, Drogensüchtigen und Obdachlosen angesteuert wird – mit demselben EnBW-System auszustatten.

Allerdings: Mit Hamburg und Mannheim haben sich bereits zwei deutsche Städte zu Pilotprojekten entschieden.