Ukraine: Generalstaatsanwalt leitet gegen Politiker Ermittlungen wegen Hochverrats ein

Oleg Sentsov 2015 während des Prozesses vor dem russischen Gericht. Bild: Antonymon/CC BY-SA-4.0

Eine Äußerung zum Filmemacher Sentsov reicht dafür bereits aus. Sentsov ist in russischer Haft in einen Hungerstreik eingetreten, auch die einstige ukrainische Nationalheldin Savchenko sitzt wegen Terrorverdacht im Gefängnis in Kiew

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Im Fall der Mordinszenierung von Babchenko hatten der ukrainische Generalstaatsanwalt Juri Lutsenko und der Geheimdienst SBU wohl in Absprache mit dem Präsidenten Poroschenko gerade vorgeführt, mit welchen Mitteln in der Ukraine gearbeitet wird. Zuvor war die Festnahme den ukrainisch-russischen Journalisten Kyrylo Vyshynsky von RIA Novosti Ukraine wegen Landesverrat erfolgt. Er soll kritische Informationen und Fake News im Auftrag von Moskau verbreitet haben. Im Westen wurde der Fall wenig beachtet, eine der wenigen Ausnahmen ist die OSZE, die monierte: "Der Kampf gegen Propaganda darf nicht internationale Maßstäbe missachten und keinen unangemessenen Eingriff in Medienaktivitäten darstellen."

Wie sehr der Generalstaatsanwalt Lutsenko politisch agiert, wurde gerade wieder im Fall Sentsov deutlich. Er leitete eine strafrechtliche Ermittlung gegen den Abgeordneten Yevhen Murayev, früher Partei der Regionen, dann Oppositionsblock, jetzt für die als pro-russisch geltende, linke Partei Za zhyttia (For Life) mit Parteichef Vadim Rabinovich, ein und beschuldigte ihn des Hochverrats und der Verbreitung von absichtlich falschen Informationen über ein Verbrechen. Angebliche Desinformation wird hier erneut zur Begründung einer Klage wegen Landesverrats, das scheint in der Ukraine Schule zu machen, zu hoffen ist, dass dies nicht um sich greift, um missliebige Positionen zu kriminalisieren.

Das "Verbrechen" von Murayev war, dass er in einem Interview für den Fernsehsender NewsOne, der ihm gehört, gesagt hatte: "Menschen können unterschiedliche Einstellungen zu Senstov haben. Aus der Perspektive der Tatsache, dass er Brand- und Bombenanschläge geplant hat, sehen ihn einige als einen Terroristen. Für diejenigen, die nationalistische Gefühle hegen, ist er wahrscheinlich ein Held. Die Zeit wird ergeben, wer richtig liegt und wer nicht."

Zudem verglich er kritisch Russland und die Ukraine, wo es auch nur um Sabotage, Subversion und Spionage gehe. Zu Senstov sagte er, er könne ihn weder als Terroristen verurteilen noch ihn rechtfertigen, weil er die Akten nicht kenne. Er erinnert auch an die vielen Menschen, die in Kiew im Gefängnis sitzen würden, weil sie Dissidenten seien: "Macht ist nicht an Menschen interessiert, und ihr Schicksal wird als Symbol gebraucht. Das Beispiel von Nadia Savchenko bestätigt das total." Alle, die in russischen Gefängnissen sitzen, sollten in die Ukraine kommen.

Gefordert wurde die Anklage vom Vorsitzenden des Ausschusses für nationale Sicherheit und Verteidigung, Sergej Pasinski, Mitglied der Volksfront. Sein Vorwurf war vor allem, dass Murayev damit "russische Propaganda" verbreitet habe. Es gehe neben Rechtsfrsagen dabei auch um "moralische und ethische Fragen". Und er sagte weiter: "Wie lange werden wir die offiziellen Verbreiter von russischer Propaganda auf unserem Boden noch dulden?" Murayev dürfe nicht mehr ins Parlament, bis er sich nicht bei Sentsov und dem ukrainischen Staat entschuldigt habe. Auch Vize-Fraktionsvorsitzender Andriy Teteruk griff den Vorwurf auf, um ein schärferes Vorgehen gegen Kremlpropaganda und Ukrainophobie zu fordern und den "Informationsraum" zu schützen.

Der Fall Oleg Sentsov

Präsident Poroschenko spricht gerne von "ukrainischen Geiseln", die in den "Volksrepubliken" im Gefängnis sitzen und von den "politischen Gefangenen" in Russland. Auch beim Treffen mit Bundespräsident Steinmeier am 29. Mai forderte die Freilassung der "ukrainischen Aktivisten und Freiwilligen", gemeint sind die Mitglieder von Milizen, und die der politischen Gefangenen auf der Krim und in Russland, die wie Oleg Sentsov, Roman Sushchenko oder Volodymyr Balukh nur im Gefängnis säßen, "weil sie sich geweigert haben, den ukrainischen Pass aufzugeben und die russische Staatsangehörigkeit zu akzeptieren".

Oleg Sentsov (Senzow) ist ein ukrainischer Filmemacher und Autor sowie ein Aktivist der Maidanbewegung. Festgenommen wurde er im Mai 2014 in Simferopol, der Hauptstadt der Krim. Die vom russischen Militär nach dem Putsch in Kiew kontrollierte Krim hatte sich nach dem eilig angesetztem Referendum von der Ukraine abgespalten und sich der Russischen Förderation angeschlossen, was im Westen in der Regel als Annexion betrachtet wird. Daher gilt Sentsov in Russland nun als russischer Bürger, auch wenn dies gegen seinen Willen geschehen ist.

Sentsov soll zusammen mit dem mitverhafteten Alexander Kolchenko und zwei weiteren ukrainischen Aktivisten im Februar den widerständigen oder auch nur von russischen Soldaten auf der Krim eingeschlossenen ukrainischen Soldaten Lebensmittel gebracht und ansonsten bei Protesten gegen die Abspaltung der Krim mitgewirkt haben. In Russland wurden die vier aber als Mitglieder des Rechten Sektors angeklagt und schließlich 2015 wegen Organisation einer terroristischen Vereinigung und Vorbereitung von Terroranschlägen verurteilt, weil sie Brandanschläge und einen Bombenanschlag auf ein Sowjetdenkmal geplant haben sollen. Beweise für die Mitgliedschaft beim Rechten Sektor soll es ebenso wenig geben wie für die Planung von Anschlägen, sagen Kritiker. Die Anklage stütze sich auf angeblich durch Folter erpresste Aussagen von Alexej Tschirni und Gennadi Afanassjew.

Amnesty International forderte am 6. Juni, ebenfalls wie Sentsov mit seinem Hungerstreik die Aufmerksamkeit wegen der Fußballweltmeisterschaft ausnutzend, die sofortige Freilassung. Er sei von einem russischen Gericht nach einem "weitgehend ungerechten Prozess aufgrund politisch motivierter Anklagen" verurteilt worden. Die Verurteilung basiere "auf 'Geständnissen', die unter Folter erhalten wurden".

Das Werfen eines Molotowcocktails auf ein Gebäude, in dem sich ein Büro von Einiges Russland befand, räumte Kolchenko ein, erklärte aber, das sei kein Terrorakt gewesen, weil es nachts gewesen sei und dann in dem Bürogebäude keine Menschen wären. Verteidiger von Sentsov sagen gerne, dass selbst dann, wenn er Feuer gelegt hätte, ja niemand dabei verletzt wurde. Angeblich waren Sentsov und Kolchenko in russischen Gefängnissen gefoltert und misshandelt worden, beide streiten die Vorwürfe ab. Sentsov wurde zu einer Gefängnisstrafe von 20 Jahren wegen Terrorismus verurteilt, Kolchenko zu einer von 10 Jahren.

Der Prozess wurde im Westen als Schauprozess verurteilt und die Freilassung des Filmemachers, der als politischer Gefangener gilt, immer wieder gefordert. Jetzt kurz vor der Fußballweltmeisterschaft ist Sentsov für alle ukrainischen Gefangenen in Russland, die als politisch gefangene gelten, in Hungerstreik getreten und wird entsprechend von der ukrainischen Regierung und manchen Medien als Held gefeiert. Sein Anwalt brachte von Sentsov einen handgeschriebene Erklärung aus dem Gefängnis:

Ich, Oleg Sentsov, ukranischer Staatsbürger, unrechtmäßig verurteilt von einem russischen Gericht, derzeit in Lagerhaft in der Kolonie Labytnangi, verkünde meinen unbefristeten Hungerstreik ab dem 14. Mai 2018. Die einzige Möglichkeit, diesen zu beenden, besteht in der Freilassung aller ukrainischen politischen Gefangenen, die sich auf dem Territorium der Russischen Föderation befinden. Gemeinsam bis zum Ende! Ruhm der Ukraine!

Das war einmal: Am 25. Mai 2016 überreichte Präsident Poroschenko Nadiya Savchenko den Orden "Goldener Stern des Helden der Ukraine". Bild: president.gov.ua

Fall Savchenko: Politische Instrumentalisierung von Gefangenen

Der Fall erinnert an eine frühere Nationalheldin der Ukraine, Nadiya Savchenko (Sawtschenko), die schnell von der Nationalheldin zum Bösewicht wurden, weil sie nicht dem Gut-Böse-Schema der ukrainischen Nationalisten gehorchte. Die Pilotin der ukrainischen Armee war Mitglied der Aidar-Miliz geworden und wurde von prorussischen Milizen im Juli 2014 gefangen genommen. Beschuldigte wurde sie von einem russischen Gericht, für den Tod von zwei russischen Journalisten mit verantwortlich zu sein. Ihr Fall wurde von der ukrainischen Regierung hochgespielt, sie zur Heldin erklärt, Präsident Poroschenko sah sie als Symbol für den Kampf der Ukraine". Im Gefängnis begann sie einen Hungerstreik, die EU und die USA verurteilten ihre Festnahme, ihr Verteidiger bezeichnete sie als "Kriegsgefangene". Über die Vaterlandspartei von Julia Timoschenko wurde sie noch als Gefangene in die Rada gewählt und zur Abgeordneten in der Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE).

Im März 2016 erklärte das Gericht die Jeanne d'Arc der Ukraine für schuldig, die Grenze nach Russland illegal überschritten zu haben, und für den Mord an den beiden russischen Journalisten, die sie in eine Falle gelockt haben soll (Teufel oder Nationalheldin?). Schon im April kam sie über einen Gefangenenaustausch wieder frei und erhielt in der Ukraine den Orden "Heldin der Ukraine".

Ende 2016 begann ihr Stern zu sinken, nachdem sich herausstellte, dass sie sich heimlich mit Vertretern der "Volksrepubliken" getroffen hatte, um einen Gefangenenaustausch zu organisieren (Ukrainische Helden-Ikone wird moskaukonform?). Sie wurde der Komplizenschaft mit dem Feind und Verabredungen mit Terroristen verdächtigt. Sie trat aus der Partei Vaterland aus und das Parlament entzog ihr Ende 2016 auch die Vertretung in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.

Sie gründete eine eigene Partei, setzte zunehmend auf Versöhnung mit den Separatisten, schlug die Anerkennung der Krim-Annexion als Möglichkeit vor, den Krieg im Donbass zu beenden, und hatte auch bei den Maidan-Morden eine nicht der offiziellen Version konforme Ansicht, indem sie Abgeordnete beschuldigte, seiner Zeit mitgewirkt zu haben (Maidanmorde: Aussagen weisen erneut auf Täter aus den eigenen Reihen). Und im März dieses Jahres wurde sie, nachdem ihr die parlamentarische Immunität entzogen wurde, inhaftiert, weil sie angeblich einen Terroranschlag auf das ukrainische Parlament geplant habe.

Auch hier spielte wie im Fall der Mordinszenierung von Babchenko der Generalstaatsanwalt Yuriy Lutsenko und der Geheimdienst SBU eine entscheidende Rolle. Nachdem sie angeblich durch einen Lügentest überführt wurde, klagt sie das Parlament wegen illegaler Aufhebung der Immunität an, verlangt einen zweiten Lügentest und beschuldigt den Geheimdienst, sie getäuscht zu haben. Und sie droht einmal wieder, in den Hungerstreik zu treten.

Der Fall ist mindestens so verworren wie der des Noch-Helden Sentsov und zeigt, dass sich die Ukraine und Russland gleichen, was die Verfolgung von vermeintlichen "Terroristen" angeht. Während aber Sentsov von westlichen Medien hochgespielt wird, findet das Schicksal von Savchenko kaum Beachtung, zumindest was das Vorgehen der ukrainischen Behörden betrifft. Ein Beispiel ist auch die Inhaftierung des ukrainisch-russischen Journalisten Kyrylo Vyshynsky von RIA Novosti Ukraine, der des Landesverrats beschuldig wird, was im Westen bezeichnenderweise kaum Resonanz fand (Ukraine im Informationskrieg: Bekämpfung von Propaganda durch Inhaftierung von Journalisten).