Ukraine: Geschichtsunterricht mit Beigeschmack

Der ukrainische Premierminister Arsenij Jazenjuk (Mitte) und Bildungsminister Serhiy Kwit (2. v.l.) wollen patriotische Gesinnungen bei Kindern und Jugendlichen über den Schulunterricht fördern. Bild: Ministerium für Bildung und Wissenschaft der Ukraine

In ukrainischen Lehrbüchern werden dunkle historische Kapitel aus patriotischen Gründen umgedeutet oder verschwiegen - Teil 1

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Schon seit der Unabhängigkeit 1991 steht die nationale Identitätsbildung im Fokus des ukrainischen Bildungssystems. Über das Schulwesen versuchten die Regierungen, Nationalstolz und Heimatliebe in den heranwachsenden Generationen zu verwurzeln. Die Mächtigen des Landes wollten vor allem eine durchgängige Nationalgeschichte vermitteln, um das neue Staatswesen und die eigenen Machtansprüche zu legitimieren. Dazu werden bis heute bestimmte Ereignisse zu Nationalmythen ausstaffiert, während unschöne Teile der Geschichte weggelassen werden.

Eine positive Identifikation mit dem Heimatland oder gar bedingungslosen Nationalstolz im Schulunterricht zu vermitteln, ist beileibe nichts spezifisch Ukrainisches. Weltweit ließen sich Beispiele hierfür finden. Auch in der Ukraine selbst ist dies keine Erfindung der jetzigen Regierung unter Premierminister Arsenij Jazenjuk. Patriotismus im Unterricht zu fördern, hat in der unabhängigen Ukraine Tradition - unter anderen Vorzeichen auch schon in der Ukrainischen Sowjetrepublik.

Die Ukraine als junges Staatswesen musste sich von Beginn an ihrer selbst vergewissern. So wurde bereits Anfang der 1990er Jahre das Fach "Ukrainekunde" (Ukrainosnawstwo) ins Schulsystem integriert. Es ist ausdrücklich Zweck dieses Unterrichts, patriotische Gefühle und Nationalbewusstsein der Schüler zu entwickeln. In dem Fach werden Mädchen und Jungen über die besondere ukrainische Mentalität und das "Ukrainertum als kosmischer Erscheinung" informiert.

In einigen der genutzten Lehrbücher wird bspw. die Entstehung der ukrainischen Nation auf den biblischen Urvater Noah zurückgeführt oder die ukrainische Sprache aus dem alt-indischen Sanskrit hergeleitet. An anderer Stelle wird behauptet, Menschen könnten keine zwei Muttersprachen haben. Die polnische Forscherin Magdalena Telus, die Ende der 1990er Jahre ein Schulbuchprojekt u.a. zu ukrainischen Lehrbüchern leitete, warnte damals vor "alarmierenden Tendenzen" in dem Fach.1

Ganz praktisch ausgerichteten Patriotismus gibt es für die Klassen Zehn und Elf im Fach "Nationalverteidigung" - eine Art militärische Grundausbildung in der Schule. Hier lernen Schüler technische Waffendaten und militärische Ränge auswendig, üben marschieren oder das Zerlegen und Zusammensetzen von Kalaschnikows. Auch dieses Unterrichtsfach gibt es in der Ukraine schon seit Jahrzehnten. Die derzeitige Regierung will die Schulstunden nun aber noch realitätsnäher gestalten, indem sie die Schüler von zurückgekehrten Kämpfern der "Anti-Terror-Operation" unterrichten lässt.2

Nationalstolz fördern

Die Regierung der politischen Maidansieger fördert und fordert Patriotismus im heimischen Bildungssystem nach Kräften. Kürzlich gründete das Kabinett eigens einen übergeordneten "Ausschuss für nationalpatriotische Erziehung", in dem Vertreter aus jedem Ministerium und zahlreichen Organisationen sitzen - unter anderem ein Kosakenhauptmann. Regierungschef Arsenij Jazenjuk würde diese Art der Erziehung am liebsten schon im Kindergarten beginnen lassen, wie die Frankfurter Allgemeine berichtete. Doch Jazenjuk und Bildungsminister Serhiy Kwit legen den Fokus besonders auf den Schulunterricht.

So hat das ukrainische Ministerium für Bildung und Wissenschaft (MON) vor wenigen Monaten "Leitlinien für staatliche-patriotische Erziehung" für ukrainische Schulen herausgegeben. Man könne im Unterricht doch Stickereien auf Nationaltrachten geometrisch analysieren, traditionelle Bauernhäusern besuchen oder über Volksbräuche sprechen, heißt es darin.

Allerdings finden sich diese genannten Empfehlungen nicht etwa in den Heimatkunde-Leitlinien, sondern in denen für Mathe und Fremdsprachen. Jedes Fach von Literatur bis Sport erhält in dem Papier ganz ähnliche Vorgaben.3

Geschichtsunterricht ist politisch

Besonders geeignet für die Stärkung des kindlich-jugendlichen Nationalbewusstseins ist der Geschichtsunterricht.4 Denn hier lässt sich nicht nur Heimatstolz direkt aus großen Leistungen nationaler Ahnen ableiten, das Fach hat auch das Potenzial, Menschen langfristig zu prägen. "Der Geschichtsunterricht ist die wichtigste Quelle für historische Interpretationen, aus denen junge Menschen schöpfen", erläutert Robert Maier vom Braunschweiger Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung gegenüber Telepolis. Kaum jemand befasse sich in späteren Jahren wieder so viele Stunden mit Geschichte, wie als Schüler im Unterricht.

In der Ukraine wird Geschichte in zwei Fächern unterrichtet: Weltgeschichte und Ukrainische Geschichte.5 Viele Lehrer und Lehrerinnen sehen es dabei schon traditionell als ihre Aufgabe, aus den Schülern loyale patriotische Staatsbürger zu machen. Der ganze Geschichtsunterricht an Schulen sei diesem Ziel untergeordnet, schreibt der Historiker Jaroslav Hrycak von der Ukrainischen Katholischen Universität in Lwiw.6

Besonders die Rolle der Lehrbücher ist dabei entscheidend. "In der Ukraine ist das Schulbuch noch sehr dominant im Geschichtsunterricht", erklärt Schulbuchforscher Maier. "Die Lehrer sehen das Buch weniger als Hilfsmittel, so wie in Deutschland, sondern sie sehen ihre Aufgabe darin, den Inhalt der Schulbücher in die Köpfe der Schüler zu transportieren."

Geschichtslehrbücher können als geprüfte und offiziell genehmigte Autobiografie eines Landes gelten.7 Dabei sind sie wohl nirgendwo frei von direkten oder indirekten politischen Einflüssen. Der US-amerikanische Historiker Charles Ingrao von der Purdue Universität bezeichnete Geschichtsschulbücher sogar als "weapons of mass instruction" (Waffen der Massenanleitung). Sie seien Teil eines breiten Legitimationsprozesses durch Eliten, um das bestehende Sozial- und Wirtschaftssystem sowie die eigene Herrschaft abzusichern. Dazu werden in Lehrbüchern bestimmte Teile der Nationalgeschichte idealisiert, während andere fast gänzlich ausgeblendet werden.

Bevor im zweiten Teil des Artikels von den Nationalmythen die Rede sein wird, soll es im Folgenden beispielhaft um zwei nur wenig betrachtete Teile der ukrainischen Nationalgeschichte und ihre Darstellung in dortigen Lehrbüchern gehen.

Der Mord an den Juden

Die Ukraine war einer der Haupt-Tatorte des gezielten Massenmords an europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg. Das ist heute sowohl in Deutschland als auch in der Ukraine nur wenig bekannt. Jedes vierte Opfer der Shoah, also 1,5 Millionen Juden, wurde während der deutschen Besatzung von 1941 bis 1944 auf ukrainischem Boden umgebracht. Dabei gab es dort gar keine Vernichtungslager. Die ukrainischen Juden wurden erschossen, ertränkt, totgeprügelt, lebendig begraben, eingemauert oder verbrannt.8 Die Nazis ließen jüdische Rotarmisten in Kriegsgefangenenlagern separat eingezäunt verhungern oder erfrieren. Zudem testete die SS erste Vergasungs-Wagen auch an ukrainischen Juden.

International bekannt ist eigentlich nur das Massaker von Babyn Jar (Russisch: Babij Jar) - einer Schlucht am damaligen Kiewer Stadtrand. Dort erschossen deutsche Soldaten und ukrainische Hilfstruppen9 kurz nach der Eroberung Kiews Ende September 1941 mehr als 33.000 jüdische Einwohner in nur zwei Tagen. Zehntausende weitere Menschen verschiedener Nationalitäten und Religionszugehörigkeiten wurden dort noch in den folgenden zwei Jahren umgebracht.

"Wir hörten in wechselnden Abständen Maschinengewehrgarben: ta-ta-ta, ta-ta…", schrieb der ukrainische Schriftsteller Anatolij Kusnezow, der als Zwölfjähriger im angrenzenden Bezirk Kureniwka wohnte. "Zwei Jahre lang hörte ich sie, Tag für Tag. Meine Ohren sind noch heute voll davon."10

Ein ganzes Land als Gräberfeld

Doch praktisch jede ukrainische Ortschaft hat ihr eigenes Babyn Jar, betont der jüdische ukrainische Historiker Boris Zabarko.11 Massenerschießungen von jüdischen Einwohnern gab es in so gut wie jedem ukrainischen Ort, den die deutsche Armee erreichte. Eine Ahnung davon verschafft eine interaktive Karte der Organisation "Yahad-In Unum", die nur die bislang entdeckten Exekutionsorte darstellt. Schätzungen gehen von 1500 bis 2000 solcher Massengräber im gesamten Land aus.12 Die Mehrzahl davon ist bis heute nicht markiert, geschweige denn mit Gedenksteinen gewürdigt.

Die Ukraine ist ein einziges Gräberland, schreibt der französische Pfarrer Patrick Desbois in seinem Buch "Der vergessene Holocaust".13

Ein riesiger Friedhof voller namenloser Grabstätten, in die Männer, Frauen und Kinder hineingeworfen wurden.

Desbois ermittelte durch mühsame Nachforschungen und gegen manch Widerstände vor Ort hunderte Massengräber in der gesamten Ukraine. Jahrelang war er dort mit einem kleinen Team herumgereist und hatte in Dörfern und Städten die wenigen noch lebenden Augenzeugen von damals befragt und mit ihrer Hilfe die Exekutionsplätze wieder aufgespürt. Viele ukrainische Zivilisten wurden damals von Deutschen gezwungen, sich indirekt an den Morden zu beteiligen.14 Es gab also zahllose Augenzeugen.

Nur wenige Zeilen in Lehrbüchern

Trotz der großen Zahl an einheimischen Zeugen und der ungeheuren Dimensionen dieses Massenmordes an jüdischen Einwohnern im ganzen Land taucht das Verbrechen im Geschichtsunterricht lediglich am Rande auf.15 "In ukrainischen Schulbüchern kommt die Shoah zwar vor, aber nur irgendwo in einem Nebensatz mit wenigen Zeilen", sagt der Hamburger Osteuropahistoriker Frank Golczewski gegenüber Telepolis.

Als Beispiel sei hier das Lehrbuch "Geschichte der Ukraine" (11. Klasse) von Fedir G. Turtschenko angeführt.16 Der Autor ist Historiker aber auch Regionalpolitiker von Julia Timoschenkos Vaterlandpartei. Sein 2011 erschienenes Lehrbuch wurde noch im selben Jahr vom ukrainischen Bildungsministerium empfohlen17 - und zwar als einziges Buch für Geschichts-Leistungskurse ("Profilnij Riwen"). Das Lehrbuch ist für das Fach Ukrainische Geschichte bestimmt und behandelt somit ausschließlich Geschehnisse in der Ukraine. Auf den 57 Seiten in denen es sich mit der Zeit von 1941 bis 1945 auseinandersetzt, wird der Holocaust jedoch explizit in gerademal sechseinhalb Zeilen abgehandelt. In diesem kurzen Abschnitt heißt es:

Innerhalb der 103 Wochen der Okkupation wurden jeden Dienstag und Freitag in Babyn Jar in Kiew Menschen verschiedener Nationalitäten erschossen, vor allem Juden. Die Massenvernichtung der Juden ist unter dem Namen ‚Holocaust‘ (‚vollständige Verbrennung‘) in die Geschichte eingegangen. Ein eigenes ‚Babyn Jar‘ gab es in jeder großen Stadt der Ukraine. Insgesamt sind in den ersten Monaten der Okkupation der Ukraine 850.000 Juden Opfer der Nazis geworden. Die Okkupation haben wenige überlebt. Ein Teil von ihnen verdankt das eigene Leben der einheimischen Bevölkerung - den ‚Gerechten unter den Völkern‘.

Nur in wenigen Zeilen auf dieser Seite des Lehrbuchs "Geschichte der Ukraine" (11. Klasse) von Fedir Grigorowitsch Turtschenko ist die Rede von der Massenvernichtung der jüdischen ukrainischen Bevölkerung. Bild: pidruchnyk.com.ua

Warum wird der gigantische Massenmord an Einwohnern des Landes in seriösen Lehrbüchern18 so nebenbei abgehandelt? Schon in der Sowjetunion war dies so, erläutert Golczewski. Damals habe es einen allgemeinen staatlichen Antisemitismus gegeben. Juden sollten keinen speziellen Opferstatus bekommen. Opfer hießen pauschal "friedliche Sowjetbürger". Zudem wollten die Machthaber keinen "Opferkult" um den Zweiten Weltkrieg sondern einen Heldenkult.

Bis heute herrscht in der Ukraine die Vorstellung einer jüdischen Nationalität, sagt der Professor für Osteuropäische Geschichte weiter. Vor allem das Leiden der nicht-jüdischen Ukrainer im Krieg sei das zentrale Anliegen in Geschichtsbüchern. Das damalige Leiden jüdischer Einwohner sei hingegen Nebensache. "Aus der Perspektive eines großen Teils heutiger ukrainischer Historiker ist das eine Angelegenheit der Juden."19

Es sei bitter und beschämend, schreibt der Historiker Boris Zabarko rückblickend, dass Forschungen zur Shoah etwa durch die Aufnahme von Zeugenberichten auf ukrainischem Gebiet nicht von einheimischen, sondern erst von ausländischen Forschern begonnen wurden. Inzwischen sind viele Zeugen verstorben. "Wir haben die Zeit versäumt, wir haben uns selbst bestohlen."20

Ukrainische Beteiligung am Massenmord der Nazis

Die Shoah wird aber aus einem weiteren Grund nur randständig behandelt. Es gab eben nicht nur ukrainische Retter21, Unbeteiligte und zwangsverpflichtete Zivilisten, sondern auch zahlreiche ukrainische Täter. Gerade das passt aber schlecht in einen Geschichtsunterricht, der eine positive Nationalidentität stärken soll.

"Die Deutschen hätten die Massenmorde ohne ukrainische Hilfskräfte kaum organisieren können", unterstreicht Frank Golczewski. Die Deutschen haben die brutalen Rahmenbedingungen gesetzt und sie haben auch meist geschossen. Aber ohne die unterstützenden Dienste ukrainischer Milizen, ukrainischer Schutzmannschaften (Hilfspolizei) und der einheimischen Verwaltung wären die Massenmorde so nicht möglich gewesen. In manchen Landkreisen habe es nur zwei oder drei Deutsche, dafür aber 300 ukrainische Hilfspolizisten gegeben.

In einigen Orten wie etwa dem westukrainischen Busk haben einheimische Schutzmannschaften auch selbst Erschießungen vorgenommen. Rund 1800 jüdische Opfer liegen hier in 17 Massengräbern.22

Es gab auch zahlreiche ukrainische "Trawniki-Männer" - Wachmannschaften die im ostpolnischen Lager Trawniki von der SS ausgebildet wurden. Auch diese "Hilfswilligen" waren an mörderischen Ghettoräumungen und Massenerschießungen in ukrainischen Wäldern beteiligt. Ebenso waren sie als Geleit von Transporten in Vernichtungslager und als Wachen der Lager eingesetzt.23 Der 2011 in München wegen Beihilfe zum Mord in tausenden Fällen verurteilte John (eigentlich Ivan) Demjanjuk ist wohl der bekannteste ukrainische Trawniki-Mann.

Nicht zu vergessen sind die nationalistischen Partisanen der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), die in den westukrainischen Wäldern tausende geflüchtete Juden aufspürten und umbrachten.24 Zur Judenfeindlichkeit der UPA gibt es jedoch Kontroversen unter Historikern, da in Reihen dieser Partisanen zumindest zwangsrekrutierte und für die UPA "nützliche" Juden wie Ärzte, Apotheker oder Schneider überlebten.

Antijüdische Pogrome

Zu Beginn der deutschen Besatzungszeit gab es in der Westukraine bis zu 140 Pogrome ukrainischer Zivilisten gegen Juden. Zum Teil hatten Aktivisten der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) die mörderischen Ausschreitungen angeheizt oder organisiert. Mitgemacht hatten Ukrainer aller Schichten, berichteten Überlebende.25 Die Deutschen duldeten die Lynchmorde auf offener Straße, einige fotografierten und filmten sie sogar. Die Bilder finden sich heute auch in Online-Archiven. Sie zeigen entsetzliche Hetzjagden und geschundene Menschen in Todesangst.

Lwiw 1941: Dieses Foto eines Wehrmachtssoldaten vom Innenhof des Brygidki-Gefängnisses zeigt höchstwahrscheinlich jüdische Opfer des Pogroms vom 30. Juni und 1. Juli 1941. Bild: Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes

Bis zu 30.000 Juden fielen den Pogromen der einheimischen Antisemiten in den Städten und Dörfern zum Opfer.26 Die größten Ausschreitungen gab es in Lwiw.27 Aus Sicht ukrainischer Nationalistenführer wie Stepan Bandera sollten die Morde der erste Schritt hin zu einer ethnisch homogenen Ukraine sein. Juden wurden in der Westukraine häufig als Bolschewiki oder Verbündete der Russen gesehen. Zudem speisten sich die Morde aus einem tief verwurzelten Judenhass der ostgalizischen Landbevölkerung. Selbst im Zusammenhang des Holocausts seien diese Lynchmorde unvergleichlich grausam gewesen, schreibt Boris Zabarko.28

In drei der vier zugelassenen Lehrbücher für ukrainische Geschichte wird zur Judenvernichtung durch die Deutschen nicht mal angedeutet, dass Ukrainer Mittäter bei diesem Verbrechen waren. In einem Buch immerhin, wird in einem Nebensatz erwähnt, dass auch Einheimische sich an den Morden der Nazis beteiligten.29 Von den Pogromen findet sich in keinem der Lehrbücher ein Wort. Genauso sieht es auch in anderen geschichts-offiziellen Darstellungen aus.30 Um Hinweise auf die Pogrome verschwinden zu lassen, manipulierte ein Museum in Lwiw sogar mit Photoshop.31

Gäbe es eine intensive Aufarbeitung des Holocausts in der Ukraine, so würden auch die eigenen Verstrickungen ans Licht kommen. Doch hierzu müssten sich auch bildungspolitische Vorgaben ändern. "Das pädagogische Ziel ist eben nicht die Aufarbeitung von Geschichte, sondern das Nationalbewusstsein zu stärken", erklärt Ukraine-Experte Frank Golczewski.

Der Massenmord an polnischen Zivilisten

Ganz ähnliches gilt für ein noch unbekannteres Kapitel des Zweiten Weltkriegs: der Massenmord an polnischen Zivilisten in den heute ukrainischen Gebieten Wolhynien und Galizien von 1943 bis 1944. Nachdem polnische Nationalisten 1942 bei Zamość ukrainische Zivilisten ermordet hatten, rächten sich die Partisanen der UPA in den folgenden Jahren grausam. Bei ihren ethnischen Säuberungen in Wolhynien und Galizien töteten sie 60.000 bis 100.000 polnische Einwohner. Ein systematischer Massenmord, wie der schwedische Historiker Per Anders Rudling schreibt.32

Die Polen in der Region waren vogelfrei. "Es wurden keine Gefangenen gemacht, sondern Männer, Frauen und Kinder auf zum Teil bestialische Weise umgebracht", betont Frank Golczewski. Wie bei den Judenpogromen ging es den ukrainischen Nationalisten auch hierbei um die Auslöschung nicht-ukrainischer Gruppen auf dem Gebiet eines zukünftigen ukrainischen Staates. Neben dem Massenmord wurde auch gut eine halbe Million Polen aus heute westukrainischen Gebieten vertrieben.

Schulbücher sprechen von "Tragödie"

Die Verbrechen waren während der Sowjetzeit tabuisiert. Aber selbst in den 24 Jahren seit der Unabhängigkeit gab es in der Ukraine wenig Interesse das Thema aufzuarbeiten. Während die Geschehnisse in Polen "Rzeź wołyńska" ("Wolhynisches Massaker") genannt werden, bezeichnet man sie in der Ukraine als "Wolhynische Tragödie"- also eine unglückliche Fügung, an der niemand Schuld hat. Auch in Schulbüchern taucht dieser Terminus auf. Genau wie beim Holocaust wird auch dieses Ereignis in wenigen Zeilen abgearbeitet. Im empfohlenen Lehrbuch heißt es hierzu lediglich:

Tragisch war das Verhältnis der UPA zu polnischen Militäreinheiten verschiedener politischer Richtungen, die in der Westukraine operierten. Ukrainer beschuldigten Polen, sich die Wiederherstellung Polens in dessen Vorkriegsgrenzen zu wünschen, die Polen sahen den Grund der Feindseligkeit in der Unnachgiebigkeit der Ukrainer. Opfer dieses politischen Antagonismus‘ war vor allem die friedliche Bevölkerung. Ein besonders dunkler Schatten auf den ukrainisch-polnischen Beziehungen während des Zweiten Weltkriegs liegt auf der Wolhynischen Tragödie - der Massenvernichtung der einheimischen polnischen und teilweise ukrainischen Bevölkerung dieser Region.

Schulbuchautor Turtschenko nennt weder Opferzahlen noch macht er deutlich, wer die Täter und was ihre Motive waren. Zudem erweckt er den falschen Eindruck, Polen und Ukrainer hätten im gleichen Umfang gemordet. Durch anonymisierte Passivsätze vermeidet der Autor, UPA-Kämpfer als Täter zu bezeichnen.

Nach neuesten Parlamentsbeschlüssen, ist es heute in der Ukraine strafbar, die UPA für Massaker zu beschuldigen, sagt Osteuropa-Fachmann Golczewski. "Das ist eine fatale Entwicklung und das Gegenteil von dem, was man als Angleichung an mittel- und westeuropäische Standards sehen kann."

Historische Lehren ziehen statt Verschweigen

In Deutschland hätte man inzwischen gelernt, dass die Einbeziehung negativer Seiten der eigenen Landesgeschichte keine Beschädigung der Nation zur Folge habe. Man müsse aus den dunklen Kapiteln seiner Geschichte Lehren ziehen, so der Historiker. Bei den ukrainischen Machteliten ist dies noch nicht angekommen. Alle bisherigen Regierungen - egal zu welcher politischen Fraktion sie gehörten - traten für eine unkritisch patriotische Sichtweise auf die Ukraine ein. Und alle ignorieren deshalb dieselben historischen Ereignisse.

Schulbuchforscher Rober Maier vom Georg-Eckert-Institut hat aber Hoffnung für die zukünftige Entwicklung. "Das ukrainische Bildungsministerium bekundet, dass es die Landesgeschichte als Teil der europäischen Geschichte gelehrt sehen will." Es gebe also keine streng nationalistische Isolierung, und die Bildungspolitik sei weiter offen für fortschrittliche westliche Entwicklungen.

Ein Lichtblick sind zudem ausgerechnet Schüler: Als im Juni und Juli mit Geld des Auswärtigen Amtes erste Mahnmale für ermordete Juden in der Westukraine eröffnet wurden, beteiligten sich laut Welt.de gerade Schüler aus der Region sehr engagiert. Sie zeigen Interesse und Einsatz für die Geschichte ihrer Heimat, auch wenn oder vielleicht gerade weil diese nicht unbefleckt ist. Die Jugendlichen beweisen damit mehr Reife im Umgang mit der Nationalgeschichte als die Machteliten ihres Landes.