Ukraine: Geschichtsunterricht mit Beigeschmack

Fussnoten

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Magdalena Telus: Zum Ertrag des Projekts "Die Geschichts- und Sozialkundebücher der GUS-Staaten im Spannungsfeld von nationaler Selbstvergewisserung und internationaler Orientierung", S. 117 ff.; in Geschichtsdidaktik in der GUS / History Didactic in the CIS. Internationale Schulbuchforschung, Jhg. 23, Heft 1 (2001). Es handelt sich um ein Projekt des Georg-Eckert-Instituts (GEI) für internationale Schulbuchforschung.

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Dies teilte das Ministerium für Bildung und Wissenschaft (MON) nach einer Sitzung zu den Lehrplänen des Fachs im April mit

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Das Dokument in ukrainischer Sprache findet sich als pdf-Datei auf der Website des MON

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Ein Unterrichtsfach Politische Bildung gibt es an ukrainischen Schulen nicht. Zum Teil werden aber politische Themengebiete im Fach "Mensch und Welt" (Ljudyna i Svit) behandelt

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Ukrainische Geschichte wird an den Schulen des Landes in der 10. Und 11. Klasse unterrichtet. Dies sind im ukrainischen Schulsystem die letzten beiden Schuljahre. Vorgesehen sind für das Fach laut Lehrplan für Grundkurse der 11. Klasse 52 Unterrichtsstunden pro Schuljahr und für Leistungskurse 140 Stunden

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Jaroslav Hrycak: Wie soll man nach 1991 die Geschichte der Ukraine unterrichten? In: Internationale Schulbuchforschung, Zeitschrift des Georg-Eckert-Instituts, 23. Jahrgang, 2001, Heft 1, Seite 15. Weiter schreibt Hrycak: "Meiner Meinung nach gibt es für den heutigen ukrainischen Historiker kein wichtigeres Ziel, als die ukrainische Identität neu zu definieren bzw. neu zu erschaffen. Die Geschichte sollte dem jungen Menschen eine Vorstellung davon liefern, in welcher Weise er mit der eigenen Gesellschaft und ihrer Vergangenheit verbunden bleibt und welche Folgen sich für ihn aus dieser Zugehörigkeit ergeben können." (20)

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Der Hamburger Geschichtsdidaktiker Bodo von Borries bezeichnete im Jahr 1999 bei einem Vortrag zur deutschen Holocaust-Darstellung historische Lehrbücher als offizielle, durch viele Instanzen geprüfte und in aufwendigem Verfahren autorisierte Nationalbiografien

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Boris Zabarko berichtet davon, dass in Dnipropetrowsk Juden lebendig in eine 13 bis 20 Meter tiefe Schlucht geworfen wurden. Im Donbass schmiss man sie in Kohleschächte, in Dörfern bei Cherson und Mykolajiw wurden sie in Brunnen gestoßen. Patrick Desbois schreibt über den Fall des Städtchens Sataniw, wo Nazis die jüdischen Einwohner in einem Keller unter dem Marktplatz eingemauert hatten. Vier Tage lang hätten die Eingesperrten versucht zu entkommen. Die ukrainischen Einwohner öffneten die Keller erst 1954. In Steinbrüchen Odessas und Alabastergruben in Artemivsk gab es ebenfalls Einmauerungen. Oft wurden Juden in Synagogen oder Ställen zusammengetrieben und lebendig verbrannt. Selbst Flugblätter der Wehrmacht für die sowjetischen Streitkräfte forderten Rotarmisten zum gezielten Mord an "jüdischen Politkommissaren" auf

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Dabei handelte es sich um zwei Polizei-Bataillone und die OUN-Einheit "Bukowiner Kurin". Zusammen waren das 1200 Mann ukrainische Truppen und 300 Deutsche. (Roman Danyluk: Freiheit und Gerechtigkeit. Die Geschichte der Ukraine aus libertärer Sicht, S. 143; Lich 2010)

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Anatolij Kusnezow: Babij Jar. Die Schlucht des Leids, S. 21 (München 2001, Original London 1970)

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Boris Zabarko: Die letzte Generation der Überlebenden in der Ukraine, S. 385; in Babette Quinkert, Jörg Morré (Hg.): Deutsche Besatzung in der Sowjetunion 1941 - 1944 (Paderborn 2014). Der Autor überlebte die Shoah als Kind im jüdischen Ghetto der ukrainischen Stadt Scharhorod

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Der katholische Priester und Shoah-Forscher Patrick Desbois geht von insgesamt rund 1500 jüdischen Massengräbern aus. Anatolij Podolski, Direktor des ukrainischen Zentrums für Holocauststudien in Kiew schätzt die Zahl der unentdeckten bzw. nicht ausreichend markierten Exekutionsstätten in der Ukraine laut Welt.de auf 2000. Allein im Wald von Lissinitschi bei Lwiw gibt es mindestens 47 Massengräber

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Patrick Desbois: Der vergessene Holocaust. Die Ermordung der ukrainischen Juden. Eine Spurensuche, S. 234 (Berlin 2009)

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Ukrainer sollten u.a. etwa, Gräber schaufeln und nach den Morden wieder zuschütten. Sie sollten während der Massaker laut auf Töpfe schlagen oder Instrumente spielen, um die Schüsse zu übertönen. Sie sollten Leichen in den Massengräbern feststampfen und Kleidung oder andere Habseligkeiten der Juden für den weiteren Gebrauch reparieren. Schließlich sollte die ukrainische Zivilbevölkerung die deutschen Mörder oftmals mit Alkohol und Essen bewirten und gefangene Juden bis zu deren Ermordung bewachen

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Im Lehrplan für das Fach Ukrainische Geschichte sind für Grundkurse ("Standardnij Riwen") insgesamt sieben Unterrichtsstunden zum Thema Zweiter Weltkrieg vorgesehen. In den Leistungskursen sind es maximal 14 Stunden. Der Holocaust in der Ukraine verschwindet innerhalb dessen unter zahlreichen anderen Themen wie vielen Schlachten, der Evakuierung, den Ostarbeitern, den Partisanenkämpfen etc.

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Dieses und drei weitere zugelassene Lehrbücher für den Grundkurs im Fach Geschichte der Ukraine (11. Klasse) sind auf dieser ukrainischen Website durch Klick auf das jeweilige Titelbild online einsehbar

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Damals war Viktor Janukowitsch Präsident der Ukraine. Den Posten des Bildungsministers hatte er mit seinem Vertrauten Dmytro Tabachnyk besetzt. Die Empfehlung des Buches gilt auch heute noch unter dem nationalistisch ausgerichteten Bildungsminister Serhiy Kwit. Da das Lehrbuch als einziges für Geschichtsleistungskurse empfohlen wird, ist es damit als qualitativ am höchsten stehendes Lehrbuch für Ukrainische Geschichte einzuordnen

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Der Holocaust wird auch in den drei anderen zugelassenen Lehrbüchern für Ukrainische Geschichte nur in wenigen Sätzen abgehandelt. Aber bspw. auch im Wikipedia-Eintrag zur Geschichte der Ukraine fehlt jeglicher Hinweis auf den gezielten Judenmord der Nazis in dem Land während des Zweiten Weltkrieges. Zu Ereignissen wie den anti-jüdischen Pogromen 1941 in Lwiw gibt es nicht mal einen ukrainisch-sprachigen Eintrag in der Online-Enzyklopädie

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Die Judenvernichtung ist bis heute eine "abstrakte und fremde Begebenheit" für die meisten Ukrainer, bestätigt auch die ukrainische Politikwissenschaftlerin Ludmila Lutz Auras. Siehe: Ludmial Lutz Auras: Zwischen Stolz und Missbilligung. Der Zweite Weltkrieg in der Erinnerungspolitik der Russländischen Föderation und der Ukraine; S. 209. In: Yves Bizeul (Hg.): Rekonstruktion des Nationalmythos? (Göttingen 2013)

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Schwierig wird es, wenn Forscher partout keine Forschung zur Shoah betreiben wollen, selbst wenn sie mit der Nase darauf gestoßen werden: Im Jahr 2011 entdeckten ukrainische Archäologen bei Ausgrabungen in der Kleinstadt Wolodymyr-Wolinskij ein Massengrab mit Erschießungsopfern. Hartnäckig blieben sie während der Untersuchungen bei der Theorie, dass es sich bei den Opfern um polnische Offiziere und Polizisten handeln müsse, die vom sowjetischen NKWD ermordet wurden. Dabei sprachen Indizien wie deutsche Patronenhülsen oder die große Zahl der Leichen von Frauen und Kindern in dem Massengrab klar für einen Mord der Nazis an Juden, berichtete der kanadisch-ukrainische Politikwissenschaftler Ivan Katchanovski. 2012 mussten sich die Forscher schließlich eingestehen, dass es sich um jüdische Opfer der SS-Einsatzgruppe C handelt

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Der israelische Ehrentitel "Gerechter unter den Völkern" für Menschen, die Juden im Zweiten Weltkrieg vor dem Tode retteten, wurde knapp 2500 Ukrainern verliehen. Da es sich hierbei nur um bezeugte Rettungsaktionen handelt, ist davon auszugehen, dass es noch viele weitere Ukrainer gab, die Juden vor der Ermordung bewahrten

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Patrick Desbois berichtet, dass es sich dabei vor allem um Frauen und Kinder handelt, die sich verstecken konnten als der Großteil der Busker Ghetto-Bewohner ins Vernichtungslager Belzec (Ostpolen) deportiert wurde. Später wurden die Frauen und Kinder in Busk doch gefunden und erschossen. Auf den Massengräbern hätten vor der Öffnung durch die Experten Kühe und Gänse geweidet. Die Nachforschungen seien besonders wegen des Desinteresses der Dorfbewohner beschwerlich gewesen, schreibt Desbois. Bei den forensischen Untersuchungen hätten die Grabstellen nachts bewacht werden müssen. Viele Dorfbewohner hätten gefragt, ob bei den jüdischen Leichen Gold gefunden wurde. (S. 232 f.)

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In dem Dokumentarfilm "Shoah" (1985) des französischen Regisseurs Claude Lanzmann sprechen polnische Augenzeugen im Dorf Treblinka immer wieder von Ukrainern, die das Vernichtungslager bewachten und wahllos in Waggons feuerten, in denen ankommende Juden eingesperrt waren. Beim Lageraufstand 1943 feuerten die ukrainischen SS-Hilfstruppen in die Menge, erzählte der Überlebende Oscar Berger. Auch in den Vernichtungslagern Belzec und Sobibor waren ukrainische Trawniki-Männer im Einsatz

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Roman Danyluk: Freiheit und Gerechtigkeit. Die Geschichte der Ukraine aus libertärer Sicht, S. 146; Lich 2010

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Ein Text des Historikers Grzegorz Rossolinski-Liebe (Der Verlauf und die Täter des Lemberger Pogroms vom Sommer 1941. Zum aktuellen Stand der Forschung.) zeigt den derzeitigen Forschungsstand zu den Pogromen

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Boris Zabarko: Die letzte Generation der Überlebenden in der Ukraine, S. 385; in Babette Quinkert, Jörg Morré (Hg.): Deutsche Besatzung in der Sowjetunion 1941 - 1944 (Paderborn 2014). Zabarko geht in diesem Text von 25.000 bis 30.000 Todesopfern der westukrainischen Pogrome aus. Der Holocaustforscher Dieter Pohl schätzt, dass es bis zu 35.000 jüdische Opfer gegeben haben könnte, wobei er sich aber auf ältere Studien stützt, die nur rund die Hälfte der inzwischen bekannten Pogrome einbezogen

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Der erste von mehreren Pogromen in Lwiw im Sommer 1941 begann nach dem deutschen Einmarsch Ende Juni. Nachdem sowjetische NKWD-Einheiten kurz vor dem Abzug knapp 3000 Gefängnisinsassen ermordet hatten. Zwangen ukrainische und deutsche Soldaten jüdische Einwohner, die Leichen herauszutragen. Soldaten und Zivilisten bezeichneten die Juden als Verbündete der geflohenen Kommunisten und machten sie für die Toten verantwortlich. Aktivisten der OUN-Fraktion des Nationalisten-Führers Stepan Bandera und das ukrainische Wehrmachtsbataillon "Nachtigall" trieben jüdische Einwohner der Stadt in den Gefängnissen zusammen, quälten und ermordeten sie. Zahlreiche ukrainische und auch einige polnische Zivilisten unterstützten sie dabei. Auf den Straßen schlugen sie mit Knüppeln und Fäusten auf jüdische Lemberger ein, rissen ihnen die Kleider vom Leib, zwangen sie zu demütigenden Handlungen, raubten sie aus, plünderten Wohnungen, warfen Juden aus Fenstern und traten Schwangeren in die Bäuche. Tausende Juden wurden von Ukrainern in Lwiw totgeprügelt oder erschossen. Der polnisch-jüdische Überlebende Moritz Grünbart schilderte 1960 in einem Erlebnisbericht, wie ukrainische Soldaten in deutschen Uniformen und Einheimische zusammenarbeiteten. Auch in einem Text des Historikers Grzegorz Rossolinski-Liebe werden zahlreiche grausame Einzelfälle beleuchtet.

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So sind denn auch Eklats bei Gedenkveranstaltungen wie kürzlich im nordwestukrainischen Bakhiv (Wolhynien) nicht verwunderlich. Ein pensionierter Lehrer beschwerte sich dort über die Inschrift einer vom deutschen Auswärtigen Amt finanzierten Gedenkstätte für jüdische Mordopfer. Die Inschrift spricht davon, dass "jüdisches Leben durch die deutschen Besatzer und ihre untergeordneten örtlichen Stelle ausgelöscht" wurde. Die Morde hätten allein die Deutschen begangen, protestierte der Lehrer laut Welt.de

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Geschichte der Ukraine (Autoren: Strukewitsch, Romanjuk, Drowosjuk), S. 35/36

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Das ukrainische Institut für Nationales Gedenken hat diese englischsprachige Broschüre zum Thema "Ukraine im Zweiten Weltkrieg" herausgegeben. Auch hier nimmt der Holocaust wenig Raum ein. Ukrainische Täter kommen in dem Dokument gar nicht vor. Ukrainischen Rettern wird hingegen eine ganze Seite eingeräumt. Generell werden ukrainische Truppen wie die SS-Division "Galizien" und andere Einheiten, die an der Seite der Nazis kämpften, verschwiegen. Zudem werden die 100.000 nationalistischen UPA-Partisanen zu den Alliierten gerechnet, obwohl sie vor allem gegen sowjetische und polnische Partisanen kämpften

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Der schwedische Historiker Per Anders Rudling berichtet darüber, dass im Lonsky-Museum in Lwiw ein großformatiges Ausstellungsbild manipuliert wurde. Das Museum befasst sich mit sowjetischen Gräueltaten. Auf einem Bild, das kurz nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aus der Stadt 1941 aufgenommen wurde, ist eine traumatisierte Ukrainerin zu sehen, die im Lonsky-Gefängnishof unter Mordopfern des sowjetischen NKWD einen toten Angehörigen entdeckt hat. Auf dem überarbeiteten Ausstellungsbild wird die Frau bildlich hervorgehoben, daneben wurden Statistiken des stalinistischen Terrors platziert. Manipulativ ist das Foto, weil diese Maßnahmen die im Hintergrund stehenden verängstigten jüdischen Einwohner Lwiws verdeckt bzw. diese mit Photoshop entfernt wurden. Die Juden wurden damals von Nazis und der OUN-Miliz für die Morde verantwortlich gemacht und gezwungen, die Leichen der NKWD-Opfer vorgeblich zur Identifikation herauszutragen. Kurz darauf wurden sie bei den Pogromen umgebracht oder von SS-Einsatzgruppen erschossen

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Per Anders Rudling: Memories of "Holodomor" and National Socialism in Ukrainian political culture. In: Yves Bizeul (Hg.): Rekonstruktion des Nationalmythos? (Göttingen 2013) Manch polnische Wissenschaftler schätzen die Todesopfer auf bis zu 300.000

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