Ukraine-Krieg: Ein 145-Millionen-Land gegen ein 33-Millionen-Land

Moral reicht nicht. Was die Ukraine für einen militärischen Erfolg gegen Russland braucht und wie sich Europa langfristig entscheiden muss. Interview mit dem österreichischen Oberst Markus Reisner, Teil 2.

Wenn die Berichte richtig sind, dann hat es die Ukraine noch nicht geschafft, die erste Verteidigungslinie zu durchbrechen. Es gibt dort einen Einbruch, der erste Panzergraben ist überwunden und die erste Drachenzahn-Linie, aber die gesamte erste Linie konnte bisher nicht durchbrochen werden. Und wenn, dann gäbe es ja eine zweite, eine dritte, eine vierte, und sie bauen noch neue. Ist dieser Konflikt überhaupt für die Ukraine militärisch zu gewinnen?

Markus Reisner: Hier liegt die Tücke im Detail. Das, was die Ukraine geschafft hat, sie hat die sogenannte Gefechtsvorpostenlinie durchbrochen. Sie steht jetzt in der ersten Hauptverteidigungslinie und hat hier an zwei Stellen einen Fuß in die Türe bekommen. Ich habe das immer verglichen mit einem Einfamilienhaus.

Teil 1 des Interviews: "Die Ukraine hat in den letzten Monaten auch immer wieder Erfolge erzielt"

Die Ukraine hat es geschafft, durch den Vorgarten zu kommen und hat jetzt einen Fuß in der geöffneten Haustüre. Und die Russen stehen dahinter und halten dagegen, während die Ukrainer hineindrängen. Das Dilemma ist, niemand weiß, wie viele Innenräume hat dieses Haus, wie viele Türen hat es und wie viele Russen befinden sich in dem Haus. Und man muss auf die Terrasse, in den Garten bis zum Swimmingpool, zum Asowschen Meer.

Das ist ein weiter Weg. Das Narrativ ändert sich auch gerade, man sagt jetzt, dass es gar nicht notwendig sei, zum Asowschen Meer durchzustoßen, es würde ja reichen, wenn wir einen Einbruchsraum haben, aus dem heraus man wichtige Nachschublinien der Russen mit beispielsweise dem Himars-System bewirken kann.

Das stimmt natürlich, aber es ist natürlich etwas anderes, als wenn ich physisch diesen Raum im Besitz habe, dann können sie wirklich die Versorgung unterbrechen.

Was es für den Erfolg braucht

Viele Experten haben vorausgesagt, dass die Russen im nächsten Monat zusammenbrechen, ich wäre da allerdings sehr vorsichtig. Am 4. Juni, am Beginn der Offensive, haben viele gedacht, dass wenn man wesentliche Elemente des Kampfes der verbundenen Waffen ignoriert oder einfach weglässt, dass der Erfolg dann alleine durch die Moral erreichbar ist.

Und hier haben wir wieder mal gesehen, dass das natürlich falsch ist. Entweder sie haben alle Teile, die das Militär zu dem macht, was es ist, wie eine Uhr mit ihren verschiedenen Bestandteilen, oder es fehlen signifikante Teile, und die können diesen Erfolg nicht erreichen. Wie die Uhr nicht exakt die Zeit anzeigen kann, wenn ihr ein Sekunden-, Minuten- oder gar Stundenzeiger fehlt.

Sehen sie denn tatsächlich, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann?

Markus Reisner: Die Ukraine kann diesen Krieg im Sinne der Wiederinbesitznahme der besetzten Gebiete dann gewinnen, wenn der Westen die Ukraine weiter massiv unterstützt. Wenn der Westen das nicht tut, ist die Ukraine selbstständig nicht in der Lage, den Krieg in der Form weiterzuführen.

Markus Reisner ist ein von Medien viel gefragter Militärexperte. Er hat praktische Erfahrung: Reisner war fast ein Jahrzehnt bei österreichischen Spezialkräften (Jagdkommando) tätig. Im Rang eines Oberst des Bundesheers ist er Kommandant der Garde. Zugleich arbeitet er als Historiker und ist Vorstandsmitglied des Clausewitz Netzwerks für Strategische Studien.

Würde das dann aber nicht bedeuten, dass wir bei einem totalen Krieg wären?

Markus Reisner: Es gibt aus meiner Sicht nur zwei Varianten, die man durchdenken kann: Das eine ist, man geht All-in, dazu müssten dann aber jede Woche mehrere voll beladene Militärzüge in die Ukraine fahren.

Und das zweite ist, man gesteht sich ein, dass man das nicht kann, zum Beispiel aus der nicht vorhandenen Bereitschaft, die eigene Industrie voll hochzufahren und dem Verzicht auf Sozialleistungen, die man einsparen müsste, weil man Kriegsanleihen zeichnen müsste.

Dann müsste man aber damit anfangen, das auch wirklich langsam zu kommunizieren, denn sonst bleibt der Krieg, was er jetzt ist, und das ist ein elendes Fegefeuer, bei dem es zu keinem Ergebnis kommt.

Die Nato

Würde das auch bedeuten, dass sich die Nato mit eigenen Truppen engagieren müsste?

Markus Reisner: Das können sie aus meiner Sicht völlig ausschließen zurzeit, weil das die rote Linie vieler Nato-Staaten ist. Dazu sind sie nicht bereit.

Das können sie auch ihren Bevölkerungen nicht zumuten. Man tut alles, um der Ukraine unterstützend zur Seite zu stehen, aber das Kernelement, das liefern wir nicht, und das ist die Anzahl der verfügbaren Soldaten.

Hier drängt sich natürlich schon die Frage auf: ein 145-Millionen-Land gegen ein 33-Millionen-Land, wenn man die Geflüchteten herausrechnet, wie lange geht sich das praktisch aus?

Die Eskalationsspirale

Sie sprechen öfter darüber, dass man einen symmetrischen Zustand asymmetrisch macht oder umgekehrt und meinen damit, dass man wieder ein militärisches Gleichgewicht ins Ungleichgewicht bringt und umgekehrt. Dazu machen Sie eine Handbewegung, bei der zwei Ebenen von einer tieferen Ebene zu einer höheren kommen und so fort.
Aber es geht dann immer nach oben. Es ist letztendlich ein Prozess, der eine nach oben gerichtete Eskalationsspirale darstellt. Sehen Sie als Militär nicht auch die Gefahr, dass eine Kriegspartei ab irgendeinem Punkt mit taktischen Atomwaffen anfängt?

Markus Reisner: Nun, das ist der Grund, warum die USA genau diese Strategie verfolgen, die ich Ihnen eben erklärt habe. Weil sie versuchen, so moderiert und überlegt vorzugehen, dass eben das genau nicht passiert.

Sie versuchen den Russen damit zu sagen, seht her, es bringt nichts. Hört auf damit. Kommt wieder zur Räson. Wir können nicht akzeptieren, dass die internationale Rechtsordnung nicht mehr gilt. Wenn das Schule macht, dann gerät die Welt aus den Fugen.

Aber diese Schule ist ja im Prinzip die US-amerikanische Schule. Deshalb kündigen die Länder des Globalen Südens dem kollektiven Westen ja auch die Gefolgschaft.

Markus Reisner: Das kann man den USA aber nicht vorwerfen. Das ist eine Supermacht, und sie projizieren Macht. Natürlich gibt es vor allem amerikanische Interessen in Europa und keine europäischen. Hier sind aber nicht die Amerikaner schuld aus meiner Sicht, sondern es sind die Europäer schuld. Die Europäer lassen es zu, dass Politik über ihre Köpfe gemacht wird.

Wir haben ja auch gut damit gelebt bis jetzt. Wenn jemand wie Emmanuel Macron sagt, er möchte eine strategische Autonomie haben, dann wird er sofort in die Schranken verwiesen. In Wirklichkeit hat er völlig recht: Wir Europäer müssen endlich einmal beginnen, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Das kann in einer Partnerschaft mit den USA sein, und in einem Verhältnis auf Augenhöhe mit anderen Staaten wie China, Russland oder Indien oder ähnlichen, aber es immer geschehen zu lassen, das ist zu wenig, und das sehen wir hier.

Dieser vor sich hin köchelnde Konflikt in Europa, im Zentrum Europas, von Deutschland ist die Ukraine nur durch ein Land getrennt, das sind also unsere mittelbaren Nachbarn, davon profitiert natürlich die USA in ungeheurem Maße, wirtschaftlich und geostrategisch – Europa zerlegt sich gerade selbst.

Markus Reisner: Ja, das stimmt. Aber das unterstellt den Amerikanern natürlich eine sehr hohe Strategiefähigkeit. Das Problem ist, dass die Amerikaner zunehmend auch ein Koloss auf tönernen Füßen sind. Warum? Weil dieser Konflikt gezeigt hat, dass wir zum Übergang in die multipolare Welt sind.

Wir schauen zwar alle in die Ukraine, haben aber vergessen, dass der Westen mittlerweile in Afrika einige Länder verloren haben. Es geht hier um Interessengebiete, Interessensphären, und viele afrikanischen Länder sagen mittlerweile, dass sie ihre Interessen selbst in die Hand nehmen.

Die Welt ist nicht so einfach einzuteilen, wie wir das glauben. Wir stehen vor globalen Herausforderungen. Und wir verstehen nicht, was gerade hier passiert. Wir glauben, das sind Dinge, die irgendwann vorbeigehen, das wird schon gut gehen.

Ich hoffe bei Gott und als Vater von drei Kindern, dass es nicht eskaliert, sondern dass sich alles zum Guten wendet.