Ukraine-Krieg: Russische Übermacht im Donbass

Gezeichneter Panzer über der Karte der Ukraine. Donbass hervorgehoben.

Strategisch wichtiger Vorstoß: Russische Armee überwindet Siwerskyj-Donez-Donbass-Kanal. Was das für die ukrainische Verteidigung bedeutet. Einschätzung

Russischen Truppen ist offenbar ein Durchbruch in Tschassiw Jar gelungen. Dort sollen russische Pioniere nach Angaben des Telegram-Kanals Suriyak den Siwerskyj-Donez-Donbass-Kanal überwunden haben und die am westlichen Kanalufer befindlichen Verteidigungsstellungen überrannt haben – und das auf einer breiten Front von knapp zwei Kilometern Länge.

Ende April, Anfang Mai ahnte man in deutschen Medien bereits, dass die Situation für die Verteidiger nicht gut aussieht. So hieß es in einem Lagebericht zu Tschassiw Jar, dass die Ukraine Hoffnungen auf "starkes Geländehindernis" setze. Die Frage lautete, wie und wo wollen die Verteidiger die russische Übermacht aufhalten?

Bedeutender Durchbruch

Der aktuelle Durchbruch ist bedeutend, weil sich russische Truppen demnach jetzt innerhalb der eigentlichen Stadt Tschassiw Jar befinden, nachdem es der russischen Führung zuletzt gelungen ist, den sogenannten Mikrodistrikt einzunehmen, der östlich des Kanals situiert ist.

Damit hat jetzt der Häuserkampf um die Stadt begonnen.

Tschassiw Jar ist eine auf einer Anhöhe gelegen Stadt, die von strategischer Bedeutung ist. Von dort aus lässt sich das weite Umland dominieren, zudem ist die Stadt zu einer Festung ausgebaut.

Russische Truppen sind geübt im urbanen Häuserkampf. Mit der vergleichsweise neuen Taktik des Einsatzes von schweren Gleitbomben, über die auf Telepolis fortwährend berichtet wird, hat Russland eine Methode gefunden, auch starke ukrainische Festungsanlagen zu knacken.

Deshalb verheißt das Überschreiten des Siwerskyj-Donez-Donbass-Kanal durch russische Truppen nichts Gutes für die Armee der Ukraine.

Angriff auf breiter Front

Der Angriff scheint auf breiter Front erfolgt zu sein, sowohl aus dem an den Kanal angrenzenden Wald als auch aus dem Mikrodistrikt. In nördlicher Richtung wird der Siwerskyj-Donez-Donbass-Kanal durch Pumpstationen über einen Hügel geführt, was für die Verteidigung ungünstig ist.

Diese Führung des Kanals über Pumpstationen finden wir auch im Süden der Stadt, dort sind die Verteidigungsstellungen der Ukraine schon seit einiger Zeit unter Kontrolle der russischen Armee.

Das Problem der Reserven

Vor dem Durchbruch nach Tschassiw Jar hatten sich russische Truppen in den vergangenen Wochen erfolgreich mit der Einnahme von Kalinina um die Flankensicherung im Norden bemüht. Die ukrainische Führung wird jetzt wahrscheinlich gezwungen sein, Reserven zuführen – die sie nicht hat. Das könnte bedeuten, dass sich die Führung in Kiew entschließen muss, Truppen an anderen Frontabschnitten herauszulösen.

Das wiederum könnte die russische Führung zu weiteren Offensiven in den von ukrainischen Truppen entblößten Frontabschnitten verleiten. Darin sieht ein neuer Artikel in der britischen Times eine neue russische Taktik:

Die Russen haben ihre Taktik dahingehend geändert, dass sie intelligenter kämpfen und schwächere Einheiten angreifen, die die ukrainischen Linien halten, anstatt sich auf schwächere Befestigungen zu konzentrieren.

Times

Die Armeen der Ukraine sind erschöpft, ausgelaugt, übermüdet, die ukrainische Führung hat scheinbar weiterhin Schwierigkeiten, auch nur ihre eigenen Verluste durch neu mobilisierte Soldaten auszugleichen.

"Neue Rekruten finden"

Das schreibt der britische Guardian in einem aktuellen Interview mit Oleksandr Syrskyj, dem Oberkommandierenden der Streitkräfte der Ukraine:

Eine der größten Herausforderungen für Syrskyi ist es, neue Rekruten zu finden, die die gefallenen und verletzten ukrainischen Soldaten ersetzen. Diejenigen, die in den Schützengräben kämpfen, sind erschöpft. Der patriotische Eifer, der viele im Frühjahr 2022 dazu veranlasste, sich freiwillig zu melden, ist abgeflaut. Die Regierung hat kürzlich das Wehrpflichtalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt.

Guardian

Dagegen würde die Truppenstärke Russlands in der Ukraine weiter anwachsen, so Syrskyj:

Die ursprünglich 100.000 Mann starke Invasionstruppe sei auf 520.000 Mann angewachsen, mit dem Ziel, bis Ende 2024 auf 690.000 Mann zu kommen, sagte er. Die Zahlen für die Ukraine sind nicht veröffentlicht worden.

Guardian

Das nächste Ziel der russischen Armee

Und mit diesen Truppen rückt die russische Armee auch anderen Ortes weiter vor, hier besonders im Donbass, und hier besonders nordwestlich von Awdijiwka. Pokrowsk scheint dort das Ziel des Vorstoßes zu sein, ein Ziel, von dem die russischen Truppen nur noch 17 Kilometer Luftlinie entfernt sind.

Pokrowsk ist ein wichtiger Logistik-Knotenpunkt für die ukrainische Armee. Von dort aus laufen etliche Nachschubrouten zu den einzelnen Frontabschnitten im Donbass.

Die Armee des Angreifers arbeitet sich von Otscheretyne kommend den Bahndamm entlang vor. Zuletzt konnte man mit Prohres, das etwa fünf Kilometer westlich an der Bahnstrecke liegt, ein weiteres Dorf einnehmen.

Dabei gehen die russischen Truppen systematisch vor und erweitern jeweils entlang des Bahndammes die Flanken. Bis Pokrowsk müssten die russischen Truppen zahlreiche Verteidigungsstellungen überwinden, das Gebiet ist stark befestigt.

Wie ist der Vormarsch zu stoppen?

So kommen die Truppen zwar nur langsam voran, aber kontinuierlich. Aus ukrainischer Sicht besonders bedenklich ist die Tatsache, dass genau in diesem Abschnitt zwei ukrainische Eliteeinheiten den russischen Vormarsch nicht stoppen können: die legendäre 47ste Mechanisierte Brigade und die 110te Mechanisierte Brigade.

Beides bewährte, kampfstarke Eliteverbände – doch sie können die russischen Truppen offensichtlich nicht daran hindern, weiter vorzumarschieren.

Ungünstig für die ukrainischen Verteidiger scheint der relativ breite Waldstreifen zu sein, der sich auf beiden Seiten nahezu entlang der gesamten Bahnstrecke bis nach Pokrowsk zieht. In seinem Schutz rücken die russischen Angreifer vor. Von diesem Waldstreifen gehen in südlicher und nördlicher Richtung weitere, dichte Waldstreifen ab, an denen die russischen Truppen wiederum vorrücken können.

Zudem umgehen die Moskauer Truppen zahlreiche nach Osten gerichtete Verteidigungsstellungen, indem sie den Bahndamm für ihren Vormarsch nutzen. Auf diese Weise gelingt es den russischen Soldaten, Verteidigungsstellungen einzunehmen, in dem sie diese von einer schwächer ausgebauten Richtung oder von hinten angreifen können.

Das Vorgehen ist dennoch vergleichsweise langsam, von Durchbrüchen kann man hier nicht sprechen, es ist ein behutsames Vorrücken und ein sich Abarbeiten an den ukrainischen Verteidigungen. Russland scheint hier eine größere Anzahl an Truppen zusammengezogen zu haben, hier ist es allerdings schwierig, genaue Zahlen zu finden.

In der Region könnten aber bis zu 50.000 Soldaten stationiert sein, wenn man das ukrainische Portal Militaryland zu Rate zieht.

Nachschubwege und andere strategische Ziele

Bedrohlich für die Ukraine ist besonders, dass russische Truppen in absehbarer Zeit die Autobahn T0504 zwischen Pokrowsk und Kostjantyniwka unterbrechen könnten. Über diese Straße läuft ein Teil des Nachschubs für Tschassiw Jar.

Russische Truppen konnten sich in den vergangenen Tagen nach der Einnahme von Novooleksandrivka bis kurz vor Vozdvyzhenka heranarbeiten, bleiben dort aber noch an einer Verteidigungsstellung hängen. Vozdvyzhenka liegt nur noch vier Kilometer von der wichtigen Autobahn entfernt.

Als ein weiterer Schwerpunkt der russischen Angriffsbemühungen kristallisiert sich immer mehr die Einnahme der ehemaligen Bergarbeiterstadt Wuhledar heraus. Im Gegensatz zu den erfolglosen Versuchen der Vergangenheit wird nun offensichtlich versucht, die einzige noch in die Stadt führende durchgehend asphaltierte Straße, die O0532, zu erobern, und zwar an mehreren Abschnitten.

Die für Wuhledar wichtige Nachschubverbindung führt nordöstlich ins benachbarte, rund 15 Kilometer entfernte Kostyantynivka. Dieses Dorf haben russische Truppen jetzt angegriffen, und zwar mit einer ungewöhnlich großen Gruppe an gepanzerten Fahrzeugen.

Molekularisierung der Truppenstärke

Das rüstungsindustrienahe (siehe etwa Raytheon und General Dynamics) US-Think-Tank Institute for the Study of War (ISW) berichtet am 25.07. von einem Angriff in Bataillons-Größe:

Geolokalisierte Aufnahmen, die am 24. Juli veröffentlicht wurden, zeigen, dass die ukrainischen Streitkräfte einen russischen mechanisierten Angriff in der Nähe von Kostjantyniwka (südwestlich von Donezk) in der Größe eines verstärkten Bataillons gestoppt haben, nachdem die russischen Streitkräfte bis an den südöstlichen Rand der Siedlung vorgedrungen waren.

Eine ukrainische Brigade, die in Richtung Kurakhove operierte, berichtete, dass die russischen Streitkräfte im Morgengrauen des 24. Juli gleichzeitig mit 11 Panzern, 45 gepanzerten Kampffahrzeugen, einem seltenen "Terminator"-Kampfpanzer (von dem Russland Berichten zufolge bis Dezember 2023 nur 23 Exemplare hergestellt hat), 12 Motorrädern und etwa 200 Personen aus verschiedenen taktischen Richtungen angriffen.

Institute for the Study of War (ISW)

Das veröffentlichte Videomaterial lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass der Angriff abgewehrt wurde, denn nur wenige Kampffahrzeuge scheinen getroffen worden zu sein und einen Rückzug kann man auf dem Videomaterial nicht sehen. Anscheinend wurde das Operationsziel des russischen Angriffes erreicht, denn angeblich konnten sich russische Spitzen im südöstlichsten Zipfels des Dorfes festsetzen.

Die russische Führung führt in der Regel keine Angriffe in Bataillons-Stärke durch, sondern setzt auf Stoßtrupps in Zuggröße, maximal also 60 Mann, meist noch weniger Personal. Was man jetzt vielmehr beobachten kann, ist oft ein Angriff von nur zwei Soldaten auf Motorrädern.

Im Bereich der Angriffstaktik ist also eine Molekularisierung der Truppenstärke zu beobachten. Der Einsatz von Motorrädern zeigt keinen Mangel an Panzerfahrzeugen, wie das einige Kommentatoren annehmen, sondern ein Wechsel in der Operationsführung, die Geschwindigkeit über Schutz favorisiert.

Im oben bereits erwähnten Interview des Guardian mit dem Oberkommandierenden der Streitkräfte der Ukraine, Oleksandr Syrskyj, behauptet dieser, dass sich die Zahl der russischen Panzer sogar verdoppelt hätte:

"Wenn es um die Ausrüstung geht, besteht ein Verhältnis von 1:2 oder 1:3 zu ihren Gunsten", sagte er. Seit 2022 hat sich die Zahl der russischen Panzer "verdoppelt" - von 1.700 auf 3.500. Die Zahl der Artilleriesysteme hat sich verdreifacht, und die Zahl der gepanzerten Mannschaftstransporter ist von 4.500 auf 8.900 gestiegen. "Der Feind hat einen erheblichen Vorteil in Bezug auf Stärke und Ressourcen", sagte Syrskyi. "Deshalb steht für uns die Frage der Versorgung, die Frage der Qualität, wirklich im Vordergrund."

Guardian

Über die Präzision der Aussagen Syrskyjs lässt sich nur spekulieren, er könnte aus politischen Gründen die Lage der russischen Rüstung besser darstellen, als sie tatsächlich ist, um mehr Rüstungsgüter aus Nato-Ländern zu erhalten.

Doch systematische Unterschätzung und anscheinend bewusste Fehleinschätzungen des russischen Rüstungsstandes haben in der Vergangenheit zu großen militärischen Fehlern aufseiten der Nato geführt, die die Boden-Truppen der Ukraine mit großen Opfern bezahlen mussten.

Es ist also davon auszugehen, dass Russland über genügend gepanzerte Fahrzeuge verfügt, um in Zukunft größere Militäroperationen in der Ukraine durchführen zu können, derzeit aber nicht bereit ist, die unweigerlich höheren Verluste und Risiken in Kauf zu nehmen, die eine größere Operation mit sich bringen würde.

Der oben erwähnte Bericht des Institute for the Study of War (ISW) gibt auch tatsächlich weiter an, dass russische Angriffe mit 200 Soldaten sehr selten seien. Damit widerspricht das ISW sich selbst in seinem immer wieder kolportierten Gerede von angeblichen "Meat Assaults", bei denen Massen russischer Soldaten in sinnlosen Angriffen von ukrainischen Verteidigern sinnlos niedergemäht werden würden.