Ukraine-Krieg: Warum wollen die USA keinen Verhandlungsfrieden?

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Unser Autor plädiert für Dialog zur Beendigung des Ukraine-Krieges. Ablehnung von Friedensverhandlungen werde nur weiteren Tod bringen. Ein Plädoyer. (Teil 1)

Zum fünften Mal seit 2008 hat Russland jetzt vorgeschlagen, mit den USA über Sicherheitsvereinbarungen zu verhandeln, dieses Mal mit Vorschlägen, die Präsident Wladimir Putin am 14. Juni 2024 unterbreitet hat.

Viermal zuvor haben die USA bereits ein Verhandlungsangebot abgelehnt, zugunsten der Strategie der US-Neokonservativen, deren Ziel die andauernde Schwächung oder sogar Zerstückelung Russlands durch Krieg und verdeckte Operationen ist.

Die Neokonservativen sind damit aber katastrophal gescheitert. Ihre Strategie hat zur Verwüstung der Ukraine geführt und die ganze Welt in Gefahr gebracht. Nach all der Kriegstreiberei ist es an der Zeit, dass Biden Friedensverhandlungen mit Russland beginnt.

Im zweiten Teil dieses Textes beschreibt Jeffrey Sachs, wie Russland im März 2022 kurz vor einem Friedensabkommen standen, nachdem der ukrainische Präsident Wladimir Selenskyj der von Russland geforderten Neutralität der Ukraine zugestimmt hatte. Doch die Verhandlungen seien abrupt abgebrochen worden, angeblich nach einem Besuch des britischen Premierministers Boris Johnson, der Selenskyj davon überzeugte, dass ein militärischer Sieg über Russland möglich sei. Sachs ist bekannter Kritiker der US-Politik in dieser Frage, seine Thesen werden kontrovers diskutiert.

US-Plan: Russland dauerhaft schwächen und zerstückeln

Seit dem Ende des Kalten Krieges besteht die grundlegende Strategie der USA darin, Russland schwächen zu wollen. Bereits 1992 meinte der damalige Verteidigungsminister Richard Cheney, dass nach dem Untergang der Sowjetunion 1991 auch Russland zerstückelt werden sollte.

Jeffrey David Sachs ist ein US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Columbia University.

Zbigniew Brzezinski vertrat 1997 die Ansicht, dass Russland in drei lose konföderierte Einheiten in Russisch-Europa, Sibirien und dem Fernen Osten aufgeteilt werden sollte.

1999 bombardierte das von den USA geführte Nato-Bündnis 78 Tage lang das mit Russland verbündete Serbien, um auch dieses Land aufzuteilen und eine riesige Nato-Militärbasis im abgespaltenen Kosovo zu errichten.

Die Führer des militärisch-industriellen Komplexes der USA unterstützten lautstark den Tschetschenienkrieg, der in den frühen 2000er-Jahren gegen Russland geführt wurde.

Um die US-Angriffe auf Russland abzusichern, trieb Washington die Nato-Erweiterung aggressiv voran, obwohl Michail Gorbatschow und Boris Jelzin versprochen worden war, dass sich die Nato keinen Zentimeter über Deutschland hinaus nach Osten ausweiten würde.

Am stärksten drängten die USA auf die Nato-Erweiterung um die Ukraine und Georgien, weil sie von der Vorstellung besessen waren, die russische Marineflotte in Sewastopol und auf der Krim mit den Nato-Staaten Ukraine, Rumänien (Nato-Mitglied seit 2004), Bulgarien (Nato-Mitglied seit 2004), Türkei (Nato-Mitglied seit 1952) und Georgien vollständig einzukreisen.

Das war eine Idee, die direkt aus dem Drehbuch des britischen Empire im Krimkrieg des 19. Jahrhunderts (1853 bis 1856) stammte.

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Brzezinski entwarf im Jahr 1997 eine mögliche Chronologie der Nato-Erweiterung, zu der eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine in den Jahren 2005 bis 2010 gehören sollte. Dementsprechend schlugen die USA auf dem Nato-Gipfel von Bukarest 2008 die Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens vor.

Bis 2020 hat sich die Nato tatsächlich um genau 14 Länder in Mitteleuropa, Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion erweitert. Das sind die Tschechische Republik, Ungarn und Polen im Jahre 1999, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien 2004, Albanien und Kroatien 2009, Montenegro 2017 und Nordmazedonien 2020. Der Ukraine und Georgien war 2008 eine künftige Mitgliedschaft versprochen worden.

Kurz gesagt, das 30-jährige US-Projekt, das ursprünglich von Cheney und den Neokonservativen in Gang gesetzt wurde und seitdem vom Westen konsequent verfolgt wird, besteht darin, Russland zu schwächen und sogar zu zerstückeln, Russland mit Nato-Truppen zu umzingeln und Russland in ihrer Propaganda zugleich als eine besonders kriegerische Macht darzustellen.

Russland: Sicherheitsvereinbarungen das Ziel

Vor diesem düsteren Hintergrund hat die russische Führung wiederholt vorgeschlagen, Sicherheitsvereinbarungen mit Europa und den USA auszuhandeln, die allen betroffenen Ländern, nicht nur dem Nato-Block, Sicherheit bieten würden.

Geleitet vom neokonservativen Spielplan haben sich die USA jedoch bei jeder Gelegenheit geweigert, zu verhandeln, während sie versuchten, Russland die Schuld für das Fehlen von Vereinbarungen auf diesem Gebiet in die Schuhe zu schieben.

So schlug im Juni 2008 der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew, als sich die USA gerade darauf vorbereiteten, die Nato in die Ukraine und nach Georgien auszudehnen, einen Europäischen Sicherheitsvertrag vor, in dem er eine Vereinbarung über kollektive Sicherheit in Europa und ein Ende des "Unilateralismus" der Nato forderte. (Darunter versteht man "Einseitigkeit" im Handeln eines Staates nur im eigenen Interesse ohne Rücksicht auf die Interessen anderer.)

Leider haben die USA schon damals keinerlei Interesse an Russlands Vorschlägen gezeigt und verfolgten stattdessen ihre langgehegten Pläne für die Nato-Erweiterung weiter.

Der gewaltsame Maidan-Putsch 2014

Der zweite russische Verhandlungsvorschlag kam von Putin nach dem gewaltsamen Sturz des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch im Februar 2014, der unter der aktiven Komplizenschaft, wenn nicht sogar unter vollständiger Leitung der US-Regierung, abgelaufen ist.

Ich habe diese Komplizenschaft der USA 2014 zufällig aus nächster Nähe miterleben können, als mich die Regierung nach dem Putsch zu dringenden Wirtschaftsgesprächen eingeladen hatte. Als ich in Kiew ankam, wurde ich zum Maidan gebracht, wo ich direkt über die US-Finanzierung der Maidan-Proteste informiert wurde.

Die Beweise für die Komplizenschaft der USA bei dem Putsch sind überwältigend.

Die stellvertretende Außenministerin Victoria Nuland war im Januar 2014 dabei ertappt worden, wie sie in einem Telefongespräch den Regierungswechsel in der Ukraine vorbereitete.

In der Zwischenzeit reisten US-Senatoren persönlich nach Kiew, um die Proteste anzuheizen (Ein vergleichbarer Fall wäre geschehen, wenn chinesische oder russische Politiker am 6. Januar 2021 nach Washington gekommen wären, um die Menge dort beim Sturm auf das Kapitol aufzuhetzen).

Am 21. Februar 2014 handelten die Europäer, die USA und Russland ein Abkommen mit Janukowitsch aus, in dem dieser vorgezogenen Wahlen zustimmte.

Doch die Putschisten brachen das Abkommen noch am selben Tag, besetzten Regierungsgebäude, drohten mit weiterer Gewalt und setzten Janukowitsch am nächsten Tag ab.

Die USA unterstützten den Putsch und erkannten die neue Regierung sofort an.

64 verdeckte Regimewechsel-Operationen seit 1947

Meiner Ansicht nach handelte es sich beim Maidan-Putsch um eine von der CIA durchgeführte verdeckte Operation zum Regimewechsel, von denen es mehrere Dutzende überall auf der Welt gegeben hat. Darunter waren 64 einzelne Episoden zwischen 1947 und 1989, die von Professor Lindsey O'Rourke akribisch dokumentiert worden sind.

Verdeckte Regimewechsel-Operationen sind natürlich in vielen Fällen nicht vollständig vor der Öffentlichkeit zu verbergen, aber die US-Regierung leugnet dann entschieden ihre Rolle dabei, hält alle Dokumente streng vertraulich und täuscht die Welt systematisch nach dem Motto: "Glauben Sie nicht, was Sie mit Ihren eigenen Augen sehen können! Die USA jedenfalls haben damit nichts zu tun."

Details kommen langsam ans Licht

Details dieser Operationen kommen jedoch schließlich durch Augenzeugen, Whistleblower, erzwungene Veröffentlichung von Dokumenten nach dem Freedom of Information Act, Freigabe von Dokumenten nach Jahren oder Jahrzehnten und auch durch Memoiren ans Licht, aber alles kommt natürlich meist viel zu spät für eine echte Rechenschaftspflicht in die Öffentlichkeit.

Auf jeden Fall führte der gewaltsame Maidan-Putsch 2014 in der ethnisch-russischen Donbass-Region in der Ostukraine zum Bruch mit den Putschisten in Kiew, von denen viele extrem russophobe Nationalisten waren, darunter einige gewalttätige Gruppen mit Verbindungen zur Nazi-SS in der Vergangenheit.

Folgen des Maidan

Unmittelbar nach ihrer Machtübernahme unternahmen die Putschisten erste Schritte, um den Gebrauch der russischen Sprache auch im russischsprachigen Donbass zu unterbinden.

In den folgenden Monaten und Jahren startete die Regierung in Kiew dann eine Militärkampagne zur gewaltsamen Rückeroberung der abtrünnigen Gebiete und setzte dabei neonazistische paramilitärische Einheiten zusammen mit US-Waffen ein.

Abkommen von Minsk: vom Westen nicht umgesetzt

Im Laufe des Jahres 2014 rief Putin wiederholt zu einem Verhandlungsfrieden auf, der im Februar 2015 zum Minsk-II-Abkommen führte, das auf der Autonomie des Donbass und einem Ende der Gewalt auf beiden Seiten basierte.

Russland beanspruchte in diesem Abkommen nicht den Donbass als russisches Territorium, sondern forderte stattdessen Autonomie und den Schutz ethnischer Russen innerhalb der Ukraine. Der UN-Sicherheitsrat billigte das Minsk-II-Abkommen, aber die US-Neokonservativen untergruben es heimlich.

Jahre später platzte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Wahrheit heraus. Die westliche Seite behandelte das Abkommen nicht als einen zu respektierenden völkerrechtlich-gültigen Vertrag, der umzusetzen war, sondern griffen zu einer Verzögerungstaktik, um der Ukraine "Zeit zu verschaffen".

In der Zwischenzeit starben zwischen 2014 und 2021 rund 14.000 Menschen bei den Kämpfen im Donbass.

Weiterer Verhandlungsvorschlag Russlands im Dezember 2021

Nach dem endgültigen Scheitern des Minsk-II-Abkommens schlug Putin im Dezember 2021 erneut Verhandlungen mit den USA vor. Die dort zu behandelnden Themen gingen sogar über eine Nato-Erweiterung hinaus und umfassten grundlegende Fragen der atomaren Bewaffnung.

Die US-Neokonservativen hatten in den letzten Jahrzehnten schrittweise die nuklearen Rüstungskontrollvereinbarungen mit Russland zerstört, wobei die USA 2002 einseitig den ABM-Vertrag über die Abwehr ballistischer Raketen aufkündigten, ab 2010 Aegis-Raketen in Polen und Rumänien stationierten und 2019 sogar aus dem INF-Vertrag ausstiegen.

Angesichts dieser gefährlichen Entwicklungen legte Putin am 15. Dezember 2021 einen Entwurf für einen "Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Russischen Föderation über Sicherheitsgarantien" auf den Tisch.

Als Sofortmaßnahme wurde im Artikel 4 dieses Vertragsentwurfs vorgeschlagen, dass die USA den Versuch aufgeben sollten, die Nato auf die Ukraine auszudehnen.

Ende 2021 rief ich deshalb den Nationalen Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, an, um zu versuchen, das Weiße Haus unter Biden davon zu überzeugen, in diese Verhandlungen einzutreten. Mein wichtigster Rat war, einen Krieg in der Ukraine zu vermeiden, indem man die Neutralität der Ukraine akzeptiert, anstatt die Nato-Mitgliedschaft weiter anzustreben, die für Russland eine leuchtend rote Linie darstellte.

Das Weiße Haus wies aber meinen Rat umgehend zurück und behauptete in bemerkenswert unsinniger Weise, dass die Erweiterung der Nato um die Ukraine Russland gar nichts angehe! Doch hier muss man sich die Fragen stellen: Was würden die USA sagen, wenn ein Land in der westlichen Hemisphäre beschließen würde, chinesische oder russische Stützpunkte zu beherbergen?

Würden das Weiße Haus, das Außenministerium oder der Kongress sagen: "Das ist in Ordnung, das ist nur eine Angelegenheit, die Russland oder China und das Gastgeberland betrifft?"

Nein, das würde natürlich so nicht geschehen. Erinnern wir uns: Die Welt kam 1962 beinahe zu einem nuklearen Armageddon, als die Sowjetunion Atomraketen auf Kuba stationiert hatte und die USA eine Marinequarantäne verhängten und mit Krieg drohten, wenn die Russen die Raketen nicht abzögen.

Daraus folgt für mich: Das US-Militärbündnis, die Nato, gehört genauso wenig in die Ukraine, wie russisches oder chinesisches Militär in die Nähe der US-Grenzen gehört.


Redaktionelle Anmerkung: In einer früheren Version diese Übersetzung wurde Zbigniew Brzezinski als "eingefleischter Russlandhasser" bezeichnet. Dabei handelte es sich um eine freie Zufügung, die im Original nicht enthalten ist. Der Einschub wurde entfernt. Die Arbeitsweise bei Übersetzungen dieses Autors wurde so geändert, dass fortan eine stärkere redaktionelle Kontrolle gewährleistet ist.

Der vorliegende Artikel von Jeffrey D. Sachs mit dem Titel "Why Won't the US Help Negotiate a Peaceful End to the War in Ukraine? For goodness' sake, negotiate!" (deutsch: "Warum führen die USA keine Verhandlungen über ein friedliches Ende des Krieges in der Ukraine? Um Himmels willen, verhandelt!") erschien am 19. Juni 2024 auf der US-Website Common Dreams (Fußnote 18). Dieser Text wurde mit Erlaubnis des Autors von Klaus-Dieter Kolenda ins Deutsche übertragen und mit einigen Zwischenüberschriften versehen.

Weitere Texte und Informationen zu Jeffrey Sachs finden Sie auf seiner Autorenseite bei Telepolis.

Übersetzer: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de