Ukraine-Krieg und Klimakatastrophe: Wo ist der Sinn für Verhältnismäßigkeit?

Das deutsche Engagement auf beiden Feldern: Was genau bedeutet jetzt Zeitenwende? Über Prioritäten bei begrenzten Finanzmitteln. Ein provokanter Einwurf.

Kaum hatte sich die Öffentlichkeit daran gewöhnt, unter "Zeitenwende" die notwendigen Maßnahmen zur Abwendung der Klimakatastrophe zu verstehen, da verkündete Kanzler Scholz auf einmal, bei "Zeitenwende" sei von nun ab an den Angriff Russlands auf die Ukraine zu denken.

Oft ist zu hören, in der Ukraine werde – gegen Russland – für "westliche Werte" gekämpft. Zuletzt erklärte Ursula von der Leyen am vergangenen 9. Mai in Kiew:

Kiew als Hauptstadt der Ukraine ist das pulsierende Herz der europäischen Werte. Die Ukraine ist an vorderster Front, wenn es um die Verteidigung all dessen geht, was uns Europäerinnen und Europäern lieb und teuer ist: unsere Freiheit, unsere Demokratie, unsere Meinungs- und Gedankenfreiheit. Heldenhaft kämpft die Ukraine für jene Ideale Europas, die wir heute feiern.

Wie steht es in der Ukraine um "westliche Werte"?

Das World Justice Project bewertet die Rechtsstaatlichkeit nach acht Faktoren: Begrenzung der Regierungsmacht, Korruption, Offenheit der Verwaltung, Grundrechte, Ausmaß von Ordnung und Sicherheit, Strafverfolgung, Zivilgerichtsbarkeit und Strafgerichtsbarkeit.

Die Ukraine steht im internationalen Rechtsstaatlichkeit-Ranking auf Platz 76, Russland auf Platz 107, Mexiko auf Platz 115, die Türkei auf Platz 116.

Der Korruptionswahrnehmungsindex (Corruption Perceptions Index, CPI) 2022 ist am 31. Januar 2023 erschienen. Der CPI ist der weltweit bekannteste Korruptionsindikator. Er wird vom Internationalen Sekretariat von Transparency International erstellt. Die Ukraine steht in Sachen Korruption auf Platz 120, Russland auf Platz 138.

In der Rangliste der Pressefreiheit, die die "Reporter ohne Grenzen" aufgestellt haben, steht die Ukraine auf Platz 79 – hinter Guinea-Bissau und Malaysia.

Dass es um die Demokratie in Russland nicht gut steht, ist den meisten bekannt. Weniger informiert zeigen sich viele Mitbürger darüber, wie es in der Ukraine damit aussieht.

Die ukrainische Kommunistische Partei hatte 2012 mehr als 100.000 Mitglieder, bekam im selben Jahr bei der Parlamentswahl 13,2 Prozent der Stimmen und landete auf Platz 4.

2014 wurde die KPU "zum Ziel von gewalttätigen Angriffen durch Unterstützer des Euromaidan. Die Parteizentrale in Kiew war zeitweise besetzt, andere Büros der Partei wurden verwüstet oder mit Molotowcocktails in Brand gesetzt. Die Abgeordneten der KPU in der Werchowna Rada (Parlament) wurden teilweise bedroht und unter Druck gesetzt. In einer am 27. Februar 2014 angenommenen Resolution verurteilte das Europäische Parlament den Angriff auf den Sitz der KPU. Am 10. April wurde die Parteizentrale auf gerichtlichen Beschluss von den Besetzern geräumt, dabei wurden die Räume in Brand gesetzt".

2015 kam dann das Verbot der KPU.

Anfang Februar 2021 wurden zunächst drei oppositionelle Fernsehsender – NewsOne, Zik und 112 Ukraine – abgeschaltet. Ein weiterer oppositioneller Sender, Nash, wurde Anfang 2022, also noch vor Beginn des Krieges, verboten. Nach Ausbruch des Krieges wurden im März Dutzende unabhängiger Journalisten, Blogger und Analysten verhaftet; die meisten von ihnen vertreten linke Ansichten.

Olga Baysha

"Westliche Werte" sind weder in der Ukraine noch in Russland sonderlich relevant. Wer die Welt vom Standpunkt dieser Werte betrachtet, dem müssten beide Gesellschaften recht unsympathisch sein. Ursula von der Leyen spricht von der Ukraine als einer "freien Gesellschaft". Das trifft nach Auffassung des Autors dieses Beitrags nicht zu.

Die Höhe der bundesdeutschen Ausgaben in Bezug auf die Ukraine würde vermuten lassen, dass eine lupenreine Demokratie von einem faschistischen Staat angegriffen wird. Faktisch steht nach der russischen Militärinvasion eine undemokratische, korrupte und wenig rechtsstaatliche Nation (Ukraine) mit einem anderen Land (Russland) in kriegerischem Konflikt, in dem es in Bezug auf diese westlichen Werte zwar etwas schlechter aussieht. Beide Staaten aber teilen die Positionierung im hinteren Feld der Rankings.

Die Opfer, die die Bundesregierung der deutschen Bevölkerung zumutet (schon durch die Verteuerung der Energie infolge der Sanktionen gegen Russland), stehen in keinem Verhältnis zum Unterschied zwischen den Konfliktparteien.

Zum Kampf zwischen Gesellschaften mit schlechten Werten in puncto Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und Korruption passt der Enthusiasmus nicht, mit dem hiesige Ukraine-Unterstützer die Parole "Der Angegriffene hat immer recht und muss bedingungslos verteidigt werden" vertreten.

Bei jedem anderen Konflikt würden dieselben Personen, die jetzt bei der Ukraine so eindeutig Flagge zeigen, eine einfache Täter/Opfer-Unterscheidung infrage stellen.

Beim Krieg in der Ukraine und dem zugrundeliegenden Konflikt wird nach Auffassung des Autors jedoch nicht genau genug hingeschaut bzw. werden die Augen verschlossen, wenn es um folgende neuralgische Punkte geht: der Umgang der ukrainischen Regierung mit dem Minsker Abkommens, die Vorwürfe der Missachtung der ausgehandelten Vorgaben, die Angriffe ukrainischer Truppen auf die abtrünnigen Provinzen im Osten sowie, wenn es um die Aggression gegen alle ging, die den Maidan nicht begrüßten.

Angriffskrieg, westliche Werte und Leute mit einem kurzen Gedächtnis

Zu den westlichen Werten, für die – so heißt es – in der Ukraine gekämpft werde, gehört, dass ein Land nicht einen Angriffskrieg gegen ein anderes Land führen dürfe.

Allerdings zeigt die jüngere Geschichte: Ein Angriffskrieg gilt als mit den "westlichen Werten" vereinbar, wenn er vermeintlich einem guten Zweck dient. Da brauchen wir gar nicht auf andere Kontinente blicken (vgl. den Einmarsch in den Irak 2003), sondern können uns an den Angriffskrieg gegen Serbien 1999 erinnern.

Mit deutscher Beteiligung zerstörte oder beschädigte die Nato 60 Brücken, 110 Krankenhäuser, 480 Schulobjekte, 365 Klöster, die Strom- und Wasserversorgung, 121 Industriebetriebe. 2.500 Menschen fanden den Tod.

Um Kriegsverbrechen handelte es sich beim Einsatz von über 30.000 Urangeschossen an über 80 Orten sowie bei der vorsätzlichen Bombardierung der großen Chemiezentren (in Pančevo, Novi Sad und Bor).

Hartmut Sommerschuh schreibt in der Berliner Zeitung vom 14.6. 2021:

Achtundsiebzig Tage lang bombardierte die Nato 1999 ohne Uno-Mandat" Serbien. "Dieser erste Angriffskrieg mit deutscher Beteiligung seit 1945 führte zu einer ökologischen und humanen Katastrophe. Doch Kirchen, Umweltverbände und Bündnis 90/Die Grünen schweigen bis heute. [...]

Für die Toxikologin Ursula Stephan aus Halle/Saale ist die Bombardierung der serbischen Chemiebetriebe bis heute ein ungesühnter vorsätzlicher Chemiekrieg, der Tausende Opfer von Langzeitschäden bewusst in Kauf nahm. Als 1999 alle deutschen Umweltverbände dazu schwiegen, war Stephan Vorsitzende der deutschen Störfall-Kommission, einer Expertenvereinigung für Sicherheitsfragen der Industrie und auch für die Folgen und Verhütung von Chemieunfällen. [...]

Schon wenige Jahre nach Kriegsende beobachten serbische Mediziner wie der führende Belgrader Onkologe Vladimir Čikarić und die Neurologin Danica Grujičić einen dramatischen Anstieg der Krebsrate und Sterblichkeit. Heute liegt Serbien bei Lungen- und Brustkrebs an der Spitze Europas.

Im Krieg gegen Serbien 1999 hieß es im freien Westen: Ja zum Separatismus des Kosovo! Heute heißt es: Nein zum Separatismus der Krim und der sog. Volksrepubliken Luhansk und Donezk!

Der Sinn für die Verhältnismäßigkeit ist nach Ansicht des Autors völlig verloren gegangen, wenn so getan wird, als ob die Bundesrepublik Deutschland eine Niere spenden müsste, weil ohne diese massive Unterstützung der Ukraine Putins Heere bald nicht nur in Lwiw (Lemberg), sondern auch in Polen an der deutschen Grenze stehen, um sodann ihren Blitzkrieg mit dem Vorstoß zum Rhein zu krönen.

Solche Ängste können nur bei Personen gedeihen, die eine Kleinigkeit ausblenden: Die russische Armee tat sich schon 2022 mit der Eroberung und Verteidigung von 20 Prozent des ukrainischen Territoriums schwer.

Wie wahrscheinlich ist dann ihr Vormarsch gen Westen? Wer sich vor ihm ängstigt, muss sich geradezu fanatisch weigern, eine Proportion zur Kenntnis zu nehmen. Russland (86,4 Milliarden US-Dollar) hatte 2022 weniger Militärausgaben als die Länder Deutschland (55,8) und Frankreich (53,6) zusammen. Die USA gaben übrigens 2022 877 Milliarden für das Militär aus.

Geld lässt sich nur einmal ausgeben

Die Ausgaben, die nach der "Zeitenwende" der Bundeswehr, der Unterstützung der Ukraine und der Kompensation der Einbußen infolge der Sanktionen gegen Russland gewidmet werden, sind enorm hoch. Angesichts dessen müsste ein unbeteiligter Beobachter annehmen: Bei der Bundesrepublik Deutschland handelt es sich um eine paradiesische Überflussgesellschaft, die über unendliche Finanzreserven verfügt.

Dieser Beobachter wird allerdings recht schnell bemerken, dass diese These nicht zu einer anderen Erfahrung passt. Bei den verschiedensten Anlässen stößt er auf eine sich ständig wiederholende stereotype Antwort von staatlicher Seite.

Auf die Forderung "Mehr Geld für Krankenhäuser und Schulen, mehr Krankenpflegepersonal, mehr Lehrer, kleinere Klassen in Schulen" kommt so sicher wie das Amen in der Kirche die Stellungnahme: "Diese Ziele begrüßen wir (CDU, SPD, Grüne, FDP), aber leider fehlt es an Geld dafür!"

Kriegsflüchtlingen zu helfen ist unterstützenswert. Zum Verlust der Verhältnismäßigkeit gehört aber, bei begrenzten Finanzmitteln in einer Hinsicht (alles, was mit der Ukraine zusammenhängt) beim Geldausgeben keine Grenze zu kennen, bei anderen Zwecken (Gesundheit, Bildung u. a.) hingegen den Standpunkt des sparsamen Haushälters einzunehmen.