Ukraine-Krieg und Klimakatastrophe: Wo ist der Sinn für Verhältnismäßigkeit?

Seite 3: Risiken: Eine Abwägung

Das Bewusstsein für die tatsächlich vorhandenen Risiken, die das Notstands-Regieren mit sich bringt, sorgt bei vielen dafür, dass sie keine Risikoabwägung anstellen.

Die viel größeren Risiken resultieren aus den Leistungsgrenzen des gegenwärtigen politischen Systems in puncto Bewältigung der Klimakatastrophe.

Der kurzfristige Horizont (die nächsten Wahlen gewinnen), die Übersetzung von Sachkonflikten in die binäre Logik von Regierung und Opposition, die in den Normalbetrieb des Regierens eingebauten "checks and balances" sowie die weitgehende Gestaltungsverschlossenheit der Ökonomie für die staatliche Politik tragen zur "Selbstinvalidierung staatlicher Politik" (Schmalz-Bruns 1994, 496) bei.

Das Notstands-Regieren nicht als notwendig anzusehen, entspricht der gegenwärtigen Problemlage: Die Klimakatastrophe ist zwar vielen nominell bekannt, aber ihre realen Gefahren wollen die meisten Mitbürger dann doch lieber nicht so recht wahrhaben.

Zur Halbherzigkeit gehört die friedliche Koexistenz von zwei unvereinbaren Überzeugungen: Die Zustimmung zur Parole, es müsse "wirklich etwas geschehen", verträgt sich mit der Mentalität, die Maßnahmen dürften bloß nicht zu viel kosten und es solle alles risikolos in den gewohnten politischen Bahnen bleiben.

"In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod" (Friedrich von Logau)

Soll die Priorität, die Klimakatastrophe zu vermeiden, keine Sonntagsrede bleiben, dürfen business as usual sowie der Alltagspragmatismus nicht länger dominieren. (Zu den engen Grenzen des Alltagspragmatismus vgl. Creydt 2023). Wer die Klimakatastrophe ernst nimmt, wird nicht nach dem Motto "Wasch den Pelz, aber mach ihn nicht nass" vorgehen.

Wer meint, es handelt sich bei den allernächsten Jahren um eine für die Veränderung des Weltklimas entscheidende Phase, muss daraus die Schlussfolgerung ziehen. Das heißt: Wir können uns die Doppelmoral, einerseits die Klimakatastrophe für die Zeitenwende des 21. Jahrhunderts zu halten, andererseits aber alles andere als in gleichem Maße dringlich zu erachten, nicht leisten.

Wer Sinn für Verhältnismäßigkeit hat, weiß, wann die Maxime "nur schön den Ball flach halten, sich schonen und auf alle Rücksicht nehmen" angebracht ist und wann nicht. Es gilt, sich von Gewohnheiten zu verabschieden. Deren Mentalität lautet nur allzu oft: "Sei immer bescheiden, verlang nicht zu viel, dann kommst Du zwar langsamer, aber sicherer zum Ziel!"

Angesichts der anstehenden Aufgaben wirkt es besonders deplatziert, selbstgenügsam in Formeln wie "Bloß nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig!" zu verbleiben und die eigene "Ausgewogenheit" auszustellen.

Maßvolles Handeln muss nicht moderat sein. Als maßgeblich zur Beurteilung des Handelns gilt seine Angemessenheit. In einer Extremsituation entscheidet sich in einem eng befristeten Zeitraum, ob sich eine ruinöse Eigendynamik noch stoppen lässt oder nicht. Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Kraftanstrengungen und Vorgehensweisen. Verhältnismäßigkeit heißt in Bezug auf das Klima: Allein eine einschneidende Wende vermag die Katastrophe abzuwenden.

Ohne die entsprechende politische Form der Durchsetzung des Notwendigen wird das nicht funktionieren. In der Klimafrage wird das Sich-Verlieren im Stückwerkhandeln ebenso lebensgefährlich wie die Behinderung und Blockierung durch Veto-Gruppen.

Wer das gängige go-slow in der Klimapolitik nicht als "alternativlos" hinnehmen möchte, sollte über eine Notstandspolitik nachdenken.