Ukraine-Krise: Vorbereitung auf den Ernstfall
Seite 5: Kriegsplan GUARDIAN EAGLE
Mit der Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation gehört die Ukraine keinem Militärbündnis mehr an. Das Land beteiligt sich lediglich am NATO-Programm "Partnership for Peace" (PfP). Damit profitiert die Ukraine nicht von dem Beistand, die die NATO ihren Mitgliedsstaaten im Kriegsfall garantiert. Allerdings verpflichten die Artikel 4 und 5 des Washingtoner Vertrages vom 4. April 1949 die Bündnisländer im Kriegsfall nur zu gegenseitiger Konsultation - mehr nicht. In diesem Sinne ist es fast egal, ob man Mitglied der NATO ist oder nicht. Ob "der Westen" im Kriegsfall der Ukraine militärischen Beistand leistet oder nicht, ist somit eine eminent politische und keine bloß vertragsrechtliche Frage. Vermutlich wird die NATO ihre Beziehungen zur Ukraine (Militärhilfe, Stationierung alliierter Militäreinheiten, Manövertätigkeit, etc.) soweit ausbauen, dass dies einer Quasi-Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO gleichkommt, ohne dass das Land in absehbarer Zukunft offiziell in das Bündnis aufgenommen würde.
Der amerikanische Präsident Barack Obama hat während der Ukraine-Krise wiederholt klar gestellt, dass die USA zu ihren Bündnisverpflichtungen gegenüber den transatlantischen Bündnispartnern steht, auf der anderen Seite hat er mehrfach betont, dass die USA keinen Krieg führen wollen. Dies ist nur dann kein Widerspruch, wenn sich der Krieg auf das Territorium der Ukraine respektive die Krim begrenzen lässt. Derweil erhöht die NATO - bisher nur in symbolischem Umfang - ihre Truppenpräsenz in Osteuropa.
Polen grenzt im Norden an die russische Enklave Kaliningrad und im Osten an Weißrussland und die Ukraine. Mit der Aufnahme von Polen in die NATO 1999 wurde es notwendig, für den Fall eines hypothetischen russisch/weißrussischen Angriffs einen Kriegsplan darüber zu erstellen, wie die Bündnispartner dem Land zu Hilfe kommen könnten. Damals hatte Polen nur mit zwei weiteren NATO-Mitgliedern eine gemeinsame Landgrenze, nämlich die Bundesrepublik und Tschechien, das am selben Tag wie Polen in die NATO aufgenommen worden war.
Wie der frühere polnische Verteidigungsminister Bogdan Klich bekanntgab, hatte die Erarbeitung des Notfallplans für Polen durch eine unbekannte Zahl von Schreibtischtätern der NATO-Stäbe zwei Jahre gedauert. Die ursprüngliche Fassung des Kriegsplanes wurde schließlich im Februar oder März 2009 fertiggestellt.
Mit der NATO-Aufnahme der drei baltischen Staaten am 29. März 2004 wurde es notwendig, diese Länder in die Kriegsplanung des Bündnisses zu integrieren. Zwar hatten NATO-Politiker im Rahmen ihrer Osterweiterung immer betont, dass sie nur Länder aufnehmen wollten, die einen "Netto"-Beitrag zur Sicherheit des Bündnisses leisten könnten, davon kann beim Baltikum nicht die Rede sein. Vielmehr handelt es sich um drei kleine Staaten mit geringer Bevölkerung, schwachen Streitkräfte und ohne Vorfeld und strategische Tiefe. Unter diesen Umständen ist eine klassische "Verteidigung" oder - wie sich die NATO heute ausdrückt - "smart defence" nicht möglich.
Dennoch machten zwei Ereignisse deutlich, dass ein Schutz der baltischen Staaten dringend notwendig war: Am 27. April 2007 kam es zu einem Cyber-Angriff auf mehrere estnische Ministerien, das Parlament, Rundfunkanstalten und Banken. Da es zur selben Zeit Demonstrationen der Angehörigen der russischen Minderheit gab, wurde vermutet, dass die russische Regierung hinter der Denial-of-service-Attacke stecken könnte, was bis heute aber nicht bestätigt werden konnte.
Nach dem russisch-georgischen Krieg (8.-12.8.2008) wurde die Frage der Verteidigung des Baltikums innerhalb der NATO mit größerer Dringlichkeit verfolgt. Hinzu kam, dass die russischen Streitkräfte im Jahr 2009 das Manöver SAPAD-2009 durchführten, bei dem ein paralleler Angriff auf das Baltikum und Polen simuliert wurde. Während des Manövers übten die russischen Streitkräfte auch einen Atomwaffeneinsatz.
Innerhalb der NATO kam daher 2008 der Vorschlag auf, den Eventualfallplan für Polen im Rahmen einer "regionalen Verteidigung" auf das Baltikum auszudehnen. Jedoch reagierten die Polen zunächst noch ablehnend. Der polnische Vize-Verteidigungsminister Stanislaw Komorowski war zunächst gegen dieses Konzept, er betrachtete einen regionalen Verteidigungsplan sehr "skeptisch" und bevorzugte einen Einzelplan für die Verteidigung Polens. In einer vertraulichen Depesche, die William Heidt von der US-Botschaft in Warschau am 18. Dezember 2009 ans US-Außenministerium schickte, hieß es dazu:
Komorowski was skeptical that a regional approach to contingency planning was the best way ahead. Komorowski said Warsaw would prefer a unique plan for Poland, although he allowed that Warsaw could accept the notion of two complementary chapters for Poland and the Baltic States within EAGLE GUARDIAN. More important for Poland was the need to avoid any delay in completing the plan or to rehash already-agreed components, such as the threat assessment. He added that he "agreed entirely" that the issue should remain as secret as possible, and that it was in the "common interest" to avoid public discussion of NATO contingency planning.
In gleicher Weise äußerte sich der polnische NATO-Diplomat Adam Kobieracki:
Kobieracki made similar points to DCM on December 15, and suggested the USG engage in detailed consultations with Polish officials in Brussels and with the General Staff in Warsaw. He said Poland had hoped that a revised EAGLE GUARDIAN plan could be used as a starting point for developing contingency plans for the Baltic States rather than become intertwined with them. He hinted that a creatively packaged regional plan that met Polish needs in terms of conditionality and automaticity might be acceptable, but cautioned that Warsaw would need assurances that NATO's defense of Poland was an "issue in its own right" and not dependent on the security or defense of other NATO members. Kobieracki insisted that Poland would also need assurances that regional planning would not negatively impact on NATO's response to prospective crises, particularly with respect to pre-planned deployments. He urged that completion of EAGLE GUARDIAN not be delayed to accommodate incorporation of the Baltic States into a regional contingency plan. Kobieracki agreed that contingency planning discussions should not be made public.
Auch die Bundesrepublik - vertreten durch ihren damaligen NATO-Botschafter Ulrich Brandenburg - verhinderte monatelang eine Ausdehnung der Verteidigungsplanung für Polen auf das Baltikum, um die russische Regierung nicht zu verprellen. Doch schließlich übernahm die deutsche Bundesregierung selbst die Initiative, so bei einem vertraulichen Treffen mit dem NATO-Generalsekretär und den NATO-Botschaftern der USA und der vier betroffenen Ländern am 15. Dezember 2009.
Am 22. Januar 2010 beschloss das Military Committee der NATO endlich, die Eventualfall für Polen zu aktualisieren und auf das Baltikum auszudehnen. Als Abstimmungsmodus wurde das "silent procedere"-Verfahren gewählt: Da kein nationaler Militärvertreter Einwände äußerte, gilt der Plan nunmehr - ohne formale Abstimmung - als angenommen.
In einer geheimen Depesche, die Nancy McEldowney am 26. Januar 2010 an das US-Außenministerium schickte, hieß es:
We see the expansion of EAGLE GUARDIAN as a step toward the possible expansion of NATO's other existing country-specific contingency plans into regional plans. This is the first step in a multi-stage process to develop a complete set of appropriate contingency plans for the full range of possible threats - both regional and functional - as soon as possible. At the same time, we believe contingency planning is only one element of NATO's Article 5 preparedness.
Dabei berücksichtigte der modifizierte GUARDIAN EAGLE die neuesten Entwicklungen bei den russischen Streitkräften, die im Jahre 2010 eine umfassende Reform zur Modernisierung einleiteten. Das Ziel der russischen Armeereform war und ist ein wiedererstarktes Russland.
Allerdings ist "moderne Kriegführung" ein hoch komplexes, dynamisches Geschehen, dass selbst mit den modernsten Planungsmethoden nur unzureichend dargestellt werden kann. Hinzu kommt, dass das Kampfgeschehen durch Imponderabilien charakterisiert ist; mit zunehmender Kriegsdauer kann man nicht mehr vorhersagen, welche Militäreinheit zu wieviel Prozent noch existent ist oder nicht. Daher umfasst die geplante Zeit gerade mal die ersten sieben, acht oder neun Kriegstage. Für die Zeit danach können nur grobe Vorhersagen gemacht werden.
Eines der grundlegenden Dokumente für die Ausarbeitung eines Kriegsplans ist das Dokument "Allied Joint Doctrine" (AJP-01(D)) vom 21. Dezember 2010. Dazu verwenden die Generalstäbler ein Bündnis-internes Planungsverfahren, das als "Operational Planning Process" (OPP) bekannt ist.
Dieser abgestimmte Planungsprozess gliedert sich in fünf Phasen: 1. Planungsvorbereitung (u. a. Erarbeitung eines "Military Assessment" und einer militärpolitischen "Initiating Directive"), 2. Orientierung, (u. a. "Estimate of the Situation" und "Mission Analysis", in dieser Phase wird insbesondere der Informationsbedarf abgeklärt: "Commander's Critical Information Requirements") 3. Entwicklung des operativen Konzepts (Eruierung der Handlungsmöglichenkeiten gemäß dem "Course of Action" und dem "Concept of Operations", sowie Festlegung des notwendigen Streitkräftebedarfs im "Statement of Requirements", etc.), 4. Entwicklung des Plans (nach den Vorbereitungsarbeiten wird in dieser Phase der eigentliche Kriegsplan ausgearbeitet und die nationalen Streitkräftekontingente ("National Force Contributions") und die Truppendislozierung ("Multinational Detailed Deployment Plan") festgelegt), 5. Kontrolle des Plans (im "Progress Review" wird überprüft, ob der fertige Operationsplan mit den politischen Vorgaben und den angenommenen Rahmenbedingungen übereinstimmt). Die Planung umfasst dabei nicht nur die Gefechtshandlungen und logistische Unterstützung der eigenen Kampftruppen, sondern auch die Zivil-Militärische-Zusammenarbeit und die psychologische Kriegsführung. Dabei geht es immer um den "6W"-Fragenkomplex: Wer tut was, wie, wann, wo und wozu.
Speziell für die Einsatzplanung für die Landstreitkräfte wird zusätzlich ein Verfahren mit dem Namen "Decision Making Process" (DMP) angewendet. Auch dieser abstimmte Führungsprozess gliedert sich in mehrere Phasen: 1. Lagefeststellung, 2. Entscheidungsfindung, 3. Planung, 4. Befehlsgebung und 5. erneute Lagefeststellung mit abschließender Kontrolle. Dabei rekurriert man auf die übliche Arbeitsweise des Stabes ("Standard Operating Procedures" - SOP) und die vorgegebenen Einsatzrichtlinien für die Feldeinheiten ("Rules of Engagement" - ROE).
Durch die gegenwärtige Ukraine-Krise und die Reaktionen der NATO wird der Kriegsplan wohl erneut modifiziert werden. Dazu wird ein vereinfachtes Planungsverfahren angewendet, das weniger gründlich ist, aber auch weniger Zeit (ca. eine Woche) erfordert. Die NATO spricht hier vom "Crisis Response Planning".
Sollte es tatsächlich zu einem NATO-Kriegsfall kommen, müsste der hypothetische Kriegsplan durch den so genannten "Commander's Decision Cycle" in die Praxis umgesetzt werden. Dabei wird die bloß virtuelle Schubladenplanung nicht eins-zu-eins umgesetzt, sondern sie muss der aktuellen Lage der eigenen und der feindlichen Truppen angepasst werden. Dazu erlässt der militärische Befehlshaber einen entsprechend modifizierten Operationsbefehl ("Operations Order" - OPORD). Dabei richtet er seine Aufmerksamkeit insbesondere auf die kampfentscheidenden Faktoren: "Center of Gravity" (CoG), "Decisive Points" (DP) und "Critical Capabilities and Vulnerabilities" (CC/CV). Auch im weiteren Kampfverlauf muss die Kriegsplanung ständig an die Lageentwicklung angepasst werden. Diese Nachsteuerung führt zu einer Gleichzeitigkeit von Planung und Führung unter den Bedingungen von Bedrohung, Zeitdruck und unvollständiger Information. Der DMP-Planungsprozess wiederum wird durch einen beständigen Prozess zur Informationsgewinnung begleitet, der als "Intelligence Preparation of the Battlespace" (IPB) bezeichnet wird.
Der Kriegsplan unterliegt der Geheimhaltungsstufe NATO SECRET, daher wurden über seine operativen Details nur wenige Einzelheiten bekannt: Bei den Landstreitkräften sind neun Divisionen für Kampfoperationen vorgesehen. Drei Verbände werden von Polen gestellt (s.o.), die übrigen sechs Divisionen kommen aus den USA, Großbritannien und Deutschland.
Es fällt auf, dass zur Verteidigung der osteuropäischen Staaten gegen einen russischen Angriff nur Verstärkungen aus Westeuropa, nicht aber aus anderen osteuropäischen Staaten herangeführt werden. Tschechien und die Slowakei sind somit von ihren Bündnispflichten gegenüber Polen befreit, obwohl sie näher in Frontnähe liegen. Die Verstärkungen aus der Bundesrepublik müssten erst über die Straße, per Eisenbahn oder auf dem Seeweg herangeführt werden.
Um welche Divisionen es sich konkret handelt, wurde nicht berichtet; es kann daher nur darüber spekuliert werden, welche Verbände gemeint sind. Die amerikanische Seventh Army der US Army Europe (USAREUR) verfügt heutzutage über keine Divisionen mehr, sondern nur noch über mehrere selbstständige Kampfverbände, u. a. das 2nd Cavalry Regiment (Vilseck), die 12th Army Aviation Brigade (Ansbach-Katterbach) und die 173rd Airborne Brigade (Vicenza, Italien). Zu den British Forces Germany (BFG) zählt die 1st Armoured Division in Herford, die allerdings im kommenden Jahr nach Großbritannien abziehen wird. Die Bundeswehr verfügt u. a. über die 1. Panzerdivision in Hannover (mit der Panzergrenadierbrigade in Torgelow und der 21. Panzerbrigade in Augustdorf), die Division Schnelle Kräfte in Stadtallendorf (mit der Luftlandebrigade 31 in Oldenburg, der Luftlandebrigade 26 in Saarlouis und dem Kommando Spezialkräfte in Calw), die Division Süd in Veitshöchheim (mit der Panzerbrigade 37 in Frankenberg) und die 10. Panzerdivision in Sigmaringen (u. a. mit der 12. Panzerbrigade).
Zum Einsatz der NATO-Luftwaffen wurden keine Informationen veröffentlicht. Es ist davon auszugehen, dass die NATO - wie schon bei früheren Plänen aus den achtziger Jahren - umfassende Jagdbomberangriffe auf die erste, zweite und dritte Staffel der russischen Angriffskeile bis tief im Hinterland des Gegners plant. Außer der polnischen Marine sollen auch die Seestreitkräfte der USA, Großbritanniens und Deutschlands eingesetzt werden. Auch an einen Einsatz der Marineinfanterie ist gedacht. Dazu könnten auch die Kampfschwimmer der Spezialisierten Einsatzkräfte der Marine (SEK M) in Eckernförde zählen.
Die deutschen und polnischen Hafenstädte würden zur Drehscheibe für die maritimen Operationen. Dazu dürften nicht nur die deutschen Kriegshäfen an der Ostsee (Flensburg, Glücksburg, Olpenitz und Kiel), sondern auch die Kapazitäten der zivilen Handelshäfen genutzt werden, die in den letzten Jahren modernisiert wurden.
Der Kriegsplan GUARDIAN EAGLE zur Verteidigung Osteuropas wird wohl ergänzt durch Kriegspläne gegen Russland, die die NATO in ihren geheimen Schubladen bevorraten dürfte. Allerdings wird die Existenz solcher Pläne offiziell bestritten und auch die russische Seite hält sich hierzu bedeckt. Lediglich der ehemalige russische NATO-Botschafter und jetzige Stellvertretende Ministerpräsident Dmitri Rogosin erklärte dazu im November 2011, dass "die Allianz weiterhin eine militärische Planung gegen Russland, darunter auch die atomare Planung, fortsetzt". Hinzu kommen die nuklear-strategischen Kriegsplanungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs.
Selbst wenn der Frieden - erwartungsgemäß - bewahrt werden kann, muss man die Modifikationen der NATO-Strategie bezüglich der Verteidigung Osteuropas und die weitere "Osterweiterung" in den kommenden Jahren im Auge behalten.