Ukraine-Krise: Vorbereitung auf den Ernstfall
- Ukraine-Krise: Vorbereitung auf den Ernstfall
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- Die osteuropäischen NATO-Mitglieder
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Situation in Moskau, NATO-Lageführung und Kriegsplan GUARDIAN EAGLE
Zunächst protestierten die ukrainischen Bürger auf dem Maidan-Platz gegen das diktatorische Regime, aber seit Ende Februar sind die Bürgerrechtler durch die "professionellen" Politiker marginalisiert worden. Nun reisen hochverdiente Regierungsvertreter in Regierungsjets um die Welt, um sich in 5-Sterne-Hotels mediengerecht als Krisenmanagement-Macher darzustellen. Währenddessen üben sich die Geheimdienstler in ihrer Rolle als "Herr der Lage". Im Hintergrund bereiten sich die Militärs auf beiden Seiten auf den "worst case" vor. Der Osteuropa-Kriegsplan der NATO für einen Krieg gegen Russland trägt den Codenamen GIANT EAGLE. Die Konflikte innerhalb der Ukraine haben sich innerhalb eines Monats zur vielleicht schwersten Krise in den NATO-Russland-Beziehungen seit der Nuklearkrise vom November 1983 ausgewachsen.Dennoch glauben die Politiker, sie könnten einen Krieg wieder einmal verhindern.
Entscheidungsfindung in Moskau
Regierung und Parlament in Moskau haben mittlerweile die ukrainische Halbinsel Krim annektiert. Dabei geht es nicht nur um die Vergrößerung des größten Flächenstaates der Erde um ein paar läppische Weinberge, sondern um den ersten gewaltsamen Verstoß der russischen Regierung gegen die europäische Jalta-Nachkriegsordnung vom Februar 1945. Welche Schlussfolgerungen man in Moskau auch immer aus den 28 Millionen Todesopfern unter der eigenen Bevölkerung des so genannten "Großen Vaterländischen Krieges" (1941-45) gezogen haben mag, die Erkenntnis, dass Krieg kein adäquates Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele ist, war es offenbar nicht.
Die Annexion ist die vorläufige Schlussakte einer zunehmend expansiven russischen Sicherheitspolitik in den letzten Jahren: Georgienkrieg und Medwedew-Doktrin (2008), neue nationale Sicherheitsdoktrin (2009), Militärreform (2010), Präemptivschlagsdrohung gegen geplantes US-Raketenabwehrsystem (2012), neue Militärstrategie, Stationierung von Atomraketen Iskander an der russischen Westgrenze und Remilitarisierung der Arktis (2013), Annexion der Krim (2014).
Wie sich die Ukraine-Krise in den nächsten Wochen entwickeln wird, hängt in erster Linie von dem Machthaber im Kreml ab, der schon im Nordkaukasus seine Blutspur hinterlassen hat. Für was wird sich Wladmir Wladimirowitsch Putin entscheiden und wann wird er diese Entscheidung treffen? Bis dahin bleibt alles, was hinter den roten Klinkermauern des Kreml in Moskau besprochen und geplant wird, für Außenstehende nur z. T. einsehbar. "Wem der Präsident wirklich vertraut, das weiß nur Putin selbst", sagt Alexej Muchin, Direktor des Moskauer Zentrums für politische Information. Ausländische Russlandexperten nutzen daher die kleinsten Informationsschnipsel, um sich ein Bild von den politischen Vorgängen und Ränkespielen zu machen. Allerdings ist diese "Kremlogie" keineswegs zuverlässig.
Die (friedens-)politischen Signale aus Moskau sind widersprüchlich: Während der Präsident, sein Ministerpräsident, sein Außenminister und sein Verteidigungsminister unisono erklären, sie hätten keinerlei Absichten in die Ost-Ukraine einzumarschieren, heißt es andererseits, man behalte sich - gemäß der so genannten "Medwedew-Doktrin" von 2008 - einen Militäreinsatz zum Schutz von russischen Staatsbürgern in der Ost-Ukraine oder in Transnistrien in jedem Falle vor. So lassen sich die militärpolitischen Absichten des russischen Präsidenten zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zuverlässig einschätzen.
Möglich ist, dass die fragile Situation in der Ukraine eskaliert und sich Putin zum Militäreinsatz gezwungen sieht, möglich ist auch, dass die russische Regierung durch agents provocateurs die Zustände heimlich produziert, vor denen sie öffentlich warnt, um so einen Vorwand für eine Militärintervention erst zu schaffen. Schon die abenteuerliche Invasion auf der Krim hat nicht gerade zur Stabilisierung und in der Ukraine beigetragen.
Durch die russische Vorgehensweise fühlen sich nun auch die osteuropäischen NATO-Staaten Estland, Lettland, Litauen und Polen von Moskau bedroht. Schon beim Manöver SAPAD-2013 (Sapad = dt. Westen) im September 2013 hatten 70.000 Soldaten in Weißrussland unter dem Vorwand, einen Terroranschlag abzuwehren, den Überfall auf die osteuropäischen NATO-Staaten zum wiederholten Male geübt. Dabei wurde auch der Abschuss einer atomaren Iskander-Rakete gegen das Baltikum simuliert. Demgegenüber versicherte der russische Außenminister Lawrow in Bezug auf die Aufstockung der Nato-Truppen an der russischen Grenze am 1. April 2014: "Die OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, G. P.) ist an keiner Konfrontation interessiert, besonders nicht mit der Nato (…) Wir hoffen, dass niemand eine Konfrontation provozieren wird."
Schon jetzt hat die neue, aggressive Militärpolitik der russischen Regierung nicht nur Auswirkungen für die NATO-Russland-Beziehungen, sondern auch auf die Stützpunktpolitik und Verteidigungsplanung der NATO in Osteuropa. Die westeuropäischen NATO-Mitglieder nutzten die Gelegenheit, um ihre Truppenpräsenz in diesem sensiblen Gebiet zu erhöhen. Die Militärs weisen zu Recht darauf hin, für sie seien nicht die diffusen Absichten eines potentiellen Gegners ausschlaggebend, sondern dessen militärische Fähigkeiten, die sich durch die Zahl der gegnerischen Soldaten, ihre Ausrüstung und Ausbildung und Dislozierung berechnen lassen. Dies gilt für die Militärs in Washington, Brüssel und Moskau gleichermaßen.
Seine Entscheidung für oder gegen einen Angriff auf die Ost-Ukraine wird Putin im engsten Beraterkreis abstimmen. Diese Kamarilla ist auch unter der Bezeichnung "Sankt-Petersburg-Connection" bekannt. Dazu zählen insbesondere die "alten Kameraden" aus dem KGB-Geheimdienstmilieu, die so genannten "Silowiki", die heute lukrative Positionen im Staatsapparat oder der Wirtschaft bekleiden. Zu nennen sind hier der frühere Geheimdienstgeneral Sergej Borissowitsch Iwanow, der heute die Präsidentialverwaltung leitet, der Ölmagnat Igor Iwanowitsch Setschin vom Rosneft-Konzern und der Chef von Gazprom Alexej Borissowitsch Miller. Hinzu kommen die politisch-strategischen Berater im Präsidialapparat, wie z. B. Wladislaw Jurjewitsch Surkow und Wjatscheslaw Wiktorowitsch Wolodin. Gegen mehrere dieser Strippenzieher wurden nun von der EU und der US-Regierung Sanktionen verhängt.
Höchstes amtliches Entscheidungsgremium ist der nationale Sicherheitsrat (Sowjet Bezopasnosti Rossiiskoi Federacii). Dieser hat 13 Mitglieder, darunter den Präsidenten, den Ministerpräsidenten, mehrere Minister, die Leiter der Geheimdienste, Vertreter der Militärspitze und weitere Apparatschiks. Sekretär des Sicherheitsrates ist seit 2008 Nicolai Platonowitsch Patruschew, der ehemalige Leiter des FSB.
In diesem Gremium wird u. a. die "Strategie der nationalen Sicherheit" festgelegt. In der gültigen Strategie vom 12. Mai 2009 heißt es offiziell:
13. Langfristig strebt die Russische Föderation den Aufbau internationaler Beziehungen an, die auf den Prinzipien des Völkerrechts sowie zuverlässiger und gleicher Sicherheit für die Staaten basieren.
Zum Schutz seiner nationalen Interessen wird Russland im Rahmen des Völkerrechts eine rationale und pragmatische Außenpolitik verfolgen, die aufwändige Konfrontation wie auch ein neues Wettrüsten ausschließt.
Russland betrachtet die Organisation der Vereinten Nationen und ihren Sicherheitsrat als zentrale Elemente eines stabilen Systems der internationalen Beziehungen, dessen Grundlage die Achtung, Gleichberechtigung und gegenseitig vorteilhafte Zusammenarbeit der Staaten ist und das sich auf zivilisierte politische Instrumente zur Lösung globaler und regionaler Krisensituationen stützt. (...)
26. Die strategischen Ziele der Vervollkommnung der nationalen Verteidigung bestehen in der Verhinderung globaler und regionaler Kriege und Konflikte sowie in der Verwirklichung der strategischen Zügelung zur Gewährleistung der militärischen Sicherheit der Russischen Föderation.
Die strategische Zügelung erfordert die Entwicklung und systematische Umsetzung eines Komplexes miteinander verbundener politischer, diplomatischer, militärischer, ökonomischer, informatorischer und anderer Maßnahmen zur Verhütung oder Verringerung der Gefahr destruktiver Handlungen von Seiten eines Aggressor-Staates (einer Staatenkoalition).
Die strategische Zügelung erfolgt unter Nutzung der wirtschaftlichen Möglichkeiten des Staates, unterstützt durch Ressourcen der Kräfte zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit, durch die Entwicklung des Systems der militärpatriotischen Erziehung der Bürger der Russischen Föderation, der militärischen Infrastruktur und des Führungssystems der Militärorganisation des Staates."
Die Führung der russischen Streitkräfte liegt beim Generalstab ("Genshtab") im Verteidigungsministerium in Moskau-Arbat (Znamenka-Straße) hat, der in Kriegszeiten seinen Sitz in den Kommandobunker in Tschehow rund 80 km südlich von Moskau verlegt. In Friedenszeiten ist der Generalstab u. a. für die Formulierung der nationalen Militärstrategie zuständig, die zuletzt im Januar 2013 modifiziert wurde. Als Generalstabschef fungiert z. Zt. Generaloberst Waleri Wassiljewitsch Gerassimow. Dieser hatte schon am 26. Januar 2013 getönt, die russischen Streitkräfte seinen bereit für einen neuen Großkrieg: "Ein groß angelegter Krieg kann nicht ausgeschlossen werden."
Truppen an der ukrainischen Grenze
Der Generalstab hat seine Streitkräfte an der russisch-ukrainischen Grenze derzeit massiv verstärkt. Die Truppen werden u. a. vom nachgeordneten Militärkommando West in St. Petersburg geführt. Dessen Kommandeur ist z. Zt. Generaloberst Anatolij Alexejewitsch Sidorow, sein Stellvertreter Generalleutnant Iwan Alexandrowitsch Buwalzew. Als sein Chef des Stabes fungiert Generalleutnant Andrej Wasiljewitsch Kartapolow. Zu den weiteren Generälen im Stab gehören u. a. Generalleutnant Andrej Wiktorowitsch Toporow und Generalmajor Sergej Nikolajewitsch Poletutschij.
Zur Zahl der am Aufmarsch beteiligten Soldaten gibt es - wie üblich - höchst widersprüchliche Angaben. Während der frühere ukrainische Verteidigungsminister Admiral Igor Tenjuch von 220.000 Mann sprach, war in Kreisen des ukrainischen Nationalen Verteidigungs- und Sicherheitsrates zunächst von 80.000, später von 88.000 Mann die Rede. Demgegenüber gab die NATO die Anzahl zunächst mit 15.000, zuletzt mit 40.000 Soldaten an. Leider lässt sich dieser Zahlensalat nicht auflösen, da die jeweiligen Zählkriterien nicht bekannt sind. Jedoch ist eines sicher, aufgrund des mäßigen Straßennetzes müssen die Truppen vor allem mit der Eisenbahn transportiert werden und können daher relativ leicht durch die NATO-Geheimdienste aufgeklärt werden.
Neben der ukrainisch-russischen Grenzregion gibt es noch ein zweites Gebiet von besonderer Bedeutung: In der russischen Enklave Kaliningradskaja oblast (15.125 qkm, 942.000 Einwohner) zwischen Litauen und Polen unterhalten die russischen Streitkräfte mehrere strategisch wichtige Militäreinrichtungen. In Baltijsk befindet sich das Hauptquartier der Baltischen Flotte unter dem Kommando von Vizeadmiral Wiktor Petrowitsch Krawtschuk, in Pionersky eine Radarstation vom Typ Woronesch-DM, eine MotSchützen-Division, eine selbstständige MotSchützen-Brigade und ein Jagdfliegerregiment mit Su-27 Flanker.
Um seine Entscheidung über Krieg und Frieden zu treffen, muss sich Putin einen Überblick über die politische und militärische Lage verschaffen. Zum Einsatz kommt hier das gesamte Agentennetz der russischen Nachrichtendienste in den Hauptstädten der NATO-Mitgliedsstaaten, nämlich des militärischen Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije (GRU) und des zivilen Auslandsnachrichtendienst Sluschba Wneschnei Raswedki (SWR), aber auch die Funkhorcher des Abhördienstes Federal'naya Agenstvo Pravitel'stvennoy Svayazi i Informatsii (FAPSI) in den Botschaftsniederlassungen.
Zur Militäraufklärung setzt die russische Regierung u. a. ihre Satelliten der Kosmos-Serie ein: Photo-Aufklärungssatelliten vom Typ Persona (Kosmos-2441 und -2486) Yantar-4K2M (Kosmos-2455, -2450 und 2462) Kobalt-M (Kosmos-2472 und -2480) und den neuen Abhörsatellit vom Typ Liana (Kosmos-2455). Die Abhörsatelliten werden ergänzt durch Auflklärungs-Flugzeuge wie z. B. die A-50A Mainstay AWACS, Aufklärungsdrohnen, Frettchen-Schiffe in der Ostsee und am Schwarzen Meer und die ortsfesten Abhörstationen und mobile Eloka-Einheiten an Land. So versuchen die Streitkräfte die verstärkte Truppenpräsenz der NATO in Osteuropa im Auge zu behalten, was sich wiederum auf die Entscheidungsfindung im Kreml auswirkt.
Ob sich Wladimir Putin für einen Einmarsch in die Ost-Ukraine entscheidet oder nicht, hängt schließlich von verschiedenen Faktoren ab. Für einen militärischen Vorstoß spricht, dass Putin damit eine Landbrücke zwischen dem russischen Territorium und der annektierten Halbinsel Krim erreichen kann. Bisher fehlt eine solche organische Anbindung völlig. Allerdings würde der Bau einer Brücke über die "Straße von Kertsch" zwischen dem Asowschen und dem Schwarzen Meer mehrere Jahre in Anspruch nehmen, wenn sich überhaupt genügend Arbeiter aus Kasachstan finden, die nach dem Betrug bei den Olympischen Spielen noch einmal für die Russenmafia arbeiten wollen. Aber ein Einmarsch in die Ost-Ukraine birgt auch Risiken. Zwar könnten die überlegenen russischen Streitkräfte die Ukraine im Handstreich durchqueren, aber damit ist das Land nicht wirklich erobert. Partisanengruppen könnten die Ukraine in ein europäisches Afghanistan verwandeln.
Sollte sich Wladimir Putin dennoch für einen Einmarsch entscheiden, hängt die Wahl des Zeitpunktes von mehreren Faktoren ab: Nach der Schneeschmelze trocknet nun die Frühlingssonne die Böden, so dass diese "panzergängig" werden und die Militärfahrzeuge nicht im Schlamm stecken bleiben. Außerdem muss Putin bedenken, dass demnächst fast 90.000 Wehrdienstleistende, das entspricht über 10 Prozent der Soldaten, ihren Militärdienst abschließen und durch ungediente Rekruten ersetzt werden, die erst noch monatelang ausgebildet werden müssen. Dies wirkt sich negativ auf die Kampfkraft der Einheiten aus. Auf Grund dieser Faktoren rechnet der russische Militärexperte Pavel Felgenhauer spätestens für Mitte Mai mit einem Kriegsbeginn: "Now all decisions will be taken by the military. If we do not go to war before the middle of May, then this will not happen later either."
Der russische Verteidigungsminister General Sergej Kuschugetowitsch Schoigu warnte am 1. April 2014: "Die Ermutigung russophober Stimmungen könnte eine Tragödie nicht nur für die Ukraine, sondern für ganz Europa nach sich ziehen." Demgegenüber verurteilte der Stellvertretende Außenminister Sergei Alexejewisch Ryabkow die angebliche Kriegshysterie seiner Kollegen in Amerika und empfahl ihnen am 3. April betont salopp: "To spend more time in the fresh air, take up yoga, a food separation diet, perhaps watch some sit-coms on television."