Ukraine-"Realitätscheck": Berlin laviert weiter

Seite 2: Entstehung einer "Gewaltkultur"

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Dass es in der Ukraine ein generelles Gewaltproblem gibt, stellen derweil selbst maidanfreundliche Analysten fest. So schreibt Dr. Susan Stewart, eine US-Staatsbürgerin und Ukraine-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik, welche der Bundesregierung nahe steht, in einer aktuellen Studie:

Dass sich manche Majdan-Anhänger an Ausschreitungen beteiligten, hat eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die gesellschaftlich bislang nicht verarbeitet sind. Sie betreffen den Mythos der Ukrainer als friedliches Volk ebensowie die Legitimität von Gewalt als Mittel zur Konfliktaustragung.

Die freiwilligen Sicherheitsdienste auf dem Majdan - viele mit militärischem Hintergrund - trugen dazu bei, den Protest straff zu organisieren und praktische Alltagsprobleme der auf engem Raum ausharrenden Demonstranten zu lösen. Zugleich stellten nur wenige Majdan-Anhänger die Anwendung von Gewalt durch die eigene Seite in Frage, nachdem zunächst die Regierungstruppen gewalttätig geworden waren.

Doch letztlich haben die Ereignisse auf dem Majdan einer Gewaltkultur Vorschub geleistet, die es etwa begünstigte, dass Freiwilligen-Bataillone außerhalb der regulären Kommandostruktur von Innen- bzw. Verteidigungsministerium entstanden. Ein Indiz für die um sich greifende Verrohung ist die 'Mülltonnenjustiz' - Protestierende vollziehen dabei eine Art informeller Lustration, indem sie unliebsame Politiker oder Beamte in Abfallcontainer werfen. Solche Phänomene erhöhen die Akzeptanz von Gewalt in der Gesellschaft und erschweren es, zu einer friedlichen Normalität zurückzukehren.

Susan Stewart

Putsch oder "Entzug von den Amtspflichten"?

Die offizielle Linie der Bundesregierung bleibt trotz all dem klar und scheint dem schlichten Motto zu folgen: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Das zeigt sich auch an der Einschätzung zum Machtwechsel im Februar 2014. Präsident Janukowitsch sei nicht etwa unter Drohungen, um seine persönliche Sicherheit fürchtend, geflohen, sondern, so das Auswärtige Amt in einer etwas umständlich abgezirkelten Formulierung:

Die Umstände, unter denen der damalige ukrainische Präsident in der Nacht vom 21. auf den 22. Februar 2014 Kiew verließ, und sein Verhalten danach lassen aus Sicht der Bundesregierung die Entscheidung des ukrainischen Parlaments, er habe sich seinen Amtspflichten entzogen und übe das Amt nicht weiter aus, als berechtigt erscheinen.

Auswärtiges Amt

Gerade dieser Punkt aber ist weiterhin höchst strittig. Die Argumente dafür, dass der Machtwechsel ein gewaltsamer Putsch war, sind kaum leicht von der Hand zu weisen. Auf dem Maidan wurde am Abend von Janukowitschs Flucht unter Beifall damit gedroht, am kommenden Vormittag das Präsidialamt zu stürmen, falls der Präsident nicht umgehend zurücktrete. Die Losung "Tod dem Verbrecher!" wurde auf dem Platz skandiert.

Das Auswärtige Amt verstrickt sich denn auch an dieser Stelle in einen Widerspruch, wenn es schreibt:

Angesichts seiner Verfügungsgewalt über die Sicherheitskräfte ist nach Einschätzung der Bundesregierung nicht davon auszugehen, dass Präsident Janukowitsch dadurch konkret bedroht war. Die Bundesregierung hält daher die Auffassung, der damalige Präsident sei zur Flucht gezwungen worden, nicht für zutreffend. Grund für seine Flucht dürfte nach Einschätzung der Bundesregierung vor allem die Angst davor gewesen sein, für die durch die Sicherheitskräfte auf dem Maidan begangenen Verbrechen sowie Korruptionsdelikte strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden.

Auswärtiges Amt

Wenn der Präsident aber zum Zeitpunkt seiner Flucht tatsächlich noch die Verfügungsgewalt über die Sicherheitskräfte besaß und somit also in Sicherheit und an der Macht war - wieso sollte er dann eine etwaige strafrechtliche Verfolgung fürchten müssen? Hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Entweder besaß der Präsident tatsächlich noch Befehlsgewalt - dann aber war er eben nicht in Gefahr, weder in seiner persönlichen Sicherheit noch anderweitig juristisch bedroht. Oder aber die Sicherheitskräfte hatten sich von ihm abgewandt oder drohten ihm dies unmittelbar an - dann war Janukowitsch tatsächlich in großer Gefahr, angesichts des gewaltbereiten Teils der Demonstranten womöglich in Lebensgefahr.

Diejenigen, die nun argumentieren, der Vorgang sei kein Putsch, sondern eine Revolution gewesen, ignorieren, dass eine gewaltsame Absetzung sich nicht rechtfertigen lässt, sofern der Präsident durch eine demokratische Wahl ins Amt gekommen ist. Die Präsidentschaftswahl von 2010, aus der Janukowitsch als Sieger hervorging, war aber selbst von der OSZE als demokratischen Normen entsprechend gewertet worden.

Seine Absetzung durch gewaltsamen Druck und abseits der ukrainischen Verfassung anzuerkennen, heißt, demokratische Regeln mit Füßen treten - und zwar unabhängig davon, ob der Präsident nun unbeliebt, korrupt oder anderweitig kriminell gewesen sein mag. Es galt in jedem Fall, das Wahlergebnis von 2010 zu respektieren oder aber die von der Verfassung vorgegebene Möglichkeit eines Amtsenthebungsverfahrens zu nutzen. Dies aber geschah nicht - was alle Verteidiger des "demokratischen Maidan" nun in argumentative Erklärungsnot bringt.

Maidanmassaker weiter ungeklärt

Weiterhin unklar bleibt darüber hinaus, wer für das Scharfschützenmassaker auf dem Maidan, das die Dynamik des Sturzes ja erst in Gang gebracht hatte, die Verantwortung trägt. Die entsprechende Untersuchung schleppt sich seit über einem Jahr ergebnislos hin.

Nur am Rande von der deutschen Presse bemerkt, hat Ende März eine internationale Beratergruppe des Europarats einen 118-seitigen Bericht vorgelegt, in dem den ukrainischen Behörden nun schwere Versäumnisse bei der Aufklärung des Massakers attestiert werden. Darin heißt es etwa, der Untersuchung der Maidanmorde mangele es Unabhängigkeit "dort, wo die Ermittler denjenigen unterstanden, die untersucht werden sollten".

Auch sei die Position des Chefermittlers mehrfach neu besetzt worden. Der erste Ermittler, Oleg Machnitzky, wurde nach nur dreimonatiger Arbeit unmittelbar nach einer Pressekonferenz zu seiner Arbeit im Juni 2014 per Präsidentenerlass abberufen. Auf dieser Pressekonferenz hatte Machnitzky von einer "informellen und versteckten Opposition" des Innenministeriums gegenüber den Ermittlungen gesprochen, so der Europarat in seinem Bericht. Eine Erklärung für die Abberufung Machnitzkys wurde dem Europarat nicht gegeben. Im Februar 2015 setzte die Regierung nun auch dessen Nachfolger ab und berief somit den mittlerweile dritten Chefermittler.

Generell sei die Haltung des Innenministeriums in Kiew gegenüber den ukrainischen Ermittlern bislang unkooperativ und in Teilen sogar behindernd gewesen. Hintergrund ist offenbar der Schutz ehemaliger Berkut-Kräfte. Diese scheinen zugleich die einzigen zu sein, gegen die ermittelt wird.

Für die Schüsse am frühen Morgen des 20. Februar 2014, mit denen das Blutbad und die eigentliche Eskalation begann, sind aber maidannahen Zeugen zufolge nicht Spezialeinheiten verantwortlich, sondern "engagierte Profikiller (…) die kamen pünktlich und zogen pünktlich wieder ab, als sei der Arbeitstag beendet". Dieser Spur aber wird bis heute offenbar nicht nachgegangen.

Laut Europarat sind die Ressourcen der Ermittlung unzureichend. Im Herbst 2014 seien lediglich drei (!) Ermittler mit dem ungeklärten Massenmord auf dem Maidan befasst gewesen. Die meisten Mitarbeiter hätten sich zu der Zeit mit der Untersuchung finanzieller Unregelmäßigkeiten der abgesetzten Januowkitsch-Regierung beschäftigt. Eine Organisation von Angehörigen der Opfer, die in Verbindung mit den Ermittlern stand, übte laut Europarat ebenfalls scharfe Kritik an der mangelhaften Aufklärung.

Ein Bericht über diese brisante Untersuchung des Europarats war den ARD-Tagesthemen knappe 30 Sekunden wert, platziert im Mittelteil der Sendung, kurz vor den Börsenkursen. Von vernehmbarem Druck seitens der deutschen Bundesregierung auf die Administration in Kiew in dieser Sache ist bislang ebenfalls nichts bekannt geworden. Sevim Dagdelen, für die Linksfraktion Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, fordert in diesem Zusammenhang nun gegenüber Telepolis:

Die Bundesregierung muss sich endlich für eine internationale Untersuchungskommission unter Beteiligung der 5 ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats einsetzen. Kiew ist offenbar nicht in der Lage oder nicht Willens die Morde aufzuklären. Das bisherige Agieren der ukrainischen Regierung scheint eher darauf zu verweisen, dass zumindest eine Mitschuld von Kräften der damaligen Opposition an den Maidantoten nicht ausgeschlossen werden kann.

Sevim Dagdelen

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