Ukraine-Schock-Strategie: 100 Milliarden mehr fürs deutsche Militär (Update)
- Ukraine-Schock-Strategie: 100 Milliarden mehr fürs deutsche Militär (Update)
- Angst vor Diffamierung lähmt die Debatte
- Grenze zwischen Krieg und Frieden verwischt
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Koalitionäre und Unionsparteien haben sich geeinigt. Dem 100-Milliarden-Rüstungspaket inklusive Grundgesetzänderung steht nichts mehr im Weg. Die Aufrüstung schafft aber keinen Schutz, sondern birgt Gefahren.
Die US-Kritikerin Naomi Klein hat in ihrem Buch „Die Schock-Strategie“ dargelegt, wie Regierungen in Krisenzeiten, ob nun Wirtschafts-, Kriegs- oder Naturkrisen, die damit verbundene Verunsicherung immer wieder ausnutzen, um unpopuläre Politiken durchzusetzen. Im Fall des Ukrainekriegs ist diese Strategie erneut zu beobachten.
Bereits drei Tage nach dem russischen Angriff auf Ukraine kündigte Scholz die Einrichtung eines 100-Milliarden-Euro schweren Militärfonds an. Damit soll die Bundeswehr aufgerüstet werden. Es bedeutet eine historische Aufstockung des deutschen Rüstungsetats, die in Friedenszeiten kaum durchsetzbar wäre.
Denn die Deutschen reagieren immer wieder ablehnend auf Steigerungen des Militärhaushalts. In einer Umfrage von 2018 erschien ihnen die damals zugesagte moderate Erhöhung bereits als viel zu hoch. Nach einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur sprachen sich zeitgleich nur 15 Prozent dafür aus, mehr als die von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel bis 2024 versprochenen 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Bundeswehr bereitzustellen.
Nach dem Angriff auf die Ukraine nutzte die Bundesregierung die günstige Situation und kündigte den Militärfonds in dreistelliger Milliardenhöhe an. Nicht einmal drei Monate später steht der Deal nun. Die Ampel-Koalition unter Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat sich geeinigt, auch mit der oppositionellen Union. Die Koalitionäre zeigen sich zuversichtlich, dass das Sondervermögen schnell im Grundgesetz verankert werden kann.
Mit dem Geld soll der reguläre Verteidigungshaushalt aufgestockt werden. Ziel der deutschen Regierung ist es, das Zwei-Prozent-Ziel der Nato (also die Bereitstellung von zwei Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts für das Militärbudget) in den nächsten Jahren zu erreichen. Bislang liegt der Verteidigungshaushalt bei 50 Milliarden Euro. Zwei Prozent des BIP würden den Etat auf 70 Milliarden anwachsen lassen. Diese Summe wird schon seit vielen Jahren von den USA gefordert.
Für die Einrichtung des schuldenfinanzierten Sondervermögens ist eine Grundgesetzänderung nötig. Da die Unionsparteien dem nun zustimmen wollen, hat die Ampel-Koalition die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und Bundesrat dafür. Nun können zukünftig an der Schuldenbremse vorbei Kredite für den Fonds aufgenommen werden.
Einzig die Linksfraktion hat angekündigt, die Grundgesetzänderung und das Sondervermögen für die Bundeswehr im Bundestag abzulehnen. Fraktionschef Dietmar Bartsch sagte der Funke-Mediengruppe: "Angemessene Ausstattung der Bundeswehr für ihren grundgesetzlichen Auftrag ja, Aufrüstung nein."
Bartsch fordert dem gegenüber ein Sondervermögen zum Kampf gegen Kinderarmut.
Die "Zeitenwende", von der Kanzler Scholz im Bundestag am Sonntag, dem 27. Februar dieses Jahres gesprochen hat, wischt mit einem Handstreich überlebenswichtige Anliegen der Friedensökologie und der sozialen Bewegung insgesamt vom Tisch. Keine Kampfdrohnen, Stopp der nuklearen Bedrohung, Abrüstung statt Aufrüstung, Stopp der Umgestaltung der Bundeswehr zur weltweiten Interventionsarmee, ein Grundgesetz des Friedens – all das tat der Kanzler mit ein paar Sätzen ab.
Das zunächst positive Echo aus den Ampel-Parteien und die einhellige Zustimmung aus der CDU ließ schon früh erwarten, dass die Gegenkräfte zumindest kurzfristig nicht den notwendigen Zulauf erhalten, den sie in früheren Jahren erfahren hatten und der im Interesse einer sozial-ökologischen Wende dringendes Gebot fünfzig Jahre nach dem Club-of-Rome-Bericht ist.
Die Heftigkeit der Angriffe auf die außerparlamentarische Opposition erinnert an längst vergangene Zeiten wie die der Auseinandersetzungen um die Kriegskredite 1914, als Karl Liebknecht bekundete:
Unter Protest […] gegen die soziale und politische Pflichtvergessenheit, deren sich die Regierung und die herrschenden Klassen auch heute noch schuldig machen, lehne ich die geforderten Kriegskredite ab.
Damals kannte Kaiser Wilhelm keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche.
Zur Klarstellung: Die Ablehnung von Rüstungsprojekten und weiteren Maßnahmen zur Eskalation relativieren die Kritik an den russischen Völkerrechtsverletzungen in keiner Weise. Notwendig aber bleiben Hinweise auf die zahlreichen Rechtsverstöße von Nato-Staaten sowie den Bruch aller Zusagen für eine Friedensordnung in Europa, die die Sicherheitsinteressen "eines jeden" berücksichtigt, wie es die Präambel des Vertrages zur Deutschen Vereinigung von 1990 verlangt.
All das stellt keinesfalls irgend eine Legitimation für die Aggression Russlands gegen die Ukraine dar. Sie ist zu verurteilen, und sie muss enden, um weitere Vernichtung, Leid und Eskalation zu vermeiden. Dies gilt erst Recht im Atomzeitalter und zudem in einem Staat mit 15 Atomreaktoren, wie sie in der Ukraine stehen.
Im Bundestag führte der Krieg zur Ankündigung von Mitteln für Kriegswaffen, deren Umfang einen Vergleich mit der Dimension der Kriegskredite, die der Reichstag am 2. Dezember 1914 beschloss, nicht zu scheuen braucht.
Reden aus der Koalition und der CDU/CSU rechtfertigen die massive Hochrüstung nicht nur mit dem aktuellen Geschehen in der Ukraine. Sie greifen selektiv auf Konflikte seit dem Georgien-Krieg 2008 auf und übergehen Völkerrechtsverletzungen von Nato-Staaten aus den zurückliegenden Jahrzehnten. Halbwahrheiten bedeuten in Bezug auf Menschenrechte Doppelmoral. Der SPD-Abgeordnete Dirk Wiese führte aus1:
Dabei ist Putins Krieg die Fortsetzung der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim. Er ist die Fortsetzung der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ostukraine; nicht zu vergessen: die Verletzung der territorialen Integrität von Georgien.