Ukraine im EU-Beitritts-Poker: Das wären die Gewinner und Verlierer auf beiden Seiten

EU-Beschluss für Beitrittsgespräche mit Ukraine absehbar. Ablehnung Ungarns und Skepsis anderer ohne Folge. Dahinter stehen größere Pläne – und Risiken.

Seit Beginn des Krieges wird die EU-Mitgliedschaft der Ukraine beschleunigt vorangetrieben, obwohl das Land noch lange nicht die Anforderungen für einen EU-Beitritt erfüllen wird. Diese sehen vor:

  • Stabilität der Institutionen, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten;
  • eine funktionierende Marktwirtschaft;
  • die Übernahme der gesamten gemeinschaftlichen Regeln, Standards und Politiken des EU-Rechts.

Schon durch den Krieg ist Funktionieren und Stabilität der geforderten Verhältnisse nicht gewährleistet. Damit dies eintreten kann, muss erst einmal ein Friedensvertrag zwischen den kriegsführenden Parteien geschlossen werden, der die Frage der russisch besetzten Zonen und der Grenzen regelt.

Selbst wenn dies geschieht, wird die Ukraine weiter ein instabiles und für Konflikte anfälliges Gebilde bleiben. Es ist auch nicht zu übersehen, dass die Ukraine in Hinsicht auf Rechtsstaatlichkeit große Defizite aufweist; Korruption ist immer noch, von der unteren bis zur oberen Ebene, von kleinen bis zu großen Fällen, verbreitet.

Auch die politische und wirtschaftliche Macht der Oligarchen ist zwar durch Krieg und Gesetzgebung gemindert, aber nicht geschwunden. Unbefriedigend ist auch die Behandlung von nationalen Minderheiten in dem heterogenen Land.

Wie begründen EU-Politiker die angestrebte EU-Mitgliedschaft? Angeführt werden vor allem politische Grunde: Es gehe um ein Signal an Russland und die Ukraine, dass Europa weiterhin an der Seite des angegriffenen Landes stehe.

Außerdem folge die EU einer "geopolitische Logik" der "Vervollständigung" der Union.

Der beste Weg, um die Zone von Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa auszudehnen, ist die Aufnahme weiterer Länder in die EU.

EU-Kommission

Mit deutlichen Worten: Im Vordergrund werden Werte wie Freiheit und Demokratie herausgestellt, aber im Kern geht es den führenden Politikern der EU und der großen EU-Länder um Erweiterung des geopolitischen Einflussraums und den damit verbundenen Zuwachs an Wirtschaftsmöglichkeiten und politischer Macht.

Die der Ukraine in Aussicht gestellte Mitgliedschaft ist ein Zug im Pokerspiel zwischen der EU, den USA einerseits und Russland andererseits um den Gewinn des geopolitisch wichtigen, wirtschaftlich zukunftsträchtigen, an landwirtschaftlichen Produkten und an Rohstoffen vermögenden Landes.

Das seit Langem währende Pokern um die Ukraine hat aufseiten Russlands zum kriegerischen Eingreifen geführt – wenn auch hier historisch-ideologische Gründe in den Vordergrund gestellt werden – und aufseiten des Westens zur finanziellen und militärischen Unterstützung des angegriffenen Landes.

Umfragen: Großteil der Ukraine inzwischen proeuropäisch

Bestritten soll dabei nicht werden, dass neuen Umfragen zufolge der größte Teil der Ukrainer inzwischen eine russische Vorherrschaft ablehnt und den EU-Beitritt befürwortet.

Die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen meint zur Aufnahme der Ukraine (und weiterer Länder): "Wir gewinnen alle."

Das kann bezweifelt werden. Die Fortführung des Pokerspiels um die Ukraine kostet nicht nur viel Geld auf beiden Seiten der kriegsführenden Länder und ihrer Unterstützer, die anderweitig dringend benötigt würden, sondern – was viel schlimmer ist – sie führt zu den verheerenden Folgen für Menschen, Wirtschaft und Infrastruktur des Landes durch die Kriegsführung.

Risiken des Krieges nicht übersehen

Dazu kommen die gegenseitigen Obstruktionen und Sanktionen der beteiligten Parteien, die Spaltungen und spürbare Nachteile für Wirtschaft und Bürger in den betroffenen Ländern mit sich bringen. Schließlich können auch die Risiken und Gefährdungen nicht übersehen werden, die von einer Eskalation des Krieges und unberechenbaren Reaktionen der Krieg führenden Machthaber ausgehen.

Wie auch immer der Krieg ausgeht, ob am Ende der Bilanz die Gewinne auf irgendeiner Seite größer sind als die Verluste, ist sehr fraglich.

Der Wiederaufbau der Ukraine wird gewaltige Summen verschlingen. Sollte die Ukraine und der Westen mehr oder weniger als Gewinner aus diesem Krieg hervorgehen (was unsicher ist), dann müsste Europa die Hauptlast der Kosten tragen (es sei denn, man kann Russland dazu bewegen, sich zu beteiligen, was angemessen wäre, aber unwahrscheinlich ist. Die USA werden sich unter dem Einfluss der Republikaner wohl zurückhalten).

Ukraine-Beitritt: 17 Prozent des EU-Haushalts

Man rechnet mit 17 Prozent des EU-Haushalts. Die Kostenverteilung würde unter den Mitgliedsländern Unruhe und Streit hervorrufen, die Aufbringung hätte für Staatshaushalte und den einzelnen Bürger der EU-Länder einschneidende Folgen.

Wie immer müssten die weniger Vermögenden den Gürtel enger schnallen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Kostenaufbringung die EU überfordert.

Wie schwierig es jetzt schon ist Gelder für die Ukraine locker zu machen, zeigt das Veto Orbáns/Ungarns für die Auszahlung weiterer EU-Hilfen (im Übrigen brachte Orban durchaus beachtenswerte Gründe gegen die Aufnahmegespräche mit der Ukraine vor).

Missbrauch von Geldern in der Ukraine

Auch in der Ukraine würde die Verwendung der Mittel zu Streit führen und könnte angesichts der Korruption zu Missbrauch verleiten.

Mit dem versprochenen Wohlstand wird es für die Bürger der Ukraine und Europas nicht weit her sein. Gewinnen werden aber ukrainische und europäische Investoren, die vom Wiederaufbau profitieren.

Zudem wird sich die EU durch die Aufnahme der Ukraine und anderer postsowjetischer Länder verändern, unter anderem würde sich der Schwerpunkt nach Osten und Südosten verlagern. Sollte das Vetorecht jedes einzelnen Mitgliedlandes nicht abgeschafft werden, wird dies das gemeinsame Vorhaben erschweren.

Eine Schwächung der EU und ihres Einflusses ist vorherzusehen. Damit könnte sich die EU-Erweiterung in das Gegenteil dessen verkehren, was sie erreichen soll.

Das Vetorecht abzuschaffen, dürfte schwierig sein, da gerade die kleineren Länder nicht gerne auf diese Einflussmöglichkeit verzichten werden. Der Beschluss müsste auch einstimmig erfolgen.

Die unmittelbare und verlängerte Grenze zu Russland wird Europa nicht sicherer machen und hohe Militärausgaben verlangen – es sei denn, man kommt wieder zu nachhaltigen Friedens- und Abrüstungsabkommen mit Russland.

Würde EU in Konflikt hineingezogen?

Schließlich verlangt Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines EU-Landes "alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung" der übrigen Mitgliedstaaten – dies auch ohne Nato-Mitgliedschaft des angegriffenen Landes (Praktisch wird das schon jetzt für die Ukraine ausgeübt, obwohl sie bisher nicht EU-Mitglied ist).

Ob alle Ukraine-Begeisterten die Risiken und Belastungen sehen, die eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine mit sich bringt, bezweifle ich. Die Politiker, die dieses Vorhaben vorantreiben, nehmen sie im Poker um das Land in Kauf, ohne sie ihren Bürgern zu verdeutlichen.

Nachweise (u.a.):

Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: EU-Beitritt der Ukraine – Die Ukraine auf dem Weg in die Europäische Union

Hubert Wetzel: Ein Signal an die Ukraine – und an Russlan; Süddeutsche Zeitung, 8.11.2023

Harald Neuber: Bis zu 190 Milliarden: So viel würde der EU-Beitritt der Ukraine kosten; Telepolis, 11.12.2023

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