Umwälzungen in den Konsummustern

Auf dem forward2business-Zukunftskongress traf sich die Medienbranche und debattierte über Medienumbrüche und ihre eigene Existenz im Jahre 2015

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Als der amerikanische Pop-Musiker Moby im Januar seine neue Maxi-Single „Lift me up“ veröffentlichte, setzte er sich einmal mehr an die Spitze der musiktechnologischen Avantgarde: Auf der CD befindet sich neben dem Musiktrack auch eine Software, mit deren Hilfe beliebiges Umkodieren von Mobys Song möglich wird. Man hat Zugriff auf die Basslines, die Vocals, den Beat, kann die Melodie umkomponieren, die Geschwindigkeit veränden, Samples integrieren und umarrangieren. Der Musikkonsument wird in die Produktion involviert und auf diesem Weg zum Produzenten. „In der Zukunft können Leute beim Autofahren per Voice Control die Drums von Aerosmith und die Stimme von Billie Holliday zusammenfügen und mit zweifacher Geschwindigkeit abspielen“, prognostizierte Moby dem Time Magazin. Dieser Zukunft ist er mit „Lift me up“ einen gehörigen Schritt näher gekommen.

Um Zukunft, die damit zusammenhängenden Technologien und ein möglicherweise daraus resultierendes Geschäftsmodell ging es an den letzten beiden Tagen auf dem forward2business-Zukunftskongress in Halle (Saale), wo Vertreter der Medienindustrie Einblick in ihre Entwicklerschubladen gaben und (ein abwesender) Moby übrigens den "Sputnik Innovator Award" verliehen bekam. Für Rupert Evans, Chef der britischen Firma Digimpro, die sich auf interaktive Musikanwendungen spezialisiert und die Software für Moby geschrieben hat, sind die Zeiten der physikalischen Distribution in der gesamten Medienindustrie, vor allem aber auf dem Musikmassenmarkt, definitiv vorbei. Allenfalls als Nischenmärkte seien Platten und CDs noch denkbar. Das Hauptgeschäft aber werde mit Downloads und Streaming gemacht, die derzeit gerade einmal zwei Prozent am Umsatz der Musikindustrie einnehmen.

Momentan arbeitet die Industrie an beiden Möglichkeiten: Zum einen werden die Speichergeräte immer kleiner und ihre Kapazität größer – noch in diesem Jahr sollen Handys mit vier Gigabyte Speicherplatz auf den Markt kommen. Zum anderen wird an externen Massenspeichern auch für den mobilen Zugriff gebastelt, so dass sich der Nutzer, wo immer er sich befindet - ob im Auto, im Hotel oder am Strand - mit seiner dort abgespeicherten Lieblingsmusik verbinden lassen kann. „Es geht nicht darum zu besitzen, sondern Zugriff zu haben“, glaubt Sebastian Purps, der bei Ericsson für Musikapplikationen zuständig ist. Dass die Qualität dabei ständig abnimmt, bei iTunes etwa Dateien mit mageren 128 kbit/s angeboten werden, und für Handys noch niedrigere Kodierungen üblich sind, scheint in einer Industrie, die sich gegenwärtig vom Geschäftsmodell Klingelton abhängig macht, niemanden wirklich zu bekümmern.

Nie wieder Werbung

Die gesamte Medienindustrie muss sich auf selbst forcierte Umwälzungen und Änderungen in den Konsummustern gefasst machen. In Spanien beispielsweise, wo man DSL getrennt vom Telefonanschluss mieten kann, verabschieden sich jährlich neun Prozent aus der Festnetztelefonie und wechseln zu Voice-over-IP. Längst haben sich Telekommunikationsanbieter sowie die Hardware-Industrie zusammengeschlossen, um gemeinsam der Gefahr ins Auge zu blicken. Stefan Jenzowsky berichtete auf dem Kongress in Halle über ein von Siemens Communication entwickeltes Geschäftsmodell für „Fernsehen und Gaming ohne Werbung“, basierend auf IP-Television.

Aus Erfahrungen mit dem Festplattenrekordern TiVo in den USA weiß man, dass nur noch 37 Prozent der Zuschauer Fernsehen „normal“, also live verfolgen. 42 Prozent sehen zeitversetzt fern und glotzen die aufgezeichneten Sendungen. Nach zwei Jahren TiVo-Nutzung steigt ihr Anteil sogar auf über 50 Prozent. Den Vorteil erblicken viele darin, dass sie die Werbeblöcke überspringen können. Nach zwei Jahren, so wurde überschlagen, lassen sich 84 Prozent Werbung vermeiden – ein echter Zeitvorteil.

Nun ist bei Siemens der Prototyp eines Gateway entwickelt worden, das sowohl Video-on-demand, als auch einen externen Personal Video Recorder beinhaltet. Damit ist „TV-of-yesterday“ möglich. Man kann verpasste Sendungen nachholen, denn das gesamte Programm aller relevanten Sender wird 24 Stunden lang gespeichert. Ein alternativer Programm-Guide rechnet einem die Zeit aus, ab wann man einen laufenden Spielfilm auf einem Privatsender einschalten kann, um keine Werbung mehr zu sehen (etwa eine Stunde nach Filmstart), weil die automatisch herausgeschnitten wird. Das Preismodell sieht dafür Kosten von 99 Cent vor. Den Film pünktlich, aber ebenfalls ohne Werbung zu betrachten, ist ebenfalls möglich und kostet entsprechend mehr.

Das so genannte Free-TV müsste dann sein Heil in anderen Werbeformen suchen. Product-Placement wird in wohl bislang ungeahntem Ausmaß nicht nur in Daily-Soaps untergebracht. Interaktive Spiele und Call-ins sollen die weiteren möglichen Formen der Refinanzierung von Privatfernsehen sein. In dieser Hinsicht wäre der Ruf-mich-an-Sender „9Life“ wahrhaft modellbildend. Kleine Horrorvision: Am Ende kommt es vielleicht wie in den USA auch bei uns zu „Pledge“: Ein Spielfilm wird mittendrin angehalten, der Zuschauer aufgefordert, eine kleine Summe zu spenden und mit dem Film erst fortgefahren, wenn genügend Zuschauer eingezahlt haben. „Wir haben eine Revolution vor uns“, ist Stefan Jenzowsky sicher, „weil die Medienindustrien ihre Wertschöpfungsketten gegeneinander verdrehen“.

Im Land der tausend Möglichkeiten

Die Medienindustrien stehen noch vor einem weiteren Problem, nämlich vor einem Paradox. Zukunfts- wie Trendforscher sind sich einig, dass Konsumenten neben einer Individualisierung und dem Verlangen nach unbeschränkter Mobilität auch den Wunsch nach Multioptionalität hegen: Niemand will sich festlegen, sondern sich alle Möglichkeiten, so lange es nur geht, offen halten. Nun kann man Musikhörern oder Gamern zwar eilfertig Recomposing-Tools an die Hand geben, mit denen sich eine gewisse Bandbreite an Veränderungen am Soundtrack oder am Spielfortgang bewerkstelligen lassen. Doch stammen diese Hilfsmittel eben von einer Industrie, die damit im Grunde lediglich den Warencharakter ihrer Produkte verschleiern will. Weder Musikmanager noch Künstler dürfte es ernsthaft interessieren, welche individuellen Varianten aus der feilgebotenen Musik und mitgelieferten Software entstehen, solange sich beides verkauft.

Indessen richtet sich die Praxis des Remix oder Recomposing in ihrem ursprünglichen Impuls ja gerade gegen die vorgefertigten Produkte einer Industrie, die immer mehr für sich beansprucht, auf den Lifestyle und die Lebenswirklichkeit der Konsumenten Einfluss zu nehmen. Diese dürften sich kaum mit den mitgelieferten Tools zufrieden geben, eben weil es Industrieprodukte sind, sondern auf eigene, möglicherweise illegale zurückgreifen wollen. In dieser Hinsicht gebührt Moby sicherlich der Verdienst, zu den innovativen Musikern zu zählen, die sich an die Spitze einer neuen Form von Konsumtion begeben. Allerdings entstehen aus diesem Konsum noch lange keine neuen Produzenten.