Umwelthormone: Nur ein moderner Mythos?

Im Zusammenhang mit endokrinen Disruptoren oft erwähnt: Bisphenol A. BPA ist ein Ausgangsstoff für die Herstellung von Polycarbonaten und Epoxidharzen. Allein in Europa wurden um 2005 rund eine Million Tonnen BPA jährlich hergestellt. Die Chemikalie ist regelmäßig Gegenstand von Kommunikationsproblemen. Bild: Bernd Schröder

Das Gefährdungspotential für den Menschen ist umstritten - Endokrine Disruptoren, die EU und der Freihandel - Teil 1

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Als endokrine Disruptoren (ED) gelten Chemikalien, die die natürliche biochemische Wirkweise von Hormonen beeinflussen - mit schädlichen Folgen. Sie können beispielsweise Wachstum und Entwicklung stören, zu erhöhten chronischen Krankheitsbelastungen wie Fettleibigkeit und Diabetes mellitus beitragen und außerdem zu Beeinträchtigungen der Funktionen der Fortpflanzungsorgane und der Schilddrüse führen.

Die Geschwindigkeit, mit der die Zahl der Krankheitsfälle über die vergangenen Jahrzehnte zunahm, schließt in den Augen der Wissenschaftler genetische Faktoren als einzige plausible Erklärung aus. Experimentelle Beobachtungen deuten darauf hin, dass Chemikalien Hormonsignale stören und so das Timing von Pubertät, Fruchtbarkeit und Menopause beeinflussen können.

Diese und weitere Gesichtspunkte sind zu einer international anerkannten wissenschaftlichen Definition dieser Stoffe zusammengefasst, die mit dem Bericht "Global Assessment of the State-of-the Science of Endocrine Disruptors" von der Weltgesundheitsorganisation WHO und dem International Programme on Chemical Safety (IPCS) im Jahre 2002 publiziert wurde.

Was endokrine Disruptoren hingegen im regulatorischen Sinne sind, ist Gegenstand anhaltender wissenschaftlicher und politischer Debatten. Bisher gibt es keine eindeutige Antwort auf diese Frage. Die im Umlauf befindlichen Definitionen unterscheiden sich im Wortlaut und in ihren Folgen für regulatorische Prozesse.

In den letzten Jahren wurde eine beträchtliche Menge neuer Erkenntnisse zusammengetragen, mit zum Teil durchaus besorgniserregendem Charakter. Doch die Politik tut sich schwer, dieses Wissen in die Gesetzestexte zur Regulierung von Chemikalien einfließen zu lassen. Im Dezember 2015 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Rahmen einer Untätigkeitsklage entschieden, dass die EU-Kommission mit ihren fortgesetzten Stehversuchen gegen einschlägige EU-Rechtsvorschriften verstoßen hat. Denn eigentlich sollten bis Ende 2013 einheitliche Kriterien zur Bestimmung endokrinschädigender Eigenschaften festgelegt worden sein: Gesetze und Verordnungen benötigen eine klare Sprache, um zu umreißen, was wie geregelt werden soll.

ED-Poster Boy: Bisphenol A

Bisphenol A (BPA) ist einer der bekanntesten ED-Vertreter. In den Nachrichten tauchte BPA immer wieder im Zusammenhang mit Gebrauchsgegenständen und der Nahrungszubereitung von Kleinkindern auf, zum Beispiel erst jüngst in einer Meldung des Nachweises von BPA in als BPA-frei deklarierten Beißringen, oft im Verein mit anderen potentiellen ED.

Als erstes Land hatte Kanada 2008 BPA offiziell als gesundheitsschädlich eingestuft und aus Babyflaschen verbannt. Andere Länder folgten. Seit 2011 sind Produktion und Verkauf von Babyflaschen aus BPA-haltigem Polycarbonat in der EU verboten, die USA zogen 2012 nach. Doch der Bann wurde nicht auf andere Behältnisse ausgeweitet, BPA galt für diese Anwendungen weiterhin als sicher.

In ihrer Neubewertung von BPA kam die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) 2015 zum Schluss, dass von der Substanz keine Gesundheitsgefährdung für die Verbraucher ausginge, da die gegenwärtige Exposition zu gering sei, um Schädigungen hervorzurufen - selbst bei der Aufsummierung von Einträgen aus allen möglichen Quellen wie Lebensmittelverpackung, Kosmetika, Staub und Thermopapier würde eine postulierte sichere Obergrenze nicht überschritten.

Ende Dezember 2016 beschloss das Komitee der Mitgliedsstaaten der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA), BPA wegen seiner Toxizität auf die Fortpflanzung als besonders besorgniserregenden Stoff (SVHC) auf die REACH-Kandidatenliste zu setzen.

Bei dieser Gelegenheit ebenfalls in die Liste aufgenommen: die ED 4-Heptylphenol, 4-tert-Pentylphenol und 4-tert-Butylphenol. Die gelisteten Substanzen können nun unter Umständen zulassungspflichtig und nach einem Ablaufdatum nur noch nach stattgegebenem Zulassungsantrag verwendet werden - zumindest theoretisch. Denn in der Praxis setzt die EU-Kommission die Empfehlungen zur Zulassungspflicht immer seltener um.

Macht die Dosis noch das Gift? Niedrigdosen und "nicht-monotone" Dosis-Wirkungs-Beziehungen

Ein weiteres Ergebnis der EFSA-Neubewertung war die Schlussfolgerung, dass die vorliegenden Daten keine Beweise dafür lieferten, dass BPA "nicht-monotonen" Dosis-Wirkungs-Beziehungen bei Gesundheitseffekten folgen würde.

Unregelmäßige Dosis-Wirkungs-Beziehungen bei ED sind seit Jahren umstritten, ebenso wie Hypothesen zu Wirkungen niedriger Dosen und deren biologischer Relevanz. Der Aufklärung der Gültigkeit dieser Hypothesen kommt eine entscheidende Rolle beim Verständnis der Wirkung von ED zu. Denn sollten sie sich beweisen lassen, stünden Umwälzungen bei grundlegenden Konzepten der Toxikologie und der Risikobewertung ins Haus.

Das natürliche Sexualhormon Estradiol (links) und ein strukturell ähnlich gebautes Nonylphenol-Isomer (rechts). Bild: Bernd Schröder

Niedrige Konzentrationen reichen wie bei anderen bekannten ED aus, um hormonell wirksam zu sein. So lassen wenige Mikrogramm pro Liter Nonylphenol in Labortests nur weibliche Nachkommen bei Fischen heranwachsen. Außerdem wurden Änderungen im Verhalten beobachtet.

Nonylphenole kommen in Form ihrer Ethoxylate in Seifenprodukten vor und sind nach dem Abbau zu Nonylphenolen im Klärwerk eine häufig angetroffene Verunreinigung in Wasserläufen. Sie sammeln sich in den Mündungsgebieten der Flüsse an, die typischerweise die Kinderstube schwarmbildender Fische sind. Nonylphenol und verwandte Chemikalien sollen die Kommunikationsfähigkeit der Fische untereinander blockieren und so die Schwärme aufbrechen - schon bei Konzentrationen, wie sie etwa in der Nähe von menschlichen Siedlungen zu erwarten sind. In der EU sind Nonylphenole und verwandte Ethoxylate in zahlreichen Verwendungen mittlerweile verboten, Nonylphenol ist im Rahmen der Wasserrahmenrichtlinie als prioritär gefährlicher Stoff eingestuft. In den USA unterstützt die EPA einen freiwilligen phasenweisen Ausstieg. In Asien und Südamerika ist Nonylphenol in kommerziellen Waschmitteln noch weit verbreitet.

Bei offiziellen Stellen wurden bisher keine Indizien dafür gefunden oder anerkannt. Folglich sieht man auch keine Notwendigkeit, ED anders zu handhaben als andere Substanzen mit Gesundheits- oder Umweltbedenken. Wie ein Le Monde-Artikel vom November 2016 illustriert, wurde dieser Ansatz als Leitmotiv in Stein gehauen: Diese Schlussfolgerung eines Meinungsbeitrags der EFSA aus dem Jahre 2013 soll Brüssel als Grundlage zur Regulierung von ED dienen, die nun im Zuständigkeitsbereich der Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit der EU-Kommission liegt.

Nicht nur die EU-Mitglieder Frankreich, Dänemark und Schweden sträuben sich dagegen, es gibt außerdem Widerstand von NGOs und Fachwissenschaftlern, wie etwa von der Endocrine Society. Dabei besteht die EU-Kommission darauf, von wissenschaftlichem Rat geleitet zu werden - von dem der EFSA. Bei Le Monde erklärt man diesen Widerspruch nach Sichtung vorliegender Unterlagen damit, dass der Schlüsselsatz, um den sich das geplante Regulierwerk der Kommission rankt, bereits vorher niedergeschrieben war - noch bevor die Arbeit an einer wissenschaftlichen Expertise begonnen hatte.

Fluoxetin, der Wirkstoff von Prozac oder Fluctin. Das Antidepressivum ist das in den USA am dritthäufigsten verschriebene Medikament und wird vermehrt in Wasserläufen nachgewiesen. Mittlerweile ist neben Bioakkumulation und Verhaltensänderungen in aquatischen Lebewesen auch das ED-Potential von Pharmaprodukten wie Fluoxetin Gegenstand der Forschung geworden. Bild: Bernd Schröder

Der 2013 kurze Zeit vor dem Meinungsbeitrag der EFSA erschienene gemeinsame WHO/UNEP-Bericht schätzte eine herkömmliche Risikobewertung im Falle endokriner Disruptoren als ungeeignet ein. Vielmehr sieht der Bericht diese Verbindungen als eine globale Bedrohung, für die eine Lösung gefunden werden müsse.

Seit dem zehn Jahre zurückliegenden WHO/IPCS-Bericht waren neue Gesichtspunkte hinzugekommen, wie etwa über Generationen weitergereichte Effekte, komplexe Wirkungen von ED-Cocktails oder neu entdeckte Wege, über die ED auf den Menschen und seine Umwelt einwirken. Die Studie geht von bis zu 800 bekannten Substanzen mit ED-Potential aus. Die Nonprofit-Organisation TEDX kommt auf fast 1000 Verbindungen. Weitere Listen sind im Umlauf. Bisher wurden nur wenige dieser Substanzen Tests unterzogen, die endokrine Effekte in Organismen belegen können.

Methoxychlor war einst als DDT-Ersatz gedacht, wurde aber mittlerweile wegen seiner akuten Giftigkeit, seiner Anreicherung im Fettgewebe sowie aufgrund seines ED-Potentials als Pestizid in der EU und in den USA verboten. Bild: Bernd Schröder

Ein Fall für Sigmund Freud

Doch von der einmal vorgegebenen Marschrichtung ließ man sich bei der EFSA auch durch den WHO/UNEP-Bericht nicht abbringen.

Für Kritiker ist das eine Abkehr vom Prinzip evidenzbasierter Politikgestaltung, hin zu politikbasierter Evidenzgestaltung. Bei offiziellen Stellen wiederum trägt diese Sicht der Dinge Züge einer Verschwörungstheorie.

Die seit 2009 angesammelten neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Krankheiten und Exposition im Zusammenhang mit ED finden zwar in einer im Juni 2016 publizierten Folgenabschätzung der Politikoptionen durch die EU-Kommission Erwähnung, werden dort aber als kontrovers interpretierbar eingestuft.

Die EU-Kommission stützt sich in ihrem abwertenden Resümee vorliegender Studien auf "kritische Kommentare" zum WHO/UNEP-Bericht, die 2014 erschienen. Sieben der zehn kritischen Autoren arbeiten in Beratungsunternehmen, die auf "Produktverteidigung" spezialisiert sind. Als Sponsoren des Artikels werden Interessenverbände der Industrie aufgeführt: American Chemistry Council, CropLife America, CropLife Canada, CropLife International, der Verband der Europäischen chemischen Industrie (Cefic), und die European Crop Protection Association (ECPA).

Ein anderer zitierter Artikel beschreibt ED als urbane Legende, von der imaginäre Gesundheitsrisiken ausgingen. Die Autoren lassen die Leser an einer besonderen Beobachtung teilhaben: Würden nicht Begriffe wie die mit ED in Verbindung gebrachte Feminisierung von Männern, eine reduzierte Penislänge und -größe oder eine abnehmende männliche Fruchtbarkeit vor allem männliche Vorstellungen und Empfindlichkeiten bedienen? Denn im Grunde genommen sind die meisten Forscher auf dem Gebiet der ED Männer - und, wichtiger noch: ebenso die Politiker, die die Forschungsgelder verteilen. Ein bloßer Zufall? Man solle sich daher fragen, ob die gesamte ED-Thematik nicht eher in den Zuständigkeitsbereich von Dr. Sigmund Freud gehöre als in den der Toxikologie.

Studien zu Folgekosten

Von der Endocrine Society gesponserte Studien zur Abschätzung von Folgekosten für die Gesundheitssysteme der USA und der EU waren Zielscheibe von Angriffen der Interessenverbände der chemischen Industrie, hier zum Beispiel vom American Chemistry Council vorgetragen, der Haupthandelsorganisation der chemischen Industrie in den Vereinigten Staaten, in deren Augen die Autoren der Studien trotz ungezwungener Gleichgültigkeit gegenüber wissenschaftlichen Grundsätzen ein hartnäckiges Streben nach Schlagzeilen an den Tag legten.

Die gesundheitlichen Folgekosten von endokrinen Disruptoren in der EU werden dort mit rund 157 Milliarden Euro pro Jahr veranschlagt. Die geschätzten Kosten werden der Studie zufolge fast ausschließlich durch eine Verringerung des Intelligenzquotienten und durch geistige Behinderungen auf Grund vorgeburtlicher Einwirkungen von Agrarchemikalien auf der Basis von Organophosphaten verursacht.