"Unmoralische Position"

Tunesien: Ein Vergewaltigungsfall entfacht die Kritik an der "moralischen und politischen Verantwortung" der Regierung

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Lange Zeit galt der rechtliche Stand der Frauen in Tunesien als vorbildlich und vorzeigbar. Die Personenstandsgesetze ("Code du statut personnel") aus dem Jahr 1956, so wird immer gerühmt und derzeit ganz besonders herausgestellt, hätten den tunesischen Frauen die modernsten rechtlichen Status in der arabischen Welt zugewiesen. Als die regierende islamistische Partei vor einigen Wochen versuchte, die Gleichstellung der Frauen in einem Verfassungsartikel mit einer Formel zu ersetzen, die im Gegensatz zu den rechtlichen Errungenschaften interpretiert wurde, gab es heftige Proteste. Die Ennahda ließ das Vorhaben fallen. Jetzt sieht sie sich einem neuen Proteststurm gegenüber.

NGOs, feministische und zivilgesellschaftlichen Vereinigungen, aber auch Mitglieder anderer Parteien werfen der Ennhada vor, was der Anwalt des Opfers einer Vergewaltigung von Polizisten am deutlichsten formuliert: Die tunesische Regierung sei für die Vergehen der Polizei verantwortlich, "moralisch und politisch". Zwar habe sie die Vergewaltigung nicht befohlen, aber man habe in den letzten Monaten eine Situation befördert, in der ein Klima entstand, das von sexuellen Belästigungen und einem sexistischen Vorgehen gegen Frauen im Namen des Islamismus geprägt war.

Dem Protest zugrunde liegt der Fall eines Paars, das von Polizisten in einem Auto in einer "unmoralischen Position" entdeckt wurde. Was unter "position immorale", ein Ausdruck, den der Innenminister gebrauchte, genau zu verstehen ist, weiß niemand; die Frau gibt an, dass sie angezogen war. Unbestritten ist, was nach der Entdeckung des Paares geschah. Ein Polizist hielt den Verlobten fest; die anderen beiden brachten die Frau gewaltsam weg und vergewaltigten sie.

Der Vorfall erregte in den letzten beiden Tagen internationale Aufmerksamkeit, weil das Paar eine Gerichtsvorladung bekam. Sie sind angeklagt, gegen die guten Sitten verstoßen zu haben. Die vergewaltigte Frau könnte eine Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten erwarten, heißt es in manchen Berichten. Daran entzündet sich nun der Protest. Das Opfer werde zum Täter gemacht. Es wäre ja nicht das erste Mal.

Die drei Polizisten sind bereits hinter Gittern, weswegen Regierungsvertreter dem entgegenhalten, dass es nicht einen, sondern zwei ganz unterschiedliche Vorwürfe gebe, einmal wegen Vergewaltigung, zum anderen wegen des Verstoßes gegen die guten Sitten, wobei das erstere nicht mit dem zweiten zu entschuldigen sei. Die Entscheidung des Gerichts in Sachen gute Sitten wurde nun auf den 2. Oktober verschoben.

Die Erklärungen des Innenministers mit seinem Verweis auf die unterschiedlichen Anklagepunkte dürften den Zorn der Empörten nicht lindern. Die Art, wie mit der Frau umgegangen wurde, gilt Kommentatoren als weiteres Indiz dafür, dass Kultur und Klima des Landes von einer religiösen Moral beherrscht werden, die Freiheitsrechte deutlich einschränkt und, was Strafen angeht, die Falschen im Auge hat, wie sich etwa beim Umgang mit Medienvertretern und Journalisten zeigt.