Unsittliche Verhältnisse, schwarze Nachbarn in der Pianobar und der lange Weg ins Schlafzimmer

An einem einsamen Ort, Teil 3

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Zu Teil 1: An einem einsamen Ort: Der American Dream zwischen Humphrey Bogart und Donald Trump

Zu Teil 2: Freies Unternehmertum, zwei Frauenleichen und ein Blumenträger

Sehen eines guten Films ist wie Huckleberry Finns Reise auf dem Mississippi im Roman von Mark Twain. Man lässt sich mit der Strömung treiben, bleibt unterwegs auch mal an einem Hindernis hängen oder legt an einer guten Stelle an und lässt sich davon überraschen, was es da zu entdecken gibt. Heute werden wir einem zum Vizepräsidenten aufgestiegenen Radiomoderator begegnen; einem Kinderpsychologen, zu dem Gott gesprochen hat; einem Senator, der Anton Tschechow für Stalins Agenten hält; und einer Hitchcock-Blondine, die keinen BH anhat.

Weitere Highlights: Laurel Gray macht eine Aussage. Humphrey Bogart ist kein Kommunist und gibt als Dixon Steele Regieanweisungen beim Frauenwürgen. Gloria Grahame unterschreibt einen Knebelvertrag, weil sonst am Ende noch Hillary Clinton bestimmt, mit wem das eigene Kind aufs Klo geht und was es da zu sehen kriegt. Frank Sinatra singt ein zensuriertes Lied dazu und streicht Sammy Davis Jr. von der Gästeliste für John F. Kennedys Inaugurationsfeier, weil sein Freund schon wieder mit der falschen Frau verheiratet ist.

Auf unserem Floß ist Sammy genauso willkommen wie Hucks Freund Jim und Hadda Brooks, die Königin des Boogie, denn ohne diese drei wäre die amerikanische Kultur- und Seelenlandschaft, durch die uns die Reise führt, viel ärmer.

Kein Kaffee mehr

Laurel Gray sitzt in Captain Lochners Büro, um eine Aussage zu machen. Solche Szenen gehören zum Standardrepertoire des Kriminalfilms und sind meistens ziemlich langweilig, weil man sie schon tausendmal gesehen hat. Bei Ray wird daraus ein spannendes Minidrama. Es geht damit los, dass Laurel auf Lochners Schreibtisch einen Kaffeebecher entdeckt, in die Hand nimmt und einen Blick hinein wirft (ein Inszenierungseinfall des Regisseurs). Der Becher ist fast leer. Andrew Solt, der dem Zauber Hollywoods verfallene Drehbuchautor von In a Lonely Place, fand das unmöglich, weil nicht damenhaft: "Das ist falsch. So etwas tut ein richtiges Flittchen, sie aber nicht."

In a Lonely Place

Solt hat schon recht. Damenhafte Zurückhaltung geht anders. Ray war daran auch nicht gelegen. "Je einfacher, direkter, ehrlicher, desto besser für das Erschaffen von Laurel, aus Fleisch und Blut", notierte er in seinem Drehbuchexemplar. Laurel ist eine Frau, die weiß, was sie will und daraus kein Geheimnis macht. Es ist früher Morgen, sie wurde von der Polizei aus dem Bett geholt, jetzt möchte sie eine Tasse Kaffee. Lochner, der gern moralisiert und bestimmt, was richtiges Benehmen ist, bringt das in die Defensive. Er hat ihr keinen Kaffee angeboten und muss sich nun entschuldigen, weil nichts mehr da ist.

Das Undamenhafte rückt Laurel näher an Dix Steele heran, der so wenig ein Gentleman ist wie sie eine Lady (oder was man sich in den spießigen 1950ern darunter vorstellte). Zugleich entfernt es sie von Lochner, dem Hüter des Gesetzes und der bürgerlichen Sekundärtugenden. Für Lochner ist Dix der Hauptverdächtige, weil er seine Drehbücher in seiner Wohnung schreibt und nicht in einem Büro, keine geregelten Arbeitszeiten hat, Frauen spätnachts mit nach Hause nimmt und kühl und gefasst auf die Nachricht von Mildreds Ermordung reagiert, statt sich auf eine klischeehafte Weise betroffen zu zeigen.

Der wahre Täter wirkt auf den Chef der Mordkommission unverdächtig, weil er einer geregelten Arbeit nachgeht, als unverheirateter Mann noch bei seinen Eltern wohnt und den trauernden Hinterbliebenen spielt, wenn seine Verlobte im Straßengraben gefunden wird, wo er sie selbst hingeworfen hat. Im Rahmen von Lochners Welterklärungsmodell ist Dix Steele aufgrund seines unbürgerlichen Lebensstils und seines nonkonformistischen Verhaltens der logische Verdächtige. Ray lässt kein gutes Haar an diesem Polizisten, der sich von Vorurteilen die Sicht verstellen lässt. Die Bösewichte sind nicht immer die Männer mit dem Schaum vorm Mund.

In a Lonely Place

"Tut mir leid", sagt Lochner, "kein Kaffee mehr". Er und Laurel blicken sich an. Dix sitzt hinter Laurel. Sie beginnt mit ihrer Aussage und erfährt, dass Mildred Atkinson zwischen ein und zwei Uhr nachts ermordet wurde. Dix hat sie als Alibizeugin angegeben und hofft, dass sie gesehen hat, wie Mildred froh und munter sein Apartment verließ. Lochner hofft, dass das Alibi des Verdächtigen seiner Befragung nicht standhalten wird. Er hat verloren, als Laurel sich zu Dix umdreht. Sie mustert Steeles Gesicht, nimmt Blickkontakt zu ihm auf. Das weitere Verhör über wird dieser Kontakt Bestand haben. Blicke etablieren bei Nicholas Ray Loyalitäten.

In Rays Inszenierung ist Laurel eine Frau, die sich zwischen zwei Männern und ihren Geschichten entscheiden muss. Ist Dix unschuldig oder, wie Lochner denkt, der Mörder? Ray liebte solche Dialogsituationen mit drei oder mehr Personen (Brub sitzt als stummer Beobachter mit dabei). Sie eröffneten ihm die Möglichkeit, die Geschichte in Bildern zu erzählen, während geredet wird. Laurel entscheidet sich für Dix, weil ihr sein Gesicht gefällt. Wenn sie sich zu ihm umdreht befindet sich Lochner in ihrem Rücken. Den Polizisten zwingt das, seinen Platz zu verlassen, um den Schreibtisch herumzugehen und sich in Laurels Blickrichtung zu setzen.

In a Lonely Place

Von seinem neuen Platz aus versucht er, das durch Blicke geknüpfte Band der Loyalität zwischen Dix und Laurel zu zerreißen. Das misslingt schon deshalb, weil Ray den Stuhl für Lochner so hingestellt hat, dass der Polizist nun seitlich hinter Dix sitzt. Inszenieren heißt, Schauspieler und Requisiten so zueinander in Bezug zu setzen, dass sich eine sinnvoll in die Handlung integrierte Botschaft daraus ergibt. Ray hat sich für eine Schuss-Gegenschuss-Montage entschieden, in der Dix und Laurel durch das eyeline match (die durch den Schnitt erzeugte Illusion, dass sie sich anschauen) verbunden sind.

In a Lonely Place

Lochner sitzt mit dabei, hat die Kontrolle verloren, wird durch die Inszenierung in seinem eigenen Büro zum Außenseiter. Er stellt seine Fragen, ohne etwas ausrichten zu können. Der Blickkontakt zwischen Laurel und Dix hält. Sie gibt Dix das erforderliche Alibi. Laurel hat gesehen, wie Mildred sein Apartment verließ. Lochner muss den Verdächtigen gehen lassen. Für Dix und Laurel ist das der Beginn einer Liebesbeziehung, die hält, solange sich die beiden in die Augen schauen können. Sie zerbricht, wenn sie dazu nicht mehr in der Lage sind. In a Lonely Place ist auch ein Film über die zersetzende Wirkung des Verdachts. Denn Lochner gibt nicht so einfach auf.

I Hadn’t Anyone Till You

Ob mit Joe McCarthy und Roy Cohn oder ohne sie: Eine Spezialität der McCarthyisten war es, Elemente aus den Lebenslauf einer Person herauszugreifen und diese so hinzudrehen, dass sie den Verdacht zu bestätigen schienen, sie gehörten zur Fünften Kolonne Moskaus. Im Falle von Dix Steele geht es (vordergründig) nicht um Politik, sondern um einen Hang zur Gewalt, weil ihm nicht kommunistische Subversion vorgeworfen wird, sondern ein Mord. Drei Wochen nach dem Tod von Mildred Atkinson lässt Lochner Laurel zu sich kommen, um ihr das belastende Material zu zeigen, das er gegen Dix gesammelt hat: "Prügeleien, Skandale, Zerstörung. Das alles läuft auf dasselbe hinaus - auf einen unberechenbaren, gewalttätigen Menschen."

In a Lonely Place

Laurel glaubt nicht, dass die Informationen in einer Polizeiakte Dix zum Mörder machen, aber Zweifel an seiner Unschuld sind geweckt. Lochners Insistieren hinterlässt bei Laurel genauso Spuren wie bei Dix. Einmal sitzen die beiden mit anderen Gästen am Flügel einer Pianobar. Der Klavierdeckel dient zum Abstellen der Gläser. Die Jazzpianistin Hadda Brooks, die "Königin des Boogie", singt einen Blues: I Hadn’t Anyone Till You. Ray erlaubt sich eine schöne, für einen 1949 gedrehten Film geradezu revolutionäre Geste, die man erst richtig würdigen kann, wenn man weiß, dass die gewichtigste Währung des Hollywoodkinos die Einstellungsgröße war.

In a Lonely Place

Das Grundprinzip ist simpel. Umso größer der Star, desto näher kommt die Kamera und desto länger verweilt sie. Ray spendiert Hadda Brooks drei Nahaufnahmen. Eine davon dauert sehr lange 25 Sekunden. Damit begeht Ray einen doppelten Regelverstoß, weil er durch die Wahl der Einstellungsgröße nicht nur eine Nebendarstellerin in den Kreis der Privilegierten holt, sondern eine Afroamerikanerin. Schwarze wurden damals mit dienenden Rollen abgespeist und hatten keine Einstellung für sich allein zu beanspruchen, mit weißen Statisten im Hintergrund.

Bei der Kinoauswertung im Jahre 1950 müsste das viel stärker gewirkt haben als heute. Inzwischen haben sich die mit Weltanschauung und Ideologie verbundenen Sehgewohnheiten geändert und die Nahaufnahmen fallen nicht mehr so auf. Wir wollen hoffen, dass es so bleibt. Für die "Let’s Make America White Again"-Anhänger sei angemerkt, dass Hadda Brooks’ Biographie als Beleg für die Legitimität der Präsidentschaft des 1961 in Honolulu geborenen Barack Obama dienen kann. Hadda sang 1959 bei der Feier zur Aufnahme von Hawaii in die Vereinigten Staaten von Amerika. Obama kam doch in den USA zur Welt, auch wenn sein Nachfolger jahrelang etwas anderes insinuierte.

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