Urheberrechts-Piraterie oder Erhaltung nationalen Kulturguts?

Russische Web-Bibliotheken stehen vor Gericht

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"Gerichtsverfahren gegen die Bibliothek Moschkow wegen systematischer Verletzung des Gesetzes über das Autorenrecht" - so steht es im anti-utopischen Cyberpunk-Roman "Das Spinnennetz" von Aleksei Andrejew aus dem Jahr 1998. Die Prophezeiung des bekennenden Futurologen ist nun Wirklichkeit geworden.

Die Betreiber der kostenpflichtigen Netzbibliothek des Multi-Portals KM.ru haben Anklage gegen eine Reihe "freier" russischer E-Libraries erhoben wegen Missachtung des Copyrights und im Auftrag der von ihnen vertretenen Autoren, darunter so bekannter literarischer Größen wie der Krimi-Autorin Aleksandra Marinina, der Science-Fiction-Schriftsteller Eduard Geworkjan und Wasili Golowatschow sowie der populären Autorin von Liebesromanen Jelena Katasjonowa. Der Streitwert beläuft sich auf phantastische 500.000 Dollar. Die russische Internet-Szene, der Idee eines juristisch fixier- und einklagbaren Autorenrechtes abgeneigt, ist in Aufruhr.

Nach Tagen der Ungewissheit und einer ungeheuerlichen Erhitzung der Gerüchte-Küche hat am 8. April 2004 tatsächlich die erste Anhörung vor einem Moskauer Bezirksgericht stattgefunden. Doch die Rechtslage bleibt nach Aussage der mit dem Fall vertrauten Juristen in vielen Punkten weiterhin unklar. Gleiches gilt für die Gemütslage: Eine Reihe der von KM online, der Betreiber-Firma des Portals und seiner Content-Projekte, angeblich vertretenen Autoren sind über das Vorgehen gegen die kostenfreien Web-Bibliotheken, darunter diejenige des Ur- und Übervaters der russischen Netz-Bibliothekare Maksim Moschkow, nicht informiert, nicht einverstanden oder offen empört.

Der Literaturagent von Alexandra Marinina, der wohl prominentesten in den Konflikt verwickelten Autorin, erklärte denn auch im Interview mit dem Online-Journal "Computerra", dass bereits seit Jahren "Bücher" der Erfolgsautorin in der populären E-Library zugänglich seien, auf deren weitere freie Zugänglichkeit bei dem Abschluss des Vertrags mit KM online penibel geachtet worden sei. Die Schriftstellerin hege dementsprechend keine Vorbehalte. Zudem bezieht sich das tatsächlich eingeleitete Verfahren gegen www.aldebaran.ru und www.lib.nexter.ru lediglich auf die Verbreitung des ersten Werkes der Autorin "Der Seraphim mit den sechs Flügeln", das diese offensichtlich gänzlich aus dem Verkehr ziehen will, auf dem Papier wie im Netz.

"Gogol erhebt keine Anklage gegen Moschkow": Banner aus dem Live-Journal zur Unterstützung der Bibliothek Maksim Moschkow

Es bleibt die Anklage des Phantasten Eduard Geworkjan, die als einzige direkt gegen Moschkow gerichtet ist und sich ironischerweise auf sein Buch "Regeln im Spiel ohne Regeln" (Prawila igry bez prawil) bezieht. Besonders erbost ist die Netz-Community jedoch über den zynischen Stil der "Manager" von KM online, die von modernem Piratentum sprechen - ein Affront, da gerade Moschkow in der Vergangenheit die Rechte der Autoren stets penibel beachtet hat.

Ungeachtet der Tatsache, dass die Bibliothek Maksim Moschkows nur eine der beschuldigten Ressourcen ist – zu den anderen angeklagten Websites gehören www.litportal.ru, www.aldebaran.ru, lib.nexter.ru, www.bestlibrary.ru, www.edu-all.ru –, steht sie als allseits geschätzte Institution im Brennpunkt des Interesses, wird zum Kristallisationspunkt einer grundsätzlichen Auseinandersetzung um die Zukunft der russischen Literatur im Netz.

Beschuldigt: Maksim Moschkow, der Volksbibliothekar

Die Internet-Bibliothek Maksim Moschkows kann mit Fug und Recht als die literarische Site des russischen Internet gelten. Seit Jahren führt sie die diversen Web-Ratings an und heimste so gut wie jeden Internet-Preis ein. Online seit dem Jahr 1994, der Gründerzeit des russischen Internet, beeindruckt die Site heute durch ihr konsequent veraltetes Layout, das zum Markenzeichen geworden ist. Umfang und Vielfalt des Textangebots sind beglückend: (Zeitgenössische) Poesie & Prosa, Science-Fiction & Krimis, Kulturwissenschaft & Computerfachliteratur, Kinderbuch & Übersetzung – alles ist da.

Der Zugriff auf die Bibliothek ist kostenlos. Die "Bücher" werden von den Lesern selbst ausgewählt, eingescannt und publikationsfertig an die Bibliothek geschickt, die damit den Geschmack ihres Publikums widerspiegelt:

"Die Zusammensetzung und Qualität der Texte dieser Bibliothek wird von den Lesern bestimmt, ich stehe hier lediglich ‚am Empfang’"

fasst Maksim Moschkow seine Rolle zusammen

– eine bescheidene Untertreibung angesichts der Vielzahl von Projekten, die der Enthusiast auf seiner Site beheimatet, wie beispielsweise die Zeitschrift "Samizdat.ru" oder das Selbstschreibe-Portal "Zagranica", das dem Leben in der Emigration gewidmet ist.

Der Wille des Autors ist das Gesetz

Maksim Moschkow

Zum Copyright vertritt Moschkow eine eher pragmatisch als programmatische Position: Eine große Anzahl von Autoren, darunter die erwähnte Alexandra Marinina oder die auch in Deutschland viel gelesenen Autoren Boris Akunin und Wiktor Pelewin, haben ausdrücklich die Erlaubnis zur Publikation ihrer Werke gegeben. In allen anderen Fällen wird eine Politik der "Publikation auf Widerruf" praktiziert, d.h. die Texte werden auf Bitten der Autoren umgehend von der Site entfernt.

Die Bibliothek Moschkow ist also der klassische Fall einer "Volksbibliothek", einer Bibliothek "von unten", wie sie in ähnlicher Form auch im "Projekt Gutenberg" existiert. Mit dem Unterschied, dass dort zeitgenössische Literatur aus Gründen einer "harten" Interpretation des Copyright fast gänzlich fehlt. Die Bibliothek Moschkow ist jedoch nicht nur einzigartig in ihrem Umfang und ihrer Konzeption, sie hat Kultstatus und steht für ein Modell der Netz-Etiquette, das auf Enthusiasmus, geteilten Idealen und gemeinschaftlicher Arbeit beruht. Der Literaturwissenschaftler und Netzjournalist Roman Leibow spricht denn auch von dieser Ressource als der "heiligen Kuh des Runet" und bringt damit die Meinung der überwiegenden Mehrheit der russischen User zum Ausdruck.

Die Kläger: die "VIP-Apostel" von KM online

An die Stelle gemeinschaftlicher Partizipation tritt bei VIP.KM.ru das Ausschlussprinzip, wovon die Vorliebe für "VIP"s und "Exklusivität" zeugt. Die Firma ist ein Ableger des Unternehmens KM, das sich seit 1998 vor allem um die Erstellung multimedialer Lehrstoffe bemühte und eine Reihe von elektronischen Nachschlagewerken produzierte. 2001 ging KM.ru als Multi-Portal an den Start. Seit 2003 wird an der Strategie und Umsetzung des VIP-Bibliothek-Projekts gearbeitet. Hinter KM online steht – über eine Firmenbeteiligung – das Unternehmen R-Style, auf das sich die Proteste der Internet-Szene nun zunehmend konzentrieren.

Dabei hat sich die Firma die Verpflichtung gegenüber dem russischen Schrifttum sogar in den eigenen Namen geschrieben: das Firmen-Kürzel "KM" steht für Kirill und Methodius, die so genannten Slawenapostel, die im 9. Jahren n. Chr. mit der Schaffung des ersten slavischen Alphabets, der so genannten Glagolica, die Grundlagen für die heutige russische Literatur legten. Deren uneingeschränkte Verbreitung den VIP-Aposteln heute freilich ein Dorn im Auge ist.

In ihrem VIP-Projekt stellen die Betreiber sechs "Kanäle exklusiven Contents" zur Verfügung: literarische Texte, musikalische Werke im MP3-Format, Enzyklopädien und Wörterbücher – ursprünglich das "Kerngeschäft" der Multi-Media-Apostel -, virtuelle Seminare, Spiele und Referate. Ca. 7.500 der 22.000 Texte der Netzbibliothek sind derart "exklusiv", also "kostenpflichtig". Für 10 Dollar im Monat ist der User dabei, Kunden einer Reihe russischer Internet-Provider können das Angebot kostenfrei nutzen.

ACHTUNG: der gesamte exklusive Content ist hier auf der Grundlage schriftlicher Verträge mit den Inhabern der Rechte publiziert.

Homepage von VIP.KM.ru 12.04.2004

Vorgeworfen wird den VIP-Aposteln von der Netz-Community jedoch weniger der Versuch mit Literatur im Internet Geld zu verdienen, als vielmehr die Repression gegenüber den Kollegen. Zumal weite Teile der im kostenfreien Segment der KM-Bibliothek angebotenen Texte anscheinend aus anderen Netzbibliotheken "entwendet" wurden – und zwar ohne den üblichen Verweis auf den Ort der Erst-Publikation. Ein zynisches "Geschäftsmodell", nach dem freier Content zunächst apropriiert und dann der "Vertrieb" durch die ursprünglichen "Besitzer" kriminalisiert wird.

Als (Un-)Taten eines "ungeborenen Zombies" qualifiziert Moschkow denn auch dieses krude Vorgehen im Bereich der Kommerzialisierung des literarischen Angebots im Netz. Dabei hält er selbst als einer der nüchternsten Analysten der Situation eine friedliche Ko-Existenz von freien und kostenpflichtigen Bibliotheken im Internet für durchaus realistisch. Allerdings ausgehend von gut durchdachten Business-Modellen und auf der Basis des Fairplay. Dem KM online-Projekt räumt er schon deshalb wenig Chancen ein, weil diese den Ast absägen, auf dem sie selbst sitzen: ohne die Unterstützung der freien Bibliotheken und die unentgeltliche Arbeit der Lesern seien diese technisch gar nicht in der Lage, Content in entsprechender Qualität und Quantität auch in Zukunft beizubringen.

Die Web-Bibliotheken als nationales Kulturgut

Der Trend einer Kommerzialisierung des russischen literarischen Segments zeichnet sich seit längerer Zeit ab. Dennoch verfügt(e) das russische literarische Internet bisher über eine einzigartige Vielfalt an Volltext-Ressourcen. Ergänzend zu Moschkow sind die beiden anderen "großen" e-Bibliotheken, die "Fundamentale Elektronische Bibliothek für Literatur und Folklore" FEB sowie die "Russische Virtuelle Bibliothek" RVB zu nennen, die jeweils über eigene Strategien und institutionelle Verankerungen verfügen.

Stellt die FEB eine staatlich geförderte Einrichtung dar, die russische Klassik in wissenschaftlichen Editionen zugänglich macht und sich damit im Bereich der Kanonisierung nationaler Kulturwerte bewegt, setzt die RVB als Enthusiasten-Projekt auf eine "avantgardistische" Ausrichtung und publiziert Texte, die im offiziellen Kulturbetrieb eher randständig sind. Eine wissenschaftliche Kommentierung ist jedoch auch hier der Standard.

Beide e-Bibliotheken bieten ihre Texte kostenlos an. Gleiches gilt für den Zeitschriften-Lesesaal des "Russki Journal", der die elektronischen Ausgaben von über 20 der renommiertesten Literaturzeitschriften zum Null-Tarif anbietet.

"Ich bin stolz, dass die Büchersammlungen im russischen Internet um ein Vielfaches größer sind als vergleichbare ausländische Online-Bibliotheken. Ich freue mich darüber als noch ein Beweis dafür, dass Russland auch im elektronischen Zeitalter ein literarisches Land, ein Land des Buches bleibt. Es ist mir angenehm davon auszugehen, dass die Traditionen des sowjetischen Samizdat bis heute lebendig sind."

Sergei Kuznetzow in einem Offenen Brief an die russischen Autoren

Für diese besondere Textlastigkeit des russischen Internet gibt es eine Reihe von guten Gründen, die sich aus den Besonderheiten des russischen Kontexts erklären. Lücken in der literarischen Infrastruktur (Bibliotheks- und Verlagswesen, Buchhandel), der Umwandlung des literarischen Systems von einem staatlich kontrollierten in ein marktwirtschaftlich orientiertes geschuldet, steigern die Bedeutung des Internet als Mittel zur Popularisierung von Literatur. Insbesondere in den Regionen, wo kaum gut sortierte Bibliotheken oder Buchhandlungen zu finden sind, stellen die elektronischen Ressourcen oft den einzigen Zugang insbesondere zu zeitgenössischer Literatur dar.

Nicht weniger bedeutsam ist dies für die russischsprachige Diaspora, die aufgrund zahlreicher Emigrationswellen weit zerstreut lebt und im Internet – zumindestens theoretisch – "virtuell (wieder-)vereint" wird. Unter den "Verteidigern" der freien Web-Bibliotheken werden deshalb sogar Überlegungen laut, sich an staatliche Stellen, beispielsweise das Kultusministerium, zu wenden um den Status der elektronischen Bibliotheken als nationalem Kulturgut zu bewahren - ein für die traditionell eher anti-staatlich ausgerichtete Netzkultur ganz erstaunliches Ansinnen.

Das Anti-Copyright als "nationale Idee"

Doch neben pragmatischen Überlegungen und Nutzenerwägungen spielt nicht zuletzt die Ideologie eine tragende Rolle. Das Copyright bzw. das Anti-Copyright ist ein Postulat der Netz-Kultur, das weltweit aktiv verteidigt wird. (Kosten-)Freier Zugang zu Information gilt als Menschenrecht. Das Copyright wird als eine Konzeption betrachtet, die auf das Medium und die Epoche der unendlichen Kopie nicht mehr anzuwenden ist.

"Die in Amerika und Europa verbreitete Gesetzgebung zum Copyright ist im Rahmen des in Russland dominanten ethischen Systems absolut amoralisch." [...]

Michail Werbitzki

In diesem Kontext bewegen sich auch die Diskussionen im russischen Internet. Doch werden darüber hinaus nationale Erklärungsansätze herangezogen: so entspreche die Kultur des Netzes der "russischen Mentalität" in ihrer Neigung zum Kollektivismus und ihrer Ablehnung der Idee des Privat-Eigentums. Die globale Netzkultur erfährt eine Nationalisierung, wird zu einer anderen Form der "nationalen Idee". Bisweilen erreicht diese Argumentation nationalistisches oder extremistisches Pathos, beispielsweise in der umfassenden Publikation Michail Werbitzkis zu Fragen des Anti-Copyright, die in der Feststellung kulminiert:

"Die Befürworter des intellektuellen Eigentums, der Copyrights [sic], der Hamburger und der Coca Cola können Russland besiegen, aber dafür müssen sie eine Million Menschen umbringen, und das nicht im Jahr, sondern täglich. […] Aber solange Russland lebt, hat auf dem Territorium, das von Russen besiedelt ist, niemand über das Copyright zu reden, niemand und mit niemandem. […] Ein Copyright gibt es bei uns nicht."

Michail Werbitzki

In der Realität sind die Positionen differenzierter, wie eine "Umfrage" Roman Leibows unter russischen Netz-Aktivisten deutlich macht. Hier wird die ganze Spannbreite der Argumentation abgedeckt: von der Befürwortung einer Einführung "westlicher Standards" (soll heißen: der strengen Beachtung des Copyrights) bis zum "Kampf" gegen das Copyright als patriotischer Pflicht, von der Forderung nach einer staatlichen Grundförderung künstlerischer und literarischer Tätigkeit bis zur finanziellen Selbstbeteiligung der Lesern an der Entlohnung der Netz-Autoren.

Präzedenzfall: Der Streit um den "Himmelblauen Speck"

Im Kampf um die Anklage gegen Moschkow & Co. bleiben die internationalen Präzedenzfälle nicht unerwähnt, etwa die Auseinandersetzungen um Napster oder Linux. Wie empfindlich die öffentliche Netz-Meinung in Bezug auf die Verletzung ihrer "Lese-Rechte" reagiert, macht jedoch der Fall des auch in Deutschland bekannten und viel übersetzten Schriftstellers Wladimir Sorokin deutlich, der in einem Artikel von Jewgeni Gorny "Das Problem des Copyright im russischen Internet: Der Kampf um den ‚Blauen Speck’" in russischer Sprache dargestellt ist.

Der Roman "Goluboje salo" (deutscher Titel: Der Himmelblaue Speck, erscheinen bei Dumont 2000) war im russischen Internet, das einen nicht unbeträchtlichen Teil der Sorokinschen Leserschaft stellt, auf einer Vielzahl von Sites zugänglich, gegen den erklärten Willen des Autors und seines Verlegers. Unter anderem befand sich auf der Seite des Programmierers und Hacker-Anarchisten Andrei Tschernow zunächst eine Kopie des Texts, später ein entsprechender Link auf einen amerikanischen Server.

Der Verlag "Ad Marginem", bei dem das Buch erschienen ist, legte Einspruch und verlangte von Tschernow die Entfernung des inkriminierten Links. Dieser antwortete mit einem bitterbösen "Offenen Brief", indem er – als Programmierer und demnach einem der "Schöpfer" des Internet – gegen die skrupellosen Geldmacher zu Felde zog.

"Wir möchten uns bei Ihnen dafür entschuldigen, dass wir Sie nicht bereits früher über Ihre Rolle in der von uns geplanten und erfolgreich realisierten Reklame-Kampagne (die nicht zuletzt dank Ihrer kompromisslosen und aufrichtigen Position in der inszenierten "Internet-Polemik" so glücklich verlief) informiert haben."

Aus einem Brief des Verlags "Ad Marginem" an Andrei Tschernow, zitiert nach Jewgeni Gorny

Die Angelegenheit endete vor Gericht. Tschernow erhielt Recht - ein Pyrrhus-Sieg, denn als Reaktion auf die Blamage vor Gericht konterte der Verlag seinerseits mit einem Offenen Brief, der den Skandal um den "Himmelblauen Speck" als Teil einer ausgefeilten Marketing-Strategie präsentierte. Mit herzlichem Dank an den aufrechten Streiter gegen das Copyright, den man – leider ungefragt – als zentrale Figur der Kampagne zur Popularisierung des Texts "missbraucht" habe.

Skandal als Strategie – Medien & Marketing

Ob der Konflikt von Anfang an Teil einer erfolgreichen Marketing-Strategie in den Medien war, oder ob sich Verlag und Schriftsteller aufgrund des wachsenden Unmuts in der Netz-Gemeinschaft zum Rückzug gezwungen sahen, wird sich nicht endgültig klären lassen. Fest zu halten bleibt, dass die russischen Internetschiki empfindlich auf eine Verletzung ihrer Rechte reagieren und einen diskreditierten Autor boykottieren können. Nicht zuletzt dies mag einer der Gründe sein, warum selbst eine so angesehene Literatin wie Alexandra Marinina peinlich darauf achtet, sich mit ihrer Netz-Leserschaft nicht über Kreuz zu legen. – eine Entscheidung, die sich mit einem Blick auf die aktuelle Entwicklung als begründet erwies. Denn Eduard Geworkjan, der als einziger der Beteiligten direkt gegen die Bibliothek Moschkow klagt, wurde mittlerweile zur Hassfigur des Widerstands. Lesern rufen zum Boykott seiner Bücher auf und in seinem Web-Log hat ein regelrechter Flamewar eingesetzt. Die wüsten Beschimpfungen tragen zum Teil offen rassistischen Charakter – Geworkjan ist Armenier.

So sehen sich die Initiatoren der Unterstützer-Kampagne, inklusive Moschkows selbst, mittlerweile genötigt, Geworkjan vor den Beschimpfungen und Drohungen in Schutz zu nehmen. Schließlich gehe es weniger um den einzelnen Schriftsteller als um die Kampagne im Allgemeinen. Die Autoren seien von KM online vor den eigenen Karren gespannt und instrumentalisiert worden.

"Wir sind persönlich daran interessiert gerichtliche Präzedenzfälle zu schaffen, [...]."

Homepage der Nationalen Gesellschaft für Digitale Technologien NOCIT, 10.04.2004

Der Verdacht liegt tatsächlich nahe, dass es sich auch im Falle von KM online gegen Moschkow & Co um eine geschickt angelegte Marketing-Strategie handelt, in deren Mittelpunkt jedoch weniger die Propagierung der eigenen Bibliothek steht als vielmehr der "Nationalen Gesellschaft für Digitale Technologien" NOCIT. Diese Organisation ist Ende des Jahres 2003 gemeinsam von den Firmen KM und KM online gegründet worden und formuliert ihre Zielsetzungen ganz unverblümt: sie bietet Serviceleistungen im Bereich der gerichtlichen Regelungen von Copyright-Streitigkeiten an.

Ob diese Strategie zur Popularisierung der eigenen kommerziellen Tätigkeit aufgeht, wird sich zeigen. Der Widerstand der Community jedenfalls formiert sich. Ob er einkalkulierter Bestandteil des Vorgehens von KM online ist oder von den Managern in seinen Ausmaßen unterschätzt wurde, ist – wie im Falle des "Himmelblauen Specks" – schwer zu entscheiden.

Live-Journal – Der Widerstand der Netz-Community

Der (Netz-)Schriftsteller und Kolumnist Sergei Kuznetzow ruft seine Autoren-Kollegen in einem offenen Brief dazu auf, vertragliche Regelungen in Zukunft so zu treffen, dass eine kostenfreie Veröffentlichung ihrer Werke im Netz uneingeschränkt möglich bleibe. Der Mär vom (kommerziellen) Schaden einer Netzpublikation gelte es entschieden entgegen zu treten. Wer die Freiheit des Wortes wolle, der müsse auch bereit sein, sich dafür einzusetzen. Auch in anderen populären Netzforen ist eine Flut von Artikeln zum Thema veröffentlicht worden. Der E-Zeitschrift "Russki Journal" war dies sogar die Erstellung eines eigenen Banners mit dem besagten KM-Zitat "Moschkow – ein Bandit und Verbrecher" wert. Der Skandal bringt eben Leserschaft. Jewgeni Gorny und Roman Leibow merken allerdings kritisch an, dass ein solches Banner mit der Materie nicht vertraute Lesern leicht in die Irre führen könne.

Banner des e-journals "Russki Journal" - "Moschkow – ein Bandit und Verbrecher". Quelle: www.russ.ru, 11.04.2004.

Zentrum des Widerstands ist jedoch die Live-Journal-Community. Das Live-Journal, eine spezifische Form des virtuellen Tagebuchs oder Web-Logs, ist im russischen Internet besonders populär und dient dort in erster Linie dem Community-Building und weniger dem individuellen Bedürfnis nach Selbstdarstellung. So ist bereits ein Web-Log zur Unterstützung der Bibliothek Moschkow ins Leben gerufen worden, in dem die verschiedensten Varianten zur Lösung des Problems diskutiert werden. Die Vorschläge reichen von Appellen an die Regierung bis hin zur Entwicklung von alternativen Finanzierungsmodellen in der Netzwelt. Auch kritische Stimmen, die eine Rechtmäßigkeit des Vorgehens von KM online konstatieren, finden sich, wenn auch in geringerer Zahl.

Mit Beginn der offiziellen Anhörungen hat auch der Anwalt der Angeklagten, Andrei Mironow, ein Live-Journal eingerichtet, das speziell der Vorbereitung des Gerichtsverfahrens gewidmet ist, allerdings bestimmten Zugangsbeschränkungen unterliegt. Die russische Live-Journal-Community ist nach Ansicht des russischen Internetforschers Jewgeni Gorny mittlerweile genau so eine "nationale Spezifik" wie die Web-Bibliotheken: beide Phänomene zeugen davon, wie sich globale Technik und kulturelle Tradition miteinander vermischen.

"Freunde und Kollegen! Erklärt Euren Verlegern die ganze Unsinnigkeit des Verbots der Buchpublikation im Netz!"

Sergei Kuznetzow in einem Offenen Brief an die russischen Autoren

Erste Auswirkungen hat der Skandal auch im Verlagswesen gezeitigt: Das Petersburger Verlagshaus "Amphore" hat seinen Vertrag mit KM online für nichtig erklärt und eine Neu-Regelung seiner Publikationspolitik im Netz angekündigt. Texte der Verlagsautoren werden in Zukunft ausschließlich auf der verlagseigenen Homepage angeboten, es sei denn, die Autoren lassen sich das Recht auf die Weiterverbreitung ihrer Texte im Netz vertraglich zusichern.

Auch ein persönliches Treffen zwischen Maksim Moschkow und ihrem Literaturagenten Nathan Zablockis sowie dem Anwalt Andrei Mironow hat Hoffnungen aufkommen lassen, dass die "Zukunft der russischen Web-Bibliotheken" gesichert werden kann.

Alexandra Marinina äußerte sich gleichfalls versöhnlich:

"Ich bin nicht gegen die kostenlose Verbreitung von Büchern im Internet. Aber ich trete dafür ein, dass die Verbreitung dieser Werke immer in Absprache mit dem Autor stattfindet."

Presse-Erklärung des Verlags "Eksmo"

Der Prozess findet dennoch statt. In seinem Verlauf wird sich zeigen, ob die russischen Lesern und Autoren ihre Web-Bibliotheken gegen die Copyright-Ritter von KM online verteidigen und das gemeinsame virtuelle "Zuhause" retten können:

"Verstehen Sie doch, dass dies nicht einfach eine Seite ist, nicht einfach eine Sammlung von Texten – das ist ein Symbol, so eine Art ewiges Feuer, oder mit anderen Worten: unser Zuhause."

Natalija Belenkaja (Jerusalem), Kommentar anlässlich der Anklage gegen die Bibliothek Moschkow im Live-Journal von Eduard Geworkjan

Am 21. April 2004 verabschiedete das russische Parlament in zweiter Lesung die Neufassung des Gesetzes "Über das Autorenrecht und verwandte Rechte. Damit wird unter anderem in Anlehnung an die Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten das Copyright von 50 auf 70 Jahre nach dem Tode des Autors ausgedehnt. Die Verabschiedung dieser Neufassung des Gesetzes steht im Zusammenhang mit dem Beitritt Russlands zur WTO. Die Auseinandersetzungen um den Erhalt der russischen Web-Bibliotheken als nationalem Kulturgut erhalten damit eine weitere Dimension