Ursache für Krieg und Krisen: Wo die Friedensbewegung konsequent sein muss
Seite 2: Die weltweite Schere zwischen Arm und Reich
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Seine Zuspitzung zur Vernichtungslogik der neoliberalen Schock-Strategie, durch die Chicagoer Schule begründet und gerechtfertigt, öffnete die Schere zwischen armen und reichen Menschen, zwischen armen und reichen Ländern, zwischen armen und reichen Weltregionen immer weiter, wie täglich noch im letzten Winkel der Welt zu erfahren ist.
Der Friedensbewegung bleiben die Verbindungen zwischen Kriegen und ihren kolonialistisch-kapitalistischen Antriebsaggregaten fremd, sie zielt an den Ursachen der Katastrophen, gegen die ihr Protest sich richtet, vorbei.
Erkenntnisbremse und Lähmung durch neokoloniale Interessen
Ihre Akteur:innen treten auf die Erkenntnisbremse, wenn ihr Verstand durchstarten müsste, um das soziale, politische und militärische Desaster der Gegenwart zu durchschauen und Handlungsoptionen zu entwerfen, die tatsächlich für alle Menschen hoffnungsvoll sein könnten.
Die systemische Wahrheit verschwindet in einem Bermuda-Dreieck des Verstehens, der aktive Widerstand gegen sie wird gelähmt. Parolen und Forderungen wie "Nie wieder Krieg" oder "Nein zu Kriegen – Rüstungswahnsinn stoppen – Zukunft friedlich und gerecht gestalten" laufen Gefahr, sich selbst ad absurdum zu führen.
Sondervermögen für die Bundeswehr, Verzehnfachung der Rüstungslieferungen an Israel und weitere Milliarden für Waffen, die das Leid des Krieges in der Ukraine für viele junge Menschen todbringend verlängern, Forderungen nach Kriegstüchtigkeit im Sinne von Wehrminister Pistorius und der neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien, sowie die nukleare Teilhabe als politisch-militärische Option sind ohne ihre Verstrickung mit den kapitalistischen und neokolonialen Interessen dahinter nicht zu begreifen und nicht zu bekämpfen.
Warum Protestforderungen an der Realität abprallen
Solange aktive gesellschaftskritische Bewegungen keinen Zugang zu den hegemonialen und profitorientierten Antriebsmodulen angedrohter und manifester Gewalt haben oder suchen, prallen ihre Forderungen an der systemischen Realität, am verheerenden Zusammenspiel von Profitakkumulation und kriegerischer Aggression ab.
Friedenspolitische Aktivitäten, die diese Auswüchse eines in seinem Wesen, seinem Handlungsprofil unmenschlichen politisch-ökonomischen Systems nicht fokussieren, lassen den Protest gegen unhaltbare Zustände und ihre Macher:innen systemstabilisierend erstarren.
Wer sich nicht gegen die systemischen Grundlagen wendet, widerspricht sich selbst, untergräbt zugleich den Appell, sich des Verstandes zu bedienen, um Frieden zu schaffen.
Amnesie: "Wir" waren schon mal weiter
"Wir", wie es auf zahlreichen Demos der Friedensbewegung heißt, waren schon einmal weiter. Johannes Agnoli und Peter Brückner hegten schon 1967, nur 22 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrem epochalen Büchlein "Die Transformation der Demokratie" Zweifel an der demokratischen, also friedlichen und gerechten Verfasstheit des deutschen Staates.
Viele Menschen, die den gesellschaftlichen Aporien auf die Spur gekommen waren, widmeten sich der Kritik am damals lägst überbordenden Kapitalismus.
Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Ernst Bloch rollten in ihren kritisch-theoretischen Analysen die Zugänge zu seinen Wurzeln auf, Alexander und Margarete Mitscherlich wiesen auf die gesundheitlichen Folgen des kapitalistischen Ausbeutungsprozesses hin, Franco Basaglia und Giovanni Jervis, Klaus Dörner und Erich Wulff erkannten die Psychiatrisierten als seine Opfer.
Antikoloniale und feministische Stimmen
Jean-Paul Sartre, Frantz Fanon und Eduardo Galeano gaben den Opfern des Kolonialismus Stimmen; und Simone de Beauvoir, Maria Mies und viele andere Frauen machten für die Unterdrückung der weiblichen Hälfte der Menschheit nicht nur die patriarchalen, sondern auch die kapitalistischen Zustände verantwortlich.
Sie alle stehen exemplarisch für eine Generation von Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen, die seither sechs Jahrzehnte lang die Ursachen und Folgen kapitalistischer Produktions- und Lebensverhältnisse radikal bloßgelegt und keine Zweifel daran gelassen haben, dass innerhalb dieses Systems kein Frieden, keine Gerechtigkeit, kein würdevolles Leben für alle Menschen möglich sind.
Dem Einwand, das alles sei humanistisch abgehakte Geschichte, antworten Naomi Klein mit ihrer profunden Analyse des Katastrophenkapitalismus der Gegenwart und Thomas Piketty mit dem empirischen Nachweis, wie Reichtum auf Kosten der Ärmsten und Elendsten immer monströser und seine Opfer immer zahlreicher werden.
Instrumentenkoffer für Frieden und Gerechtigkeit
Das Wissen ist vorhanden, griffbereit und müsste wie ein analytischer Instrumentenkoffer für jedes auf Frieden und Gerechtigkeit zielende Handeln geöffnet werden, um die Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse und ihre gewaltförmigen Mittel und Methoden bloßzulegen.
Russell Jacoby hat in "Soziale Amnesie" nachgezeichnet, wie nach der Revolte der 1970er-Jahre später aus vielerlei Gründen, der politische Widerstand gegen "das schlechte Leben" den Rückzug ins Innere antrat, in die Beschäftigung mit der eigenen Befindlichkeit.
Die Reden in Berlin und in Kassel, die Vielzahl der Menschen, die ihren Protest auf die Straßen bringen und in Zeitschriften und im weltweiten digitalen Netz niederschreiben, vermitteln auf das erste Hören, auf den ersten Blick den Eindruck, die Lähmung sei überwunden, der Widerstand wachse wieder.
Der humanistische Selbstbetrug
Der Anschein trügt, denn der Verstand, in den Michael von Schulenburg so viele Hoffnungen setzt, hat die Amnesie nicht überwunden, sondern scheint zu ihrer Heimstatt geworden zu sein.
Dass seit Jahrhunderten der Anti-Humanismus des humanistischen Selbstbetrugs das Selbstbild der meisten Menschen in der nördlichen Hemisphäre beherrscht, ist längst offenkundig und hinter keiner politischen Phrase und keiner medialen Floskel zu verbergen – aber eben viel zu verbreitet, um daraus Konsequenzen zu ziehen.
Die sich aufgeklärt wähnenden friedenspolitisch aktiven Bürger:innen sind über viele gegen-aufklärerische Entwicklungsstufen hinweg geworden, was sie heute sind: Vergessliche Mitläufer:innen einer nach politischer Hegemonie strebenden politisch-ökonomisch-militärischen Kleptokratie, die hemmungslos das letzte Gramm Lithium, das letzte Watt Sonnenenergie, den letzten Blutstropfen eines aussaugbaren indischen oder nigerianischen Arbeiters und das letzte Stückchen Land an sich reißen will.
"Befriedungsverbrechen" hat der italienische Autor und Psychiater Franco Basaglia denen unterstellt, die um diese Geschichte und ihre zeitgenössische Gestalt wissen könnten, aber nicht wissen wollen – oder sich einfach unwissend stellen: Das ist ein hartes Urteil, aber wenn Schein-Aufklärung kritische Diskurse und widerständige Handlungsmuster dominiert, könnte es den Verstand wachrütteln.
Raus aus der Sackgasse
Hoffnung bedarf einer Einsicht: Nötig ist radikaler Widerstand gegen lokale wie globale Zustände, deren Lebenselixier profitable Massaker an Menschen und Natur sind. Kämpferische Posen und entschlossenes Auftreten bringen Kriegstreibende und Kriegsgewinnler:innen nur dann in Bedrängnis, wenn das System, das sie mit immer mehr Waffen und Gewaltszenarien schützen, ernsthaft infrage gestellt wird.
Eine entschiedene Umkehr wird nur gelingen, wenn die Schaltzentralen der kapitalistischen Ausbeutungs- und kolonialistischen Aneignungsdynamik, die das Leben auf dem Planeten fast vollständig im Würgegriff hat, ins Visier geraten.
Und weil "wir" hier auf der Nordhalbkugel unseren ganzen – zweifellos: den ganzen – materiellen und kulturellen Reichtum unserer Ungerechtigkeit und Gewalt verdanken, macht friedensbewegter Widerstand überhaupt nur Sinn, wenn er sich auch gegen uns selbst richtet – damit die Friedensbewegung nicht in einer Sackgasse stecken bleibt.
Wissen um eigene Geschichte muss wiederbelebt werden
Das Wissen um die eigene Geschichte und die eigenen kolonialistisch-rassistischen Lebensgrundlagen, das für viele politisch aktive Menschen sieben Jahrzehnte lang eine politisierende Rolle gespielt hat, für ihr Denken, für ihre Empathie für "Erniedrigte und Beleidigte" und zeitweilig in Aufruhr und Revolte mündete, ist nicht verloren gegangen. Aber es scheint, als müsse es wiederbelebt werden.
Wissenschaftler:innen und Friedensaktivist:innen haben viele Verbündete, die sich von ihnen Aufklärung und Handlungsoptionen erhoffen, durchaus mit Erfolg: einer breiten und unermüdlichen globalen Bewegung gegen Atomwaffen als Mittel der Politik ist es gelungen, mit dem Atomwaffenverbotsvertrag, dem inzwischen 69 Länder beigetreten sind und der in Teilen der Friedensbewegung ein zentrales Thema ist, ein unwiderrufliches Zeichen zu setzen.
Die Kampagne ICAN hat für die Vorarbeit bereits 2017 den Friedensnobelpreis erhalten. Sie übt Druck auf die deutsche Regierung aus, Vertrag zu unterzeichnen und schließlich zu ratifizieren. Es gibt weltweit aktive Klimabewegungen, in denen Hunderttausende ihren Willen zum Ausdruck bringen, den endgültigen Kollaps der globalen klimatischen Bedingungen mit ihren unabsehbaren Folgen für Milliarden Menschen zu verhindern, viele informierte Menschen empören sich gegen die Zerstörung ihrer Zukunft und der ihrer Kinder.
Worte auf Friedensdemos, die nicht reichen
Aber die eindringlichen Worte auf den Friedensdemos, "wir" Menschen müssten bereit sein, einander zuhören und kompromissoffen sein, reichen nicht, um den Nutznießer:innen des Unfriedens das Handwerk zu legen.
Bis Frieden, menschliche Würde und Zukunft für alle Menschen gesichert sind, benötigen wir ein Bewusstsein von der Notwendigkeit, in das kapitalistische Räderwerk einzugreifen, seine Stützpunkte in uns und um uns herum zu sprengen: Ohne revolutionäre, systemtranszendierende Veränderungen werden die Kriege gegen Menschen und Natur nicht enden.
Die Botschaften der UN-Charta, der Allgemeinen Menschenrechte, des humanitären Völkerrechts und der Charta von Paris für ein friedliches Europa werden nur dann alltagspraktisch werden, wenn wir begreifen, dass auch diese edlen Schriftstücke von weißen Menschen für weiße Menschen auf der Nordhalbkugel verfasst worden sind, dass humanistische Ideale rassistisch eingefärbt bleiben, solange sich nicht das Selbstverständnis und die Lebensvorstellungen aller Menschen in ihnen wiederfinden.
"Papier ist geduldig", wusste schon Cicero, und diese Geduld haben die Agenten von Ausbeutung und Unterdrückung, von Kolonialismus und Rassismus, hemmungslos und schamlos strapaziert, so sehr, dass die vielen hoffnungsvollen Sätze de facto das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen. Ihre Wahrheit für alle Menschen muss erst noch erkämpft werden.