Verdient Angela Merkel einen fairen Prozeß?

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So hervorragend wie parteiisch: Andres Veiels "Ökozid" ist der Film zum Autogipfel

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Brisante Fragen: In "Ökozid" kommen Klimawandel und die Politik der Bundesregierung vor ein Internationales Gericht. Moralisches Kammerspiel und Zukunftsfantasie in einem.

Angela Merkel steht vor Gericht. Dass das eines Tages passieren könnte, dass man der gegenwärtigen Bundesregierung den Prozess machen könnte, und die Politik an den öffentlichen Pranger stellen, ist bisher vor allem eine Phantasie von Reichsbürgern, Verschwörungstheoretikern und ähnlichen fragwürdigen Gesellen. Der in Stuttgart geborene Filmemacher Andres Veiel ("Black Box BRD", "Wer wenn nicht wir", "Beuys") macht aus ihr nun Mainstream-Fernsehen.

Der Plot von Veiels neuem Film "Ökozid" ist verführerisch in seiner vermeintlichen Realitätsnähe: Im Jahr 2034 haben sich die gegenwärtigen Umweltprobleme im Zuge der Erderwärmung verschärft. Vor dem Internationalen Gerichtshof wird die Bundesrepublik Deutschland von 31 Staaten der Dritten Welt angeklagt. Sie soll durch Abschwächung und Blockade europäischer Klimaschutzvorgaben versäumt haben, gegen die Erhöhung der weltweiten CO2-Konzentration vorzugehen.

Formal ist Merkel in diesem in der fiktiven Zukunft in fünfzehn Jahren angesiedelten ARD-Fernsehspielfilm zwar nur als Zeugin geladen, zusammen mit Gerhard Schröder. Doch angeklagt ist der deutsche Staat und die Klimapolitik der beiden Ex-Kanzler - denen damit von den Autoren zumindest moralisch-politisch auch persönlich der Prozess gemacht wird.

Zuende gedacht: Menschenverachtung und Negierung menschlicher Würde

Aber worum soll es da überhaupt gehen? Was ist der Vorwurf? Aus dem in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte garantierten Recht auf Leben heißt es im Film, folge ein "Recht auf Unversehrtheit der Natur". Das ist juristisch wie philosophisch eine hanebüchen gewagte Konstruktion. Gänzlich unversehrte Natur gibt es schon nicht mehr seit den ersten Höhlenmalern, und gleichzeitig ist jedes Raumschiff und jedes Atomkraftwerk reine Natur - des Menschen.

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Die Anklage im Film tut so, als sei die Natur ein Lebewesen und spricht von unterlassener Hilfeleistung gegenüber Natur und Klima. Das ist eine weitere, nun auch moralische Grenzüberschreitung: Allein durch die Wortwahl wird Umweltverschmutzung und Emission von Treibhausgasen auf die gleiche Stufe gestellt wie ein Genozid. Sind Kraftwerke das gleiche wie Gaskammern? Da sitzt einer moralisch auf einem sehr hohen Ross. Und wenn der Film die Natur und das Klima auf eine Stufe mit den Menschen stellt - ist das nicht zuende gedacht Menschenverachtung? Negierung menschlicher Würde?

Die Kläger-Länder sind Mozambique, Haiti, Bangladesch. Alles Ex-Kolonien mit dunkelhäutigen Menschen. Die Niederlande haben offenbar erstmal kein Interesse an einer Klage, obwohl Den Haag gerade unter Wasser steht, der Prozeß deshalb nach Berlin verlegt wird. Die Frontstellung ist im doppelten Sinn ohne Grautöne, sondern eine schwarzweiße, Nord gegen Süd.

Angriff auf die repräsentative Demokratie

Erstmal ist "Ökozid" ein recht gut gemachter Film. Ein Themenfilm über die Erderwärmung, ein Science-Fiction über unsere nahe Zukunft und ein klassisches Gerichtsdrama, mit Anklägern und Verteidigern, Angeklagten und Zeugen. Diese Rollen sind prominent besetzt: Den Richter spielt wortgewandt und schneidend-ironisch Edgar Selge, als Anklägerinnen sind Nina Kunzendorf (abgewogen, erfahren) und Friederike Becht zu sehen, deren Figur eine Vergangenheit als Fridays-For-Future-Klimaaktivistin angedichtet wird.

Verteidigt wird die Bundesrepublik von einem Anwalt, den Ulrich Tukur spielt - eine weitere Glanzrolle für den Darsteller, der hier seinen zeitgeschichtlichen Rollen als (u.a.) Andreas Baader, Herbert Wehner, Helmut Schmidt, Detlev K. Rohwedder und Wolfgang Schäuble (in Costa-Gavras' "Adults in the Room" über die Staatsschuldenkrise) eine weitere Facette hinzufügt.

Funkelnd darf Tukurs Figur hier die besten Sätze sagen - "Nicht jedes Geschehen überlebt die Begegnung mit der Realität" -, und die unbequemen Wahrheiten auf den Punkt bringen: "Arbeitsplätze retten, die deutschen Industrie-Vorteile, aber auch noch das Weltklima. Womit soll die Bundesregierung überhaupt anfangen?"

Seine Verteidigungslinie: Im Prozeß werde internationales Recht missbraucht für einen Generalangriff auf die repräsentative Demokratie. Und was hätte es politisch gebracht, wenn Merkel sich als Umweltmärtyrerin aufgespielt hätte, wenn sie doch dann die Wahlen verloren hätte? Dies ist auch eine Selbstkritik des Films.

Einige angerissene Themenfäden bleiben dagegen schnell auf der Strecke: vor allem die Liebesgeschichten und privaten Konflikte zwischen den Figuren. Besser so.

Unsere Zukunft: Frauen, Wirbelstürme und Fake-News

Als Science-Fiction bietet der Film einige charmante, selten aber ironische Volten. Überhaupt: Ein Unterhaltungsfilm ist dies nicht. Wirbelstürme und Sturmfluten wüten quasi fortwährend. Das zumindest ist komplett unrealistisch - selbst nach Schätzungen der Pessimisten unter den Klimarettern wird das Meer in den nächsten 15 Jahren im Schnitt kaum steigen, und werden die Niederlande nicht untergehen.

Man hat weltweit im Jahr 60 Millionen Flüchtlinge, in fünf Jahren rechnet man mit einer Verdreifachung der Zahl. Die deutsche Wirtschaft hat sich von der Corona-Pandemie 2020/21 nicht mehr erholt. Inzwischen hat man acht Millionen Arbeitslose. Das Potenzial der Bundesrepublik liegt in Start-Ups zur CO2-Extraktion und in Nachhaltigkeits-Industrien.

Ingo Zamperoni spricht auch in 15 Jahren noch die Tagesthemen, fast so schön wie heute, nur etwas graumelierter. Die anderen Nachrichtensprecher sind alle Sprecherinnen. Auch sonst ist die Zukunft offenbar fast komplett weiblich: Drei Richterinnen umrahmen den obersten Richter, zwei Staatsanwältinnen klagen für das Gute, als Anwältinnen der Natur und der Dritten Welt; Männer haben dagegen offensichtlich nicht mehr viel zu sagen in der Zukunft und wenn doch, dann stehen sie vor allem für das Böse oder Überlebte: Wie Tukur, wie Hans-Jochen Wagner als Bauer, wie Lobbyisten von SPD und RWE.

Eindrucksvoll ist wie Veiel nebenbei zeigt, dass die Verteidigung parallel eine mediale Diffamierungskampagne mit Fake-News gegen die Gegenseite führt und dazu Personen auch neue, real nie gesagte Sätze in den Mund legt, weil die Bild- und Tonbearbeitungsprogramme dies inzwischen hergeben. Nichts an alldem ist falsch. Die Verweise auf China und Rußland als angebliche bösewichtelnde Verursacher solcher medialer Feldzüge ist allerdings etwas arg billig - so wie auch die dunkle basslastige Musik, von der hier alles untermalt wird.

Denn heute bedienen sich auch Demokratien, auch Ökoaktivisten und liberale Menschenrechtskämpfer ähnlicher Medientricks und Kampagnen. Das auch darzustellen, hätte den Film glaubwürdiger gemacht. Aber dies will gar kein unabhängiger Film sein.

Der Film zum Autogipfel

Überzeugend und in den einzelnen Belegen und Indizien sehr engführend ist "Ökozid" in seiner Analyse der gegenwärtigen (heutigen, im Jahr 2020 stattfindenden) Klimapolitik, die eigentlich das Gegenteil ist: Industriepolitik, die Klimaschäden billigend in Kauf nimmt.

Veiel nennt hierfür belegbare Vorgänge und Akteure aus der Gegenwart: schmutzige Deals der Stuttgarter Firma Fichtner, von Siemens, von Hitachi, der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau, die Klimasündern Bürgschaften gibt, und damit die Umwelt-Politik der eigenen Regierung torpediert. Und Autofirmen wie BMW und Daimler für deren gewinnträchtige Drecksschleudern SUVs Merkels GroKo 2009 der EU eine eigene "Lex SUV" aufgezwungen hat.

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Seitdem wird die Berechnung des CO2-Wertes eines Fahrzeugs an das Gewicht des Fahrzeugs gekoppelt. Je schwerer ein Auto ist, um so mehr CO2 darf es ausstoßen. Allein wegen dieser im Film allerdings etwas zu spät platzierten Passagen - und Tukurs Gegenreden - lohnt er sich bereits.

Es ist der Film zum Autogipfel. Denn es wird sehr deutlich gezeigt, wie BMW und Daimler die Vorgaben der Regierung unterlaufen. 2005 brachten sie die ersten SUVs auf den Markt. SUVs brauchen bis zu 50 Prozent mehr Benzin als vergleichbare Kompaktfahrzeuge. Weil sie zu schwer sind, weil ihr Luftwiderstand zu hoch ist, weil die Motorentechnik konventionell ist. Sie sind schon bei ihrer Einführung technisch überholt. Aber seit über 15 Jahren machen sie sich auf den Straßen immer breiter. Plötzlich brauchen alle Familien einen Panzer, um die Kinder zur Schule zu bringen.

Merkel hat bereits 2005 polemisiert gegen eine "Industriepolitik zu Lasten Deutschlands". Dann wurde sie von der Autoindustrie in Stellung gebracht, weil die Gewinnmargen vor allem durch SUVs gebracht werden. BMW und Daimler haben einen SUV Anteil von 50% in ihrer Flotte - die SUVs sind die Cash-Cow, sie sind die Autos mit einer besonders hohen Gewinnmarge.

Bis heute haben Daimler und BMW trotz staatlicher Milliarden-Förderung kein einziges Wasserstoff- oder Elektro-Fahrzeug entwickelt, das marktfähig ist. Was ist mit diesem Geld passiert? 2019 hat Daimler einen SUV entwickelt, der so breit ist, dass er nicht in eine Waschstraße passt. Man hat deswegen eine Hydraulik zum Einknicken der Räder entwickelt. Das ist die Auto-Forschung, in die tatsächlich vom deutschen Staat investiert wird.

Gekauft werden diese SUVs übrigens überwiegend von jüngeren Frauen und Rentnern beider Geschlechter, weil diese sich darin sicherer fühlen.

Die Stärke dieses Films ist diese politische Kritik, die auch persönlich wird, wo es nötig ist, die Namen nennt und keine Angst hat, sich Feinde zu machen. Das ist etwas, von dem nicht nur das deutsche Kino zu lernen hat.

Am Ende staatstragend

Substanz und Polemik halten sich in "Ökozid" die Waage. Wie wichtig ist Pragmatismus in der Politik? Das ist die Kernfrage, und Veiel zeigt durchaus, dass es sehr leicht ist, Idealismus zu verklären und Pragmatismus zu diffamieren.

Indem der Film die Wut und die Aggression, mit der Demokratiefeinde ihre eigene Ohnmacht kanalisieren, aufnimmt, kommt er ihnen scheinbar entgegen. Tatsächlich aber zeigt der Film auch, dass es nicht nur so ist, dass die deutsche Regierung in diesem Sinn lange in den Wald hineingerufen hat, sondern auch umgekehrt: Dass inzwischen die Bürger diese Regierung zu oft auf eine Weise behandeln, die ein bestimmtes Verhalten provoziert.

Selges Richterfigur sagt: "Es ist nicht Aufgabe des Gerichts politische Entscheidungen zu treffen." Muss es auch nicht. Die hat nämlich schon der Film getroffen.

Eine bemerkenswerte Verschiebung nehmen Veiel und seine Co-Autorin Jutta Doberstein in "Ökozid" vor: Das Genre des Gerichts-Dramas ist normalerweise ein Genre, dass Partei gegen die Autoritäten nimmt. Die Ankläger sind hier meist die Bösen oder Unsympathen, die Verteidiger die Guten: Sie retten gegen den Anschein die Rechte des Angeklagten, nicht zuletzt des guten Grundsatzes "Im Zweifel für den Angeklagten". Diese Gewohnheit dreht Veiel um.

Mehr noch: Er lässt die moralisch angeklagte Zeugin Merkel in einem "flammenden" (für Merkel-Verhältnisse) Schlussplädoyer ihre eigene Mitschuld - aber keine Entschuldigung - eingestehen. So zeigt er sich in "Ökozid" als das, was er in manchen seiner anderen Filme auch schon gewesen ist: Als im Grunde staatstragender Regisseur, der gar nicht so kritisch ist, sondern auf mehrheitsfähige Konsense einlenkt, als ein Filmemacher, der am Ende des Tages den Zeitgeist nicht etwa in Frage stellt, sondern bestätigt, zumindest den Zeitgeist der Schwarz-Grün wählenden Wohlstands-Bürger von Berlin-Mitte.

Aber auch diese Frage muss gestellt werden: Wollen wir einen Staat, der den Menschen vorschreibt was sie zu kaufen haben? Wenn wir die Frage beantworten möchten: Wie wollen wir leben? Dann geht es nicht nur um die Frage, ob wir wirklich in einem Land leben wollen, in der die Autoindustrie tatsächlich regiert, nicht die Parteien? Sondern auch, ob wir in einer Welt leben wollen, in der Klimaaktivisten und das des Bionade-Biedermeier regieren?

Hinweise:

"Ökozid" von Andres Veiel lief gestern Abend in der ARD im Rahmen der Themenwoche "#WIE LEBEN - Bleibt alles anders", und wird am kommenden Sonntag, 22.11. um 20:15 Uhr und am kommenden Mittwoch, 25.11. um 13:50 Uhr jeweils auf ARD-ONE wiederholt, und ist außerdem jederzeit in der ARD-Mediathek bis einschließlich 16.Dezember zu sehen, oder auch in einer reinen Hörfassung abrufbar. Sendeinformationen hier:

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Das Erste / Sendungen

Im Mai 2021 wird "Ökozid" wird dann auf die Bühne des Stuttgarter Schauspielhaus gebracht. Aktuell arbeitet Andres Veiel gemeinsam mit seiner Co-Autorin Jutta Doberstein an der Theaterfassung.