Vergiftete Tapferkeit
Seite 2: Aggressor Russland – Kriegstreiber Nato
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Zur Abrüstung gehört es, aus der Verteufelung der fremden Seite und der Idealisierung der Seite, mit der man sich identifiziert, auszubrechen. Der Historiker und Diplomat George F. Kennan schrieb in der New York Times vom 5.2.1997:
Es wäre der verhängnisvollste Fehler amerikanischer Politik in der Zeit nach dem Kalten Krieg, die NATO bis zu den Grenzen Russlands auszuweiten. Diese Entscheidung lässt befürchten, dass nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in Russland entfacht werden könnten. Sie könnte einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie in Russland haben, wieder zu einer Atmosphäre wie im Kalten Krieges führen und die russische Außenpolitik in eine Richtung lenken, die uns sehr missfallen wird. George F. Kennan, A Fateful Error, Übersetzung d.A.
Mittlerweile ist genau das eingetreten, was Kennan prognostiziert hat. Deutsche Politiker und Medien behandeln dieses Resultat als voraussetzungsloses und unvermitteltes bzw. unmittelbares Faktum. Sie denken sich den dafür konstitutiven historischen Vorgang, die Nato-Osterweiterung, weg.
Sie interpretieren die großrussischen Reden Putins als Ursprung, der selbst keinen Ursprung hat, aber für alles Ursprung ist. Solche Kommentatoren "erklären" diese Reden tautologisch – als Resultat ideologischer Verblendung oder Ausbruch des Wahnsinns. Böse haben ein böses Denken. Wir Guten ein gutes.
Henry Kissinger schrieb am 6.3. 2014:
Um zu überleben und sich zu entwickeln, darf die Ukraine Niemandes Vorposten sein. Vielmehr sollte sie eine Brücke zwischen beiden Seiten darstellen. [...] Die Behandlung der Ukraine als Teil einer Ost-West-Konfrontation würde für Jahrzehnte jede Aussicht zerstören, Russland und den Westen – vor allem Russland und Europa – in einem kooperativen internationalen System zusammenzubringen. [...] Die Dämonisierung von Wladimir Putin ist keine Politik. Sie ist ein Alibi für die Abwesenheit von Politik.
Henry Kissinger, "Eine Dämonisierung Putins ist keine Politik"
Viele Kommentatoren können gar nicht genug davon bekommen, bereits dort Parteigänger der Propaganda Putins dingfest zu machen, wo auf die jahrzehntelange Strategie der Nato hingewiesen wird, Russland militärisch immer näherzurücken. Die Regierung George W. Bush hat "ohne Not im Frühjahr 2008 eine nochmalige Ausdehnung des Einflussbereichs der Nato zur Debatte gestellt und drängte auf eine rasche Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine" (Bernd Greiner, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 3, 2022, S. 50).
Die US-Regierung und die ukrainische Staatsführung haben alles dafür getan, dass eine militärische Neutralität der Ukraine nach dem Vorbild von Österreich oder der Schweiz nicht zustande kam.
Seit dem politischen Umbruch in der Ukraine 2014 unterhalten die USA Ausbildungsprogramme, trainieren das ukrainische Militär nach Nato-Standards und beliefern die Ukraine mit Waffen – ebenfalls gegen die Sicherheitsbedenken westeuropäischer Verbündeter. Diese Aktivitäten wurden im Jahr 2021 massiv verstärkt. Von Washington gelieferte panzerbrechende Lenkraketen werden mittlerweile an der Front gegen die Kräfte der beiden abtrünnigen ‚Volksrepubliken‛ eingesetzt. [...]
Dies alles ist keine Rechtfertigung für die russische Einmischung in ukrainische Angelegenheiten und schon gar nicht für eine russische Intervention. Im Ergebnis bewirkt die Politik der US-Administration aber eine Eskalation nicht nur mit politischen, sondern auch mit militärischen Mitteln.
August Pradetto: Realismus vs. Krieg: Neutralität als Chance. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 3
Wer das schreibt, wird heute gern als Putin-Versteher bezeichnet. So gesehen ist die russische fünfte Kolonne mittlerweile weit vorgedrungen. Pradetto ist Professor für Politikwissenschaft an der Bundeswehruniversität in Hamburg. Und Siegfried Russwurm Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie.
Die deutschen Politiker, voran Frau Baerbock, und die deutschen Medien überbieten sich in Emotionalisierung und Moralisierung. Schon kurz vor Beginn des Krieges wurde festgestellt: "Verabschiedet wird der Goldstandard umsichtiger Diplomatie: der Wille, sich in die Schuhe der anderen Seite zu versetzen und die Welt mit den Augen des Widersachers zu sehen" (Bernd Greiner, S. 51).
Baerbocks Rückgriff auf den "Traum" von Demokratie erweitert die als legitim erachteten Rechtfertigungsgründe für eigenes kriegerisches Handeln immens. Wir wissen im Unterschied zu Baerbock zwar nicht, wovon die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung vor dem 24.2. träumte.
Allerdings ist über Träume eines bekannt: Wovon eine Person träumt, das ist meist etwas ganz anderes als das, was sie im Wachzustand vorfindet und wofür sie sich wirkmächtig zu engagieren vermag.
Russland ist, wie es hierzulande verharmlosend heißt, ein "Globalisierungsverlierer“. In der Weltwirtschaft zunehmend an den Rand zu geraten und die Aussichten eines Dritte-Welt-Landes zu teilen (Rohstoffe, Gas und Öl bilden 80 Prozent der russischen Exporte), trifft im Falle Russlands auf die Erinnerung daran, einmal eine Weltmacht gewesen zu sein.
Diese brisante Konstellation begünstigt letztlich hilflose und umso irrationalere politische Reaktionen bis hin zur gegenwärtigen brutalen Aggression der russischen Armee. Auf der Gewinnerseite in der Weltmarktkonkurrenz ist die Aufmerksamkeit auch für diese indirekten Auswirkungen des "eigenen" Erfolgs nicht sonderlich gefragt.
Wie "loser“ ihre Niederlagen verarbeiten, beziehen "winner“ (sowie diejenigen, die sich als solche betrachten), nicht auf eine beide Seiten übergreifende Wirklichkeit. Werden loser aggressiv, dann seien allein sie selbst für ihre mangelnde Aggressionskontrolle verantwortlich.
Das kommt dabei heraus, wenn so etwas wie eine Analyse des Weltgeschehens verwechselt wird mit dessen Bewertung, ausgehend vom Maßstab, es solle sich in ihm genauso verhalten wie in der zivilisierten Interaktion zwischen freien und gleichen Erwachsenen, die die Dreieinigkeit von individueller Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Selbstbeschuldigung verinnerlicht haben.
Gewinner und Verlierer sind bislang meist in einem Punkt einig: Sie fragen nicht, ob wir uns eine Wirtschaft leisten können, für die gnadenlose Konkurrenz und das Ruinieren der Verlierer charakteristisch ist.