Verkehrspolitik: Die Kompetenz der Vielen

Fahrrad-Demos werden als Aktionsform immer beliebter. Hohe Kaufprämien gibt es aber für Elektroautos. Foto: System Change not Climate Change / CC-BY-SA-2.0

Mehr Demokratie wagen? Doch, das geht auch, wenn der Planet bewohnbar bleiben soll. Vielleicht stehen die Chancen dann sogar besser. Ein Plädoyer für betriebliche Demokratisierung, Transformations- und Bürgerräte

Die Klimakrise erfordert eine grundlegende Mobilitätswende. Für die meisten Menschen würde diese mehr Lebensqualität bedeuten. Und trotzdem gibt es im Bundestag und in den Landesparlamenten heute keine Mehrheiten für das notwendige Umsteuern. Festgefahrene Strukturen, Gesetze und eine Rechtsprechung, die sich am Bestehenden orientiert, reagieren nicht auf die Dringlichkeit. Ein demokratischer Schub ist erforderlich, um den notwendigen Wandel unserer Produktions- und Lebensweise voranzubringen.

Der von Sabine Leidig herausgegebene Sammelband „Linksverkehr - Projekte und Geschichten, Beton und Bewegung“ ist am 6. Mai im oekom-Verlag erschienen. „Die Kompetenz der Vielen“ ist ein Auszug aus diesem Buch. Zusammengetragen wurden darin konkrete Erfahrungen, theoretische Überlegungen sowie praktisches Wissen, Kritik an den herrschenden Verkehrsverhältnissen und Ideen, die über dieses System hinausreichen.

Alte Strukturen aufbrechen: gestalten statt reagieren

In der herrschenden Verkehrspolitik wird ein Verkehrssystem als nahezu unveränderbar angesehen, das erst in den letzten 70 Jahren zur Normalität wurde. Mächtige Interessengruppen, besonders die Auto-, Bau- und Mineralölindustrie, halten das Bild aufrecht, dass eine Verkehrswende Verzicht und Verlust bedeuten würde. Unter diesem Einfluss, gehen die Parlamente und Regierungen einen grundlegenden sozialökologischen Umbau gar nicht erst an.

Die kleinen Schritte in Richtung Verkehrswende waren Reaktionen: auf Proteste und Volksinitiativen, auf Skandale (Dieselgate), auf Gerichtsurteile (zu Stickoxidgrenzwerten) und auf eine sich ändernde Medienberichterstattung. Bei dem reaktiven Handeln geht es vor allem um Profilierung und den Anschein guter Politik. Dahinter steht letztlich die Angst vor dem Verlust von Macht und Ansehen. Wie in kaum einem anderen Politikfeld fehlt in der Verkehrspolitik - zumindest auf Bundesebene - der Mut zur (Um-)Gestaltung. Um die Verkrustung aufzubrechen, ist dreierlei erforderlich: Erstens das aufrichtige Nachdenken: Wohin hat uns die bisherige Verkehrspolitik geführt?

Sind die bisherigen Planungsgrundlagen noch sinnvoll? Welche (Macht-)Strukturen blockieren und welche fördern die Suche nach Lösungen im Sinne sozialer und ökologischer Ziele? Zweitens die Suche nach guten, kreativen Lösungen mit allen Betroffenen: Statt politischer Kämpfe, in denen es um Rechthaben und Mehrheiten geht, brauchen wir neue Formen des politischen Austauschs. Statt von Strategien und Programmen auszugehen, muss das Verständnis der verschiedenen (Mobilitäts-)Bedürfnisse der Menschen zum Ausgangspunkt werden. Auf dieser Grundlage können kollektive Intelligenz und Kreativität für neue Konzepte genutzt werden.

Drittens benötigen wir ein neues Verständnis von Führung, gerade bei Berufspolitiker:innen. Es geht um inspirierende Ideen, aber auch darum, gemeinsam erarbeitete Entwicklungsziele engagiert in die Tat umzusetzen. Ein allgemeines Verständnis dafür, dass auch Fehler gemacht werden, muss mit der Offenheit für Kritik und mit Lernbereitschaft einhergehen. Die Projekte sollen zum Wohle aller gelingen und nicht der Profilierung einzelner dienen. Mit Blick auf den heutigen Politikbetrieb klingt das utopisch. Die Frage ist, welche Strukturen, Instrumente und Methoden Demokratie in diese Richtung fördern.

Das Potenzial von Bürgerräten

Ein vielversprechender Ansatz sind Bürgerräte. Für jeden Bürgerrat werden zwischen 50 und 200 Einwohner:innen per Zufall ausgelost, aber so, dass die Zusammensetzung einem Abbild der Gesamtbevölkerung entspricht - nach Bildungsgrad, Alter, Geschlecht, Stadt-Land, Migrationshintergrund und so weiter.In Irland, England, Frankreich und anderen Ländern wurden schon vielfältige Erfahrungen gesammelt.

In Deutschland hat "Mehr Demokratie e.V." den ersten bundesweiten Bürgerrat 2019/20 zu mehr Demokratie organisiert. Auf lokaler Ebene gibt es inzwischen eine Handvoll Bürgerräte, weitere sind geplant. Ein Beispiel ist der Klimaneustart Berlin. Der maßgebliche Unterschied zu Parlamenten oder auch Expertenkommissionen ist, dass in Bürgerräten Menschen als solche zusammen-kommen. Sie sind nicht Vertreter:in einer Fraktion oder einer Interessengruppe mit klarer Positionierung. Es gibt keine Gegner:innen, die überzeugt oder überstimmt werden müssen.

Hier kann ein konstruktives Potenzial freigesetzt werden, das in Machtkämpfen zwischen oder auch innerhalb der Parteien meist untergeht. Über ein Beispiel berichtete die Schweizer Internetzeitung Infosperber im Juli 2020: "Tempo runter - Steuern rauf: Der französische Bürgerrat legt weitreichende Vorschläge zum Klimaschutz vor. Er möchte für das Klima sogar die Verfassung ändern. Wenn Bürgerinnen und Bürger selbst über den Kurs der Regierung entscheiden, sind ihre Vorschläge überraschend radikal. Das Tempo runter auf maximal 110 Kilometer pro Stunde, keine Inlandsflüge mehr, und in Kantinen soll künftig immer Veggie-Day sein.

Diese Aufzählung ist keine Wunschliste einer Umweltorganisation, sondern der Wille des französischen Volkes." Bürgerräte sind eine Chance, gesamtgesellschaftlich tragfähige und sozialökologisch ausgewogene Lösungsvorschläge zu finden. Sie können den Parlamentarier:innen Mut machen, auch gravierende Veränderungen anzugehen.

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