Verschleierungstaktik oder Work in progress
Was ist mit der angeblich unmittelbar die USA und Europa bedrohenden Khorasan-Gruppe in Syrien?
Die US-Regierung hat offenbar die Türkei in ihrer Haltung gegenüber Kobane umgestimmt. Die Türkei lässt angeblich Peschmerga-Kämpfer aus dem Nordirak durch das Land nach Kobane, um dort den YPG-Kämpfern zu helfen. Zudem wurden von US-Transportmaschinen erstmals Waffen für die Kurden in Kobane abgeworfen. Gestern wurden weiter IS-Ziele bei Kobane angegriffen und u.a. ein für die Kurden bestimmter Container zerstört. Der IS berichtet nicht über Verluste und Niederlagen, sondern feiert Selbstmordanschläge und Interviews an der Front in Kobane.
Möglicherweise kommt nun die US-Regierung der Türkei entgegen, die eine Beteiligung am Krieg gegen den IS von der Einrichtung von Schutz- und Flugverbotszonen, der Ausbildung von gemäßigten syrischen Oppositionellen auch oder nur in der Türkei (und nicht nur in Saudi-Arabien), der Bekämpfung aller Terrororganisationen und dem Ziel abhängig machte, auch das Assad-Regime zu stürzen.
Um eine Bewilligung des Luftkriegs gegen den IS in Syrien durch den Kongress zu umgehen, hat sich das Weiße Haus auf die weitreichende Kriegsermächtigung (Authorization for the Use of Military - AUMF) berufen, die der Kongress dem Präsidenten als obersten Kriegsherrn vor nun schon 13 Jahren nach 9/11 erteilt hat. Obgleich Obama die Kriege in Afghanistan und dem Irak ebenso beenden wollte wie den Globalen Krieg gegen den Terror hat er sicherheitshalber die Kriegsermächtigung weitergeführt, mit der er weltweit zum Schutz der USA militärische Angriffe auf al-Qaida und deren Helfer führen kann.
Das politische Problem war nur, dass der Angriff nicht nur völkerrechtswidrig war, weil die syrische Regierung im Unterschied zur irakischen nicht um Hilfe gebeten, sondern die Angriffe als Verletzung der Souveränität und territorialen Integrität verurteilt hat. Zudem hat Sawahiri den IS wegen seiner brutalen Angriffe auch auf Muslime von al-Qaida ausgeschlossen, weswegen man einen Krieg gegen IS kaum noch mit der al-Qaida-Verbindung rechtfertigen konnte. Dazu war der IS vor den ersten Luftangriffen im Irak auch nicht mit Drohungen von Anschlägen gegen die USA aufgetreten. Musste also mal wieder eine Legitimation für einen Krieg erfunden werden?
Einen Tag vor dem ersten Luftangriff in Syrien präsentierte also das Weiße Haus die Khorasan-Terrorzelle (US-Regierung braucht für den neuen Krieg gegen den Terror wieder al-Qaida). Sie soll aus al-Qaida-Mitgliedern bestehen, die aus Afghanistan stammen und über den Iran nach Syrien gekommen seien. Es soll sich also um eine echte al-Qaida-Terrorzelle handeln, die mit der al-Qaida-Gruppe al-Nusra in Syrien verbunden sei. Die Khorasan-Gruppe plane Anschläge in den USA und in Europa und stehe kurz vor dem Abschluss, weswegen die von der Gruppe ausgehende Drohung "unmittelbar" sei. Man bombardierte also am 23. September angeblich auch ein Ausbildungslager, Kommandozentralen, ein Kommunikationsgebäude und eine Anlage zur Herstellung von Explosivstoffen der Khorasan-Gruppe westlich von Aleppo. Gegen diese seien 8 Angriffe unabhängig und ausschließlich von den US-Streitkräften geführt worden (Zurück im völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Terror).
Das klingt doch ziemlich massiv, auch wenn das Weiße Haus keine weiteren Einzelheiten über die so für die USA gefährliche Gruppe berichtet hat, also beispielsweise darüber, wie groß sie sein soll und welche Art von Anschlägen sie durchführen will. Man hüllt sich auch weiterhin in Schweigen, das Pentagon erklärt, man wisse nicht, ob die Luftangriffe die von der Gruppe unmittelbar ausgehende Gefahr gestoppt hätten. Das sieht sehr danach aus, dass man den Informationsnebel weiter erhalten und möglichst nichts sagen will, worauf man festgeklopft oder der Lüge überführt werden könnte.
General Lloyd Austin erklärte letzten Freitag, die Bewertung der Angriffe im September sei noch immer "work in progress". Man werde aber weiter Druck auf die Organisation ausüben. Das nährt das Misstrauen, dass die Gruppe eine Erfindung ist, um eine unmittelbare Bedrohung zu fingieren, die einen Angriff rechtfertigt. Nachdem man lange gezögert hat, den Kurden in Kobane zu helfen, dürfte auch jetzt die Lieferung von Waffen propagandistisch motiviert sein. Man will nicht dastehen, nur Zuschauer geblieben zu sein, wenn der IS, gegen den man Krieg führt, eine Stadt einnimmt, die aber strategisch keine Bedeutung hat.
Offenbar scheint es mal wieder so zu sein, dass sich niemand, vor allem nicht die alliierten Regierungen, darunter Deutschland, um die Wahrhaftigkeit der amerikanischen Behauptungen kümmern. Man duldet Lügen und reiht sich willig ein, zumal die Khorasan-Gruppe nur ein innenpolitisches Argument zur Rechtfertigung des Kriegs ist. Gleichwohl sollte die Aufklärung für demokratisch gewählte Regierungen ein Anliegen sein, um das eigene Engagement in einer Koalition der Willigen, das nicht von den Vereinten Nationen gedeckt ist, zu legitimieren. Aber die deutsche Regierung schaut lieber weg (wie schon im Ukraine-Konflikt habitualisiert) und stellt sich US-strategisch zur Verfügung. Man belieferte die Kurden im Nordirak mit Waffen, nicht aber die in Kobane. Es wird interessant sein, wie die deutsche Regierung nun die amerikanische Waffenlieferung darstellen wird. Die Waffen sollen aus dem Nordirak stammen und auch panzerbrechende Waffen einschließen, könnten also auch aus Deutschland stammen. Ist die YPG mit ihrer Verbindung zur PKK nun eine Terrororganisation oder nicht?