Verschlusssache Wiederbewaffnung

Januar 1956: Adenauer besucht neu gegründete Bundeswehr in Andernach. Einige Akten dazu bleiben nach wie vor unter Verschluss. Bild: Bundesarchiv, Bild 146-1998-006-34 / Wolf, Helmut J. / CC-BY-SA 3.0

Ampel-Regierung verspricht mehr Transparenz im Umgang mit historischen Akten. Nimmt man die neuen Koalitionäre beim Wort, stößt man schnell an alte Grenzen

Dass viele Versprechen von Berufspolitikern am Ende an der Realpolitik scheitern, weiß das Wahlvolk, doch meist dauert es einige Zeit, bis dieser Prozess eintritt. Bis die SPD, einst eine revolutionäre Organisation der Arbeiterklasse, für die Kriegskredite stimmte, verging ein halbes Jahrhundert. Bei den Grünen lief der Prozess deutlich schneller ab.

Die Bewegung war auch im Kampf gegen Volkszählung und staatliche Gewalt sowie für Transparenz und Datenschutz groß geworden. Heute scheint sie Vollstreckerin von dumpfer Geheimhaltungsmanie von 65 Jahre alten Akten aus der Adenauerzeit zu sein.

Im Koalitionsvertrag mit dem Titel "Mehr Fortschritt wagen" war vollmundig ein vereinfachter Zugang zu Geheimakten und eine maximale Sperrfrist von 30 Jahren versprochen worden:

Die Wahrnehmung der Rechte Betroffener verbessern wir. Kontrolllücken schließen wir. Die Arbeit der Dienste wird durch eine fundierte wissenschaftliche Analyse gestärkt und differenziert. Wir schaffen eine unabhängige Kontrollinstanz für Streitfragen bei VS-Einstufungen und verkürzen die archivrechtlichen Schutzfristen auf maximal 30 Jahre.

Klarer geht es kaum noch: Nach 30 Jahren soll Schluss sein. Die frühere Managerin der Rockband Ton-Steine-Scherben, Claudia Roth, müsste das verstehen. Die neue Bundesbeauftragte für Kultur und Medien ist direkt dem Kanzleramt und ihr wiederum ist das Bundesarchiv unterstellt, das immer noch Berge voller geheimer Akten vor der Öffentlichkeit versteckt, beziehungsweise verstecken muss, da es an die Weisungen aus Berlin gebunden ist. Nicht nur in Koblenz hofften Viele, dass mit dem Einzug von Frau Roth damit Schluss sei.

Ich führe zurzeit etliche Verfahren auf Freigabe von historischen Akten des Kanzleramtes, doch leider folgen die Verwaltungsgerichte fast immer der Argumentation des Kanzleramtes, dass die Freigabe das "Wohl der Bundesrepublik gefährden würde".

Vor einigen Monaten wurde die CDU aus dem Kanzleramt gewählt und die neue Regierung behauptet, "mehr Fortschritt wagen zu wollen". Daher bat ich Frau Roth, von ihrem Weisungsgebot Gebrauch zu machen und das zu tun, was im Koalitionsvertrag angekündigt ist: Akten, die älter als 30 Jahre sind, freizugeben. Doch Frau Roth hält es mit Adenauer – "Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?" – und will nun plötzlich die Sperrfrist auf den Sankt Nimmerleinstag verlängern. Ihr Sprecher, Roland Sommerlatte, teilte mir mit:

Zu einer davon abweichenden und der Einschätzung von Bundesarchiv und Bundeskanzleramt zuwiderlaufenden Sachentscheidung besteht – insbesondere mit Blick auf eine mögliche Gefährdung des Staatswohls – keine Veranlassung.

Wiederbewaffnung bleibt geheim

Konkret geht es um die Akten des Kanzleramtes aus dem Jahr 1957, die ich im Bundesarchiv in Koblenz einsehen wollte. Die Bundeswehr war gerade gegründet und die Bundesrepublik in die Nato aufgenommen worden. Die nukleare Abschreckung stand auf der Tagesordnung.

Konrad Adenauer fürchtete, von sowjetischen Panzern überrollt zu werden und militarisierte, ein Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die bundesdeutsche Gesellschaft. Leider fand ich in den Akten etliche "Entnahmeblätter", die belegen, dass an dieser Stelle Dokumente aus dem Jahr 1957 entnommen und weiterhin geheim gehalten werden.

Auf Nachfrage meinte das Bundesarchiv meinem Rechtsanwalt Raphael Thomas gegenüber, dass das Kanzleramt in Berlin weiterhin an der VS-Einstufung festhalte. VS steht für Verschlusssache. Die Behörden setzen offenbar auf ein Ping-Pong-Spiel, so ein weiterer meiner Anwälte:

Wie bei Kafka wurde unsere Mandantin vom Bundeskanzleramt an das Bundesarchiv verwiesen, und umgekehrt erklärte sich das Bundesarchiv an die Weisungen des Kanzleramtes gebunden. Vor Gericht zog sich das Bundesarchiv auf völlig substanzlose Behauptungen des Bundeskanzleramts zur angeblichen Geheimhaltungsbedürftigkeit zurück. Und das, obwohl die Unterlagen über 60 Jahre alt sind. Wenn die Behörden damit durchkommen, können wir uns den archivrechtlichen Nutzungsanspruch ganz sparen.

Rechtsanwalt David Werdermann

Neuregelung des Bundesarchivgesetzes?

Seit 1988 haben wir ein Bundesarchivgesetz, seit 2006 ein Informationsfreiheitsgesetz. Danach war stets klar, dass Akten bis zu 30 Jahren geheim gehalten werden dürfen, in besonderen Einzelfällen bis zu 60 Jahren. Damit wären nun die Akten des Kalten Krieges für die Öffentlichkeit offen.

Um dies zu verhindern, novellierte die Große Koalition 2017 das Bundesarchivgesetz. Die neue Regelung verwässert die klare Aussage, dass nach 60 Jahren endgültig Schluss ist mit Geheimhaltung, indem sie die Verschluss-Sache-Anweisung (VSA) vom Jahr 2006 erwähnt. Doch auch darin heißt es:

Die Einstufung (als Verschluss-Sache) ist nach 30 Jahren aufgehoben. Die Frist kann um höchstens 30 Jahre verlängert werden.

Das sind nach Adam Riese 60 Jahre, maximal. Verwaltungsvorschriften wie die VSA sind interne Anordnungen. Im Gegensatz zu einem Gesetz besitzen sie keine demokratische Legitimation. Und die neue VS-Anweisung von 2018 erlaubt an keiner Stelle die unbefristete Geheimhaltung.

Sie erwähnt allerdings keine maximale Schutzfrist mehr und spricht nur von einem allgemeinen "Schutzbedarf". Der gesetzliche Anspruch wurde damit nicht geregelt, sondern verwässert und damit der Verwaltung die Entscheidung überlassen.

Und das Bundesarchiv hat sich dem zu unterwerfen, ob es will oder nicht. O-Ton Michael Hollmann, Präsident des Bundesarchivs:

Die VSA sieht im § 17 besondere Ausnahmefälle vor, dass Prolongationen, also Verlängerungen, dieser Schutzfrist über diese Frist von 60 Jahre hinaus erfolgen können, und das ist eine Entscheidung, die ausschließlich in der Befugnis der herausgebenden Stelle, also in dem Fall dann des Bundeskanzleramtes fällt. Und das ist eine Entscheidung, die wir einzuholen haben und der wir uns dann auch zu beugen haben.

Dass im Koalitionsvertrag eindeutig festgehalten wurde, die Rechte der Bürger und Wissenschaftler zu stärken und die Sperrfrist auf maximal 30 Jahre zu begrenzen, belegt, dass sich die neue Regierung der Notwendigkeit des Handlungsbedarfes klar ist. Und sie hat gehandelt. Frau Roth tut genau das Gegenteil dieses Versprechens.

Mehr zur Arbeit und den spendenfinanzierten Recherchen von Gaby Weber auf ihrer Homepage.