Verschwörung nach Maß: Der Terroranschlag von Moskau und seine Instrumentalisierer
Von Strauß bis Putin: Vielen Politikern passte die wahrscheinlichste Erklärung für blutige Attentate nicht. Nutzt der Moskauer Anschlag dem Law-and-Order-Staat?
Der mörderische Anschlag auf die Moskauer Konzerthalle reiht sich ein in eine Kette in ähnlicher Terrorakte in Paris, Istanbul und anderen Städten. Danach erstrahlten jeweils historische Gebäude in Berlin in den Farben der Flaggen des betroffenen Landes – wie Menschenrechtsorganisationen die Lage dort bewerteten, spielte dabei auch im Fall der Türkei keine Rolle.
Als prinzipieller Gegner von Nationalfahnen kann man natürlich mit Recht argumentieren, dass nicht Nationen, sondern konkrete Menschen angegriffen wurden.
Terroropfer als propagandistische Spielmasse
Dass nun auch nach dem Anschlag nicht die Farben der russischen Flagge im Berliner Stadtbild zu sehen sein werden, zeigt, dass es eben nie nur darum geht, Opfern eines Anschlags zu erinnern. Wolfgang Hübner schreibt völlig richtig im Neuen Deutschland:
In Kriegszeiten wird alles instrumentalisiert; dass viele Tote und Verletzte umgehend zur propagandistischen Spielmasse werden, ist dennoch erschütternd.
Wolfgang Hübner
Dazu passt auch, dass in Berlin und den anderen Metropolen des globalen Westens Anschlagsopfer eben nicht in gleicher Weise gedacht wird, wie denen aus Madrid, Paris, London oder Istanbul.
Krieg und Terror: Wenn Islamisten als Täter ungelegen kommen
Aber die Instrumentalisierung ist auch in Russland selbst zu beobachten. Abgesehen davon, dass Präsident Wladimir Putin in einer TV-Ansprache 19 Stunden nach dem Anschlag hervorhob, dass sich die mutmaßlichen Täter "in Richtung Ukraine" bewegt hätten, ohne auf das Bekenntnis des "Islamischen Staates" (IS) einzugehen, wollen auch einige russische Oppositionelle lieber nicht den IS als Täter sehen.
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Sie sprechen stattdessen von einer False-Flag-Aktion – also davon, dass die russischen Staatsorgane selbst in den Anschlag verwickelt sind, um den Krieg nach Außen gegen die Ukraine und nach Innen gegen die Opposition zu verschärfen.
Solche Behauptungen gab es schon Ende der 1990er-Jahre, als es zahlreiche Tote nach Anschlägen auf russische Wohnhäuser gab. Der Staatsapparat machte dafür tschetschenische Islamisten verantwortlich und führte dann einen auf beiden Seiten verlustreichen Krieg gegen eine islamistisch geprägte tschetschenische Regierung.
False-Flag-Aktionen bisher unbewiesen
Ersetzt wurde sie durch eine ebenfalls autoritär-islamistische Clique um Ramsan Kadyrow, die sich allerdings loyal zur russischen Staatsmacht verhält. Dass die Anschläge in den 1990er-Jahren False-Flag-Aktionen waren, konnte nie belegt werden.
Man könnte von unbelegten Behauptungen, aber eben auch von Verschwörungstheorien sprechen, wie es sie auch zu vielen anderen Anschlägen gibt, besonders zu denen vom 11. September 2001 in den USA.
Ein Imageverlust für den russischen Law-and-Order-Staat
Auch die jüngsten Gerüchte über eine False-Flag-Aktion in Moskau bewegen sich auf dieser Ebene. Es werden Gründe gesucht, warum der Anschlag dem gegenwärtigen russischen Regime angeblich nützt. Dabei wird aber vergessen, dass die Anschläge vor allem einen Imageverlust für den russischen Law-and-Order-Staat bedeuten. Er hat den Anspruch, alles und jeden zu kontrollieren und verspricht dafür russischen "Normalos" Ruhe und Sicherheit.
Kürzlich wurde die "internationale LGBT-Bewegung" auf die Terrorliste gesetzt – und dann schlagen tatsächliche Terroristen unbemerkt von den autoritären Staatsorganen mitten in Moskau zu.
Putins Verschwörungstheorie: Die Ukraine ist verantwortlich
Auch Putin und seine Umgebung stricken an einer Verschwörungstheorie, in dem sie dem Kriegsgegner Ukraine die Verantwortung für den Anschlag zu schieben. Der naheliegende islamistische Hintergrund des Anschlags wird von Putin und seiner Umgebung ignoriert, weil er wohl nicht in die gegenwärtige Interessenlage der russischen Nomenklatura passt.
Terror in Madrid: Konservative zogen ETA als Täter vor
Hier agiert der Kreml durchaus nach Vorbildern im globalen Westen. Als vor 20 Jahren die islamistischen Anschläge wenige Tage vor der spanischen Parlamentswahl die Welt erschütterten, behauptete der konservative Ministerpräsident noch steif und fest, die baskische Nationalbewegung ETA wäre für den Anschlag verantwortlich.
Das stellte sich nach zwei Tagen als falsch heraus und die Konservativen mussten nach den Wahlen die Regierung an die Sozialdemokraten übergeben. Es waren diese offensichtlichen Falschbehauptungen, die die Wähler derart aufregten, dass die vorher als chancenlos geltende Opposition die Wahl gewann. Hätten die spanischen Konservativen bestätigt, dass die Islamisten für die Anschläge verantwortlich sind, hätten sie wahrscheinlich die Wahlen nicht verloren.
Die Sozialdemokraten zogen daraufhin spanische Truppen aus dem Irak zurück – deren Beteiligung am Irak-Krieg hatten auch die Islamisten verwandt, um den mörderischen Anschlag zu rechtfertigen.
Rechter Terror in Deutschland: Auch Strauß lenkte auf falsche Spur
In Deutschland gab es von konservativer Seite schon 1980 den Versuch, den Bombenanschlag auf das Münchner Oktoberfest der RAF in die Schuhe zu schieben, obwohl schnell klar war, dass die Urheber im rechten Milieu zu suchen sind.
Besonders der damalige Kanzlerkandidat der Union, Franz Josef Strauß (CSU) hoffte sich in diesem Bundestagswahlkampf, den er mit dem Slogan "Freiheit statt Sozialismus" führte, als starker Mann präsentieren zu können. Das Kalkül ging nicht auf, zumal sich die These nicht halten ließ, dass die RAF mit dem Anschlag etwas zu tun hatte.
In diesem Sinne reiht sich Putin mit seiner Fokussierung auf die Ukraine nach dem Moskauer Anschlag in den Reigen der Politiker ein, die solche Ereignisse für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren wollen. Es ist eine alte Masche, auf Kriegsgegner alles Schlechte abzuladen. So werden Verschwörungstheorien regelrecht gefördert.
Tschetschenische Islamisten auf Seiten der Ukraine?
Dagegen sollten alle vorsichtig mit Schlussfolgerungen sein, solange ein Großteil der Fakten um die Anschläge nicht bekannt ist. Bis dahin kann weder bestätigt noch ausgeschlossen werden, dass es auch eine Spur in die Ukraine gibt.
Schon längere Zeit gibt es Meldungen, dass tschetschenische Freiwillige wegen "alter Rechnungen" auf Seiten der Ukraine kämpfen, wenn auch nicht unter der Flagge des Islam.
Freiwillige aus Tschetschenien ziehen aufseiten der ukrainischen Armee gegen Russland in den Krieg. Sie haben noch eine Rechnung mit Wladimir Putin offen. (…) Die Tschetschenen, die nun für die Ukraine kämpfen, scheinen weitgehend von einer nationalistischen Ideologie geleitet zu sein, nicht von den islamistischen Elementen, die in ihrer Geschichte eine große Rolle spielten.
Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 1. April 2023
Der gemeinsame Feind ist Russland.