Vertane Chancen: Putins Radikalisierung zum antiwestlichen Nationalisten

Seite 2: Grenzen unserer Aufarbeitung

Putin hatte nach einer Politik des Ausgleichs gerufen – in seiner mit Beifall unterbrochenen großen Rede im Bundestag 2001 und auch noch in seiner Kritik Jahre später auf der Münchner Sicherheitskonferenz, der nicht zugehört, sondern über die arrogant hinweggegangen worden war.

Ausgleich aber hätte bedeutet, im Wissen und einer angemessenen breiten gesellschaftlichen und politischen Aufarbeitung um die kollektiven Mehrfachtraumata in der sowjetisch/russischen/weißrussischen und ukrainischen Geschichte eine politische, vor allem aber ökonomische und kulturelle Kooperation auf Augenhöhe entgegengesetzt zu haben.

Das ist nicht geschehen: Russland ist darüber hinaus weder die EU-Perspektive noch die gemeinsame Sicherheit mit der Nato angeboten worden. Der Test einer solchen Kooperation nicht zuletzt der Vereinigten Staaten, Europas und Deutschlands ist nie ernsthaft unternommen worden.

Putin habe als Liberaler begonnen, im Blick auf Peter I. aus dem frühen 18. Jahrhundert, der damals entstandenen großen Metropole Sankt Petersburg, damals einer Stadt der Aufklärung, Ort der administrativen, politischen und ideologischen Rationalität - und ihrem Einfluss auf Katharina II. In den Anfangsjahren seiner Herrschaft zitiert er vor allem den Aufklärer Immanuel Kant (!).

Er erinnert an Kants Zum ewigen Frieden; er klingt überzeugt darin, dass es die ökonomische Entwicklung der riesigen Territorien und die Zusammenarbeit mit Europa und der übrigen zivilisierten Welt brauche. Von einer Konfrontation mit der übrigen Welt ist noch nirgendwo die Rede.

Im Jahr 2004 verhält sich Putin allerdings schon zurückhaltender. Es geht ihm weniger um das aufgeklärte Europa als um das christliche und die Wahrung russischer Identität. Inzwischen kritisiert er den Vormarsch Europas nach Osten – nach dem drei frühere Sowjetrepubliken, die baltischen Staaten, der Europäischen Union beigetreten waren - und sieht Russland an den Rand der europäischen Politik gedrängt.

Zwischen 2004 und 2012 habe Putin die konservative Wende vollzogen und mit ihr die Ablehnung einer europäischen Bestimmung Russlands. Unmittelbar nach seiner Ernennung im August 1999 zu Jelzins Premierminister, betrieb er den zweiten Tschetschenien-Krieg, nachdem es im September 1999 Bombenexplosionen gab, die womöglich Putins Entscheidung zuzurechnen sind.

In schneller Folge gab es mörderische Bombardements, in der Republik Tschetschenien, die 100-200.000 militärische und zivile Opfer forderten. Alsbald bemächtigte er sich des von dem Oligarchen Vladimir Gussinski beherrschten Fernsehgesellschaft NTW; später ging er gegen Boris Beresowski, dem Hauptaktionär des Fernsehsenders ORT vor.

Eltchaninoff zufolge gebe es bei Putin noch eine andere quasi philosophische Bedeutung: nämlich Judo als "Philosophie", den Weg des sanften Nachgebens gegenüber dem respektierten Partner und einer Problembearbeitung, die nicht auf roher Kraft beruht, sondern auf Können, auf Taktik und natürlich auf Willensstärke. (…)

Der Wandel zum russischem Neokonservatismus

Eltchaninoff sieht Putins Wandel in den Neokonservatismus auch durch ein Ereignis beschleunigt, das am 1. September 2004 erfolgt ist: die Tragödie von Beslan.

Bei der Geiselnahme in der nordossetischen Stadt haben Terroristen in einer Schule mehr als 1.100 Kinder und Erwachsene in ihre Gewalt gebracht. Im Zuge einer chaotischen Befreiungsoperation der russischen Spezialkräfte verlieren hunderte Menschen, vor allem Kinder, ihr Leben.

Putin kündigt zwei Wochen später an, dass die Gouverneure der Region von nun an nicht mehr gewählt, sondern bestimmt werden, da die Lokalverantwortlichen nachlässig waren und dies Ausdruck einer der Schwächen der Demokratie sei.

Nun erklärt er die orthodoxe Kirche zu seinen Verbündeten bei der Moralverstärkung des Volkes. Nun ist es die Verteidigung traditioneller familiärer Werte (im Gegensatz zur Homosexualität) sowie die Verteidigung der kulturellen Immunität Russlands gegenüber ausländischen Invasionen.

2007 wendet sich Putin in seiner berühmten Münchner Rede gegen die monopolare Ordnung, möchte seine Kultur vor fremder Ansteckung bewahrt sehen und sie zu einem Arm der nationalen Politik machen. 2012 ist dieser Konservatismus offenkundig, nachdem die Bürger gegen die manipulierten Parlamentswahlen vom Dezember 2011 protestiert hatten.

Zwei Jahre später kommt es im September zu einer regelrechten antiwestlichen und antimodernen Schmährede im Waldai-Club und zur Verteidigung von Patriotismus, christlichen Werten und der traditionellen Familie. Er wendet sich gegen die nostalgischen Anhänger einer sowjetischen Ideologie ebenso wie gegen die Idealisierung des Russland aus der Zeit vor 1917 sowie gegen die Verfechter eines westlichen Ultraliberalismus.

Er kritisiert die Ablehnung der eigenen Wurzeln vieler euro-atlantischer Staaten und der christlichen Wurzeln, die das Fundament der westlichen Zivilisation bildeten. In diesen Staaten würden laut Putin die moralischen Grundlagen und jede traditionelle Identität verneint, sei sie national, religiös, kulturell oder sogar geschlechtlich. Immer stärker wendet er sich gegen die westlichen Werte zugunsten seines neuen Konservatismus – in etwa zeitgleich zu dem von ihm argwöhnisch beobachteten Maidan-Protesten.

2014 wird die Internetseite Russkaja Idea, unter anderem mit einem Boris Meschujew ins Leben gerufen - um die verbotenen russischen Denker wie Vladimir Solowjew im Sinne einer konservativen Renaissance ebenso einen Konstantin Leontjew, einen russischen Nietzsche (1831-1891) wieder zu "entdecken". Es ist eine konservative Renaissance, die sich vor allem Ende der Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts ausweitet und gegen den europäischen Weg der Säkularisierung und die Demokratie richtet.

Leontjews paradoxes, sinnliches und mystisches Werk ist voller Verachtung für die bürgerliche Mittelmäßigkeit und den Konformismus, radikaler als alles bei Dostojewski und in Verehrung der byzantinischen Kirche. Ein Aristokratismus, Dogmatismus, Pessimismus - der Demokratie gegenüber feindlich – und den entsprechenden Werten von Freiheit, Gleichheit, Laizismus, Säkularisierung, Bequemlichkeit und Eudämonismus.

Es ist der gleiche Leontjew, der einen fast notwendigen Aufstieg und Niedergang der Zivilisationen beschwört – ähnlich dem späteren Oswald Spengler und seinem Untergang des Abendlandes.

Inzwischen wird von den Kreisen um Putin das gesamte konservative Denken der Weimarer Republik verwendet, und der Nationalbolschewist Ernst Niekisch und nicht zuletzt Ernst Jüngers Begeisterung des Krieges, aber auch Carl Schmitts Freund Feind Dimension als Politisches, gegen jede moralische oder juristische Lesart von Politik. Putin, so Eltchaninoff, verschreibt sich eine nur nach Kräfteverhältnissen verstandenen Politik.

Für ihn gebe es nur Freund oder Feind, Kampf oder Allianz zwischen politischen Körperschaften, Recht und Moral haben an Bedeutung verloren. Das ist anders, als Eltchaninoff schreibt, mehr als konservativ, es ist eine Ideologie der konservativen Revolution.

Es ist dann die Siegrede nach der Eroberung der Krim vom 18. März 2014, die nun eindrücklich einen russischen Weg vorschreibt: Nach der ökonomischen und sozialen Krise, der Demütigung des Untergangs seines Imperiums dem Land sein Ansehen und seine führende Rolle in der Welt zurückzugeben. Inzwischen ist es das heilige Russland, die besondere Rolle als Hüter der authentischen christlichen Werte im Sinne einer spezifischen nationalen Identität, aufgerufen, eine Rolle in der Welt zu spielen.

Als könne die Religionsideologie die kommunistische Ideologie von einst ersetzen. Es ist die besondere russische Eigenheit christlicher Traditionen, des Patriotismus und der Anhänglichkeit an die Tradition, die Putin mit der Aufforderung verbindet, die Begriffe des Menschenrechts und der Meinungsfreiheit auf seine Weise neu zu interpretieren. Zwar akzeptiere er die Universalität und Diversität demokratischer Prinzipien, aber nicht die der Sprache oder der konkreten politischen Formen, in denen sie zum Ausdruck kommen.

In der Geschichte sieht der Eltchaninoff zwei große philosophische Traditionen in Russland - neben der slawophilen Bewegung die Bewegung nach Westen, nach der Russland seit Peter dem Großen dazu berufen sei, voll und ganz Teil Europas zu werden - mit den Ideen der Pflicht, der Gerechtigkeit, des Rechts und der Ordnung. Auf der anderen Seite dagegen finden sich Traditionen des deutschen Idealismus, vor allem Hegels und Schellings, die einen nationalen Geist förderten.

Aber nicht das ist, woran Putin sich orientiert. Wichtiger ist Nicolai Danilewski, eine der Praxis zugewandte Version des slawophilen Denkens, nach Boris Meschujew die wohl wichtigste Inspirationsquelle für Putins Politik. Er forderte den Zusammenschluss aller Slawen unter der Führung Russlands und die Abkehr der Vorstellung, Teil Europas zu sein); für ihn ist der Kampf mit dem Westen das einzige Rettungsmittel, einschließlich des "sittlichen" Momentes Krieg.

Dugins Welt

Von hohem, wenn auch im Detail ungeklärtem Einfluss ist Putins Umfeld, nicht zu- letzt das des eurasischen Neofaschisten Alexander Dugin. Andreas Umland hat 2019 in Das alte Denken der neuen Rechten. Die langen Linien der antiliberalen Revolte (Zentrum Liberale Moderne. Berlin 2019) auf die Ähnlichkeiten von Putins irredentistischer Agenda: seiner Eurasischen Union und Dugins "Neoeurasismus" hingewiesen.

In seiner sogenannten 4. politischen Theorie propagiert dieser die Befreiung Europas vom Westen und der Neuzeit, die Rückkehr Europas nach Hause, seine Wurzeln und seine Quellen. (Ebenda 115) Ihm geht es in seinem Neofaschismus (Andreas Umland) um eine kategorische Ablehnung der existierenden Lage und eine absolute Überzeugtheit davon, dass Russland, Europa und die Welt eine fundamentale geistige, kulturelle und politische Revolution nötig hat. Der Titel eines jüngeren Buches von Dugin spricht für sich: "The Great Awakening vs. the Great Reset".

Dugins "Foundation of Geopolitics" ("Die Grundlage der Geostrategie") ist ein wirres, verbreitetes ideologisches Machwerk, in der er die Bedeutung einer Machtexpansion Russlands – u.a. gegen die Türkei – gemeinsam mit Armenien, dem Iran und dem "Menschen des Nordens" als heilige beschwört; das Buch ist in hohen politischen und Militärkreisen Moskaus verbreitet.

Das Buch enthält Weltmachtfantasien und die radikalsten sind ihm die wichtigsten, so die Antidemokraten der sogenannten konservativen Revolution, unter anderem Friedrich Georg Jünger oder Moeller van den Bruck, alles Propagandisten der extremen Rechten in der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Bewegung in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre.

Longue Durée ideologischer und politischer Radikalisierung

Anders als mittelosteuropäische Experten teilweise annehmen – Putin war keineswegs von Anfang an darauf aus, Russland gegen Europa in Stellung zu bringen. Was ihn indes offensichtlich umtreibt, ist, dass Russland vom Westen schlecht behandelt worden ist.

Dies geht auf die Neunzigerjahre zurück, als es unter dem Rubrum einer liberalen Ökonomie nahezu zum Ausverkauf Russlands unter Jelzin kam (Vgl Jeffrey Sachs).

In den Folgejahren hat Putin vehement kritisiert, dass die Nato-Osterweiterung entschieden bis an die Grenze Russlands durchgezogen wurde.

Prof. Dr. Hajo Funke ist Politikwissenschaftler, Rechtsextremismus-Forscher und Autor mehrerer Bücher, darunter "Staatsaffäre NSU" sowie "AfD - Pegida - Gewaltnetze. Von Wutbürgern zu Brandstiftern und "Die Höcke-AfD".

Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar sprach er sich zunächst für die militärische Unterstützung des angegriffenen Landes aus, knapp ein Jahr später unterzeichnete er das Manifest für Frieden.

Dieser Artikel basiert auf einem Kapitel seiner Flugschrift "Ukraine. Verhandeln ist der einzige Weg zum Frieden" (Die Buchmacherei Berlin, 110 Seiten / ISBN 978-3-9825440-1-4)