Vertane Chancen: Wollte Putin von Anfang an Krieg?

Seite 2: Der Größenwahn der neokonservativen US-Kriegsaußenpolitik

In der Nacht vom 19. auf den 20. März 2003 kam es zum völkerrechtswidrigen Angriff einer Koalition der Willigen unter der Führung der Vereinigten Staaten auf den Irak mit im Ergebnis der Zerstörung einer ganzen Region und weit über einer Million (!) Toten. Man gab vor, dieses furchtbare Gemetzel für die Menschen und ihre demokratischen Interessen zu veranstalten.

Heute vor 20 Jahren war hinlänglich klar, dass egal, was Saddam Husseins Irak noch versuchen wird, die US-Administration unter Bush junior sich für den in seinen Wirkungen desaströsen Irakkrieg entschieden hatte. (Vgl Funke, Der amerikanische Weg. Berlin – Ende 2002 veröffentlicht sowie ders.: Gott Macht Amerika. Berlin 2007)

Ich hatte Anfang März 2003 Bagdad noch besuchen können und beobachten müssen, wie die Menschen mit ihren beginnenden Ängsten, die Kinder im Kinderkrankenhaus, die an elektrischen Maschinen angeschlossen waren, wenige Tage nach allem, was man weiß, nicht mehr gelebt haben dürften.

In einem Gespräch mit einem der Saddam Hussein nahen Vertreter der Nomenklatura erfuhr ich, dass es noch in letzter Minute den Versuch einer Abwendung des Krieges gegeben haben soll, auch dadurch, dass Saddam Hussein um eine Vermittlung mit dem damaligen Papst gebeten hatte und dieser Versuch des Papstes von Bush junior rüde zurückgewiesen worden war.

Es war der kenntnisreiche UN-Experte zu Massenvernichtungswaffen, Scott Ritter, der 2002 nachgewiesen hat, dass Saddam Hussein keine Massenvernichtungswaffen besitzt, auch wenn dies dann zum formalen Kriegsgrund der Bush-Administration erklärt worden war. 20 Jahre später (und 60 Jahre nach der Kubakrise) ist es Scott Ritter, der erneut vor einer Eskalation in einen großen Krieg warnt.

Die Tatsache, dass mit dem Irakkrieg die Vorstellungen von Demokratie und Frei- heit angesichts von Millionen Toten und dem demütigenden Rückzug aus Afghanistan, Libyen und de facto dem Irak für Jahrzehnte in der gesamten Region diskreditiert bleiben, wird nicht einmal reflektiert. Auch der damalige Senator Biden war auf der Seite des Iraks-Kriegs, wie übrigens viele unter den Politikwissenschaftlern – wie Herfried Münkler -, die heute für die Fortsetzung des Krieges in der Ukraine schwärmen, sich damals nicht gegen diesen Irakkrieg hatten entscheiden können.

Guido Steinberg in der Zeit vom 23. März 2023 hat recht, wenn er den Grund für den Einmarsch der Koalition der Willigen in den Irak nicht die falsche Annahme des Besitzes von Massenvernichtungswaffen sah. "Der Grund für den Einmarsch dürfte ohnehin ein anderer gewesen sein: Führende amerikanische Neokonservative wollten Saddam Hussein schon 1991 stürzen – und sie glauben, dass der islamistische Terrorismus seine Ursache in den autokratischen Regimen der Region habe.

Länder wie Ägypten oder Saudi-Arabien unterdrückten ihre Opposition so brutal, dass diese sich gegen ihre Regierungen und deren Verbündete, die USA, auflehnen. Deshalb gelte es, im Irak eine liberale Demokratie zu errichten, die leuchtturmartig auf die ganze Region ausstrahle. Es kommt anders. Denn die Amerikaner gewinnen im Irak zwar den Krieg, aber nicht den Frieden.

Ende April haben sie das Land mit Unterstützung britischer Truppen vollständig besetzt. Danach nimmt das vielleicht größte Fiasko der amerikanischen Weltpolitik seinen Lauf. Schnell erweist sich die Idee, das Land "von außen" zu demokratisieren, als realitätsfern. Eine Erhebung sunnitischer Gruppen gegen die Besatzungstruppen mündet 2006/07 sogar in einen Bürgerkrieg, der die mächtigen US-Truppen an den Rand einer Niederlage bringt.

Erst 2008 gewinnen sie wieder die Oberhand – unter anderem durch eine massive Aufstockung ihrer Kräfte. Dazu ziehen die USA Soldaten und Geheimdienstmitarbeiter aus Afghanistan ab, wo 2005 ein Aufstand der Taliban ausgebrochen ist."

Hinzu kommt, dass im Gegensatz zur Besatzungspolitik nach dem Zweiten Welt- krieg in Westdeutschland die US-amerikanische Besatzungspolitik im Irak von einer geradezu kolonialen Arroganz geprägt war und den Widerstand sowie die spätere Unterstützung des IS durch Kräfte im Irak verursacht hat. (Vgl Funke 2007) "Amerikas imperialer Wahn - dass wir die Ressourcen, die Weisheit und das Recht haben, die Welt zu überwachen, Russland und China in ihrer eigenen Nachbarschaft zu bekämpfen, während wir Terroristen jagen, Bomben von Drohnen in sieben Ländern abwerfen und Streitkräfte in über 100 Länder der Welt entsenden."

Van den Heuvel schrieb am 30. März 2023 in The Nation (After the Iraq Debacle, Why Does the National Security Establishment Remain Unshaken? Mission unac- complished – and lessons unlearned) u.a.: "In Wirklichkeit war der 'Krieg der Wahl' das Produkt von Hybris, zu einer Zeit, als die USA auf dem Höhepunkt ihrer Macht standen, angetrieben von Eiferern, die Recht, Beweise und die "auf Regeln basierende Ordnung" verachteten.

Oder wie es Außenminister Colin Powell bei der Durchsicht des Materials für seine UN-Rede formulierte: "This is bullshit." Hussein loszuwerden, sei ein Segen für die Iraker, argumentiert Stephens, und "der Irak, der Nahe Osten und die Welt sind besser dran, weil sie einen gefährlichen Tyrannen losgeworden sind."

Diese atemberaubende Schlussfolgerung kann nur gezogen werden, wenn man den Schaden ignoriert, der dem Land, der Region und der Glaubwürdigkeit Amerikas zugefügt wurde. Es ist dieselbe Arroganz, die zum Regimewechsel in Libyen geführt hat, mit dem Ergebnis eines erneuten blutigen Bürgerkriegs.

Einige, wie David Frum, der Redenschreiber von Bush, dem nachgesagt wird, den Begriff "Achse des Bösen" geprägt zu haben (die absurde Gruppierung von Irak und Iran – zwei glühende Feinde – mit einem nordkoreanischen Regime, zu dem beide keine Verbindung haben), meinen, dass die Iraker einen Großteil der Schuld tragen. Wir "haben dem Irak eine bessere Zukunft angeboten", twitterte Frum. "Was auch immer der Westen für Fehler gemacht hat; der Sektenkrieg war eine Entscheidung, die die Iraker selbst getroffen haben."

Die Spannungen zeigen sich auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 2007 sprach Wladimir Putin dann von einem Ungleichgewicht in ökonomischer, po- litischer und militärischer Hinsicht: Man bewege sich nicht auf Augenhöhe, und es gelte, den Einfluss der Vereinigten Staaten in Europa zurückzudrängen. Das war ein allzu selbstgerechter Anlass für den Westen, auf Abstand zu gehen, statt nun endlich die liegen gelassenen Kooperationschancen noch zu nutzen. 2008 - Ein Schlüsseljahr. Das Versagen von Bush und Merkel in Bukarest.

Entfremdung und konservative Volte Putins

Bush hat im Frühjahr 2008 in Bukarest gegen die Bedenken etwa der Deutschen und Franzosen, und dem lauten Widerstand von Frank-Walter Steinmeier, die Nato-Beitrittsperspektive für die Ukraine und Georgien durchgesetzt; selbst da noch hat der russische Präsident den amerikanischen nach Sotschi eingeladen, um ihn darum zu bitten, die gegen Russland gerichtete Raketenabwehr nicht durchzusetzen. 2008 war von entscheidender Bedeutung, es wurde das Jahr einer sicherheitspolitischen Wende, der Abwendung Putins von den Interessen an einer kooperativen Entwicklung in den internationalen Beziehungen.

Im Frühjahr entschied die Nato-Konferenz 12 in Bukarest auf Basis eines immensen Drucks von Bush junior zwar nicht die unmittelbare Perspektive eines Nato-Beitritts von Ukraine und Georgien, sondern eher einen Kompromiss, der von der damaligen Bundeskanzlerin Merkel eingebracht worden war, zwar nicht jetzt, aber perspektivisch einen solchen Nato-Beitritt zu wollen - für die einflussreiche Geheimdienstlerin und außenpolitische Expertin Fiona Hill war es das schlechtest denkbare Ergebnis dieser Konferenz, weil nun alles offen war für das Interesse insbesondere der Ukraine auf einen solchen Beitritt.

Während sich der heutige Bundespräsident Steinmeier vehement gegen den Nato-Beitritt der Ukraine ausgesprochen hatte, hat Angela Merkel in einem Interview in der Zeit vom 8. Dezember 2022 das für sich so gedeutet: Wir wollten der Ukraine mehr Zeit zum Aufbau ihrer Verteidigung geben.

Der Georgien-Krieg

Während die Lesart in deutschen Medien und auch durch Bundeskanzler Olaf Scholz lautet, dass daraufhin Russland Georgien angegriffen habe, sieht die historische Wahrheit auch hierzu anders aus: Durch Ermutigung amerikanischer Kreise hat der damalige Präsident Georgiens sich entschieden, die in Verabredung von russischen Besatzungstruppen besetzt gehaltene kleine Region Südossetien mit Streubomben am 7. und 8. August 2008 anzugreifen und in den ersten Stunden 162 Zivilisten und 14 russische Soldaten zu töten.

Daraufhin erst erfolgte der russische Angriff; über den französischen Präsidenten Sarkozy kam es zur Vermittlung. William Burns, der heutige CIA-Chef hat in seinen Aufzeichnungen als US-Botschafter in Moskau die prekäre Wende miterlebt und beschrieben.

Es war in dieser Zeit, dass sich Putin von den Chancen einer Kooperation mit dem Westen abgewandt, auf immer neue, konservativere historische Ideen der Bedeutung Russlands zurückgegriffen und schließlich im Vaidal-Club diese auch vertreten hat.

Nach diesen langen acht Jahren konnte die russische Führung nicht mehr darauf setzen, dass es zu einer Kooperation gegenseitigen Vertrauens kommt: Die berech- tigten Sicherheitsinteressen Russlands sind nicht angemessen einkalkuliert worden; Bush junior hatte in seiner Gotteskriegermentalität taube Ohren. Steinmeier und Merkel waren nicht entschieden und einflussreich genug, diesen schweren Fehler zu ändern.

Kein Geringerer als der große Historiker George Kennan hat wie je neu Henry Kissinger und Helmut Schmidt vor dem schwerwiegenden Fehler und seinen Folgen gewarnt, die Ukraine - wie dies vom Westen her geschehen ist - vor die Alternative wir oder die zu stellen.

Das historische Fenster einer wirksamen kooperativen Sicherheit ist nie angemessen genutzt worden; es ist nur eine unbelegte, ja wilde Spekulation, Wladimir Putin hätte von Anfang an das Interesse an einem großen Krieg gehabt.

Prof. Dr. Hajo Funke ist Politikwissenschaftler, Rechtsextremismus-Forscher und Autor mehrerer Bücher, darunter "Staatsaffäre NSU" sowie "AfD - Pegida - Gewaltnetze. Von Wutbürgern zu Brandstiftern und "Die Höcke-AfD".

Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar sprach er sich zunächst für die militärische Unterstützung des angegriffenen Landes aus, knapp ein Jahr später unterzeichnete er das Manifest für Frieden.

Dieser Artikel basiert auf einem Kapitel seiner Flugschrift "Ukraine. Verhandeln ist der einzige Weg zum Frieden" (Die Buchmacherei Berlin, 110 Seiten / ISBN 978-3-9825440-1-4)