Viele Raketen, wenig Debatten

Seite 2: Im Leserdialog: Hat es die "Nakba" nie gegeben?

"Schockiert" zeigte sich ein Leser vom Kommentar Auch die Nakba ist Teil der deutschen Geschichte unseres Autors Pedram Shahyar. Dieser hatte dafür plädiert, die Gewalterfahrung der Nakba auch in Deutschland anzuerkennen, weil diese Geschichte die Familien vieler Bürgerinnen und Bürger mit einschlägiger Migrationsgeschichte betrifft.

Unser Leser wies das entschieden zurück, weil die "meisten muslimischen Araber wegen falscher Propaganda und dem Ruf der Anrainer-Staaten flohen". Er plädierte an uns, "keine langsame, arabisch-nationalistisch und antisemitisch geprägte Geschichtsverfälschung" zu unterstützen.

Die Nakba bezeichnet die gewaltsame Vertreibung hunderttausender Palästinenser nach der Gründung des Staates Israel zwischen 1947 und 1949. Nakba lässt sich auf Deutsch mit "Katastrophe" oder "Unglück" übersetzen. Nach übereinstimmenden wissenschaftlichen Quellen wird die Zahl der vertriebenen Einwohner mit mindestens 700.000 angegeben. Diese Menschen lebten im früheren britischen Mandatsgebiet.

Das Argument, die meisten ursprünglichen Einwohner seien nicht gewaltsam vertrieben worden, sondern Aufrufen arabischer Staaten gefolgt, entspricht tendenziell der staatlichen israelischen Sichtweise. Dieser Linie entspricht auch das 2008 erlassene Verbot, das Wort Nakba in arabischsprachigen Schulbüchern zu erwähnen.

In dem Sachbuch Der Nahostkonflikt von Klaus Gerd Stehen (2007) heißt es dazu:

Al-Nakbah beinhaltet für die Palästinenser konkret die territoriale Zersplitterung ihres Landes, den Verlust eines Großteils ihres angestammten Territoriums an den neu begründeten Judenstaat und das Ende ihres Traums von einem eigenen ungeteilten und souveränen Palästina. Zur al-Nakba aber gehörten auch die konkreten Folgen von Krieg, Flucht und Vertreibung: Entwürdigung und Traumatisierung, Verletzungen an Leib und an Seele, Zerstörung von Familien sowie Verlust von Angehörigen, Heimat, Besitz und rechtlichem Status.

Die Angaben hinsichtlich der Zahl der Flüchtlinge schwanken zwischen 750.000 und einer Million. Die nunmehr Heimatlosen suchten vor allem Zuflucht in dem von Transjordanien kontrollierten Westjordanland, aber auch in dem von Ägypten verwalteten Gaza-Streifen sowie den arabischen Nachbarstaaten Transjordanien, Syrien und Libanon. In Israel selbst blieben von den über eine Million dort vormals ansässigen arabischen Palästinensern nur ca. 100.000 bis 180.000 zurück und wurden zu Bürgern Israels.

Für sie galt ab Oktober 1948 zunächst das Kriegsrecht, das es der israelischen Militärverwaltung erlaubte, ihre Bewegungsfreiheit den "jeweiligen Sicherheitserfordernissen" entsprechend zu kontrollieren und gegebenenfalls auch einzuschränken. Durch die Aufrechterhaltung von Ausnahmeregelungen, die noch aus der britischen Mandatszeit stammten, blieben viele Bürgerrechte für Palästinenser außer Kraft gesetzt; sodass diese ethnische Gruppe so auch formal zu israelischen Staatsbürgern zweiter Klasse degradiert wurde."

Wichtig vor diesem Hintergrund erscheint, dass trotz der Einflussnahme ultrarechter Akteure in der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu in Israel eine differenzierte Sicht auf die geschichtlichen Ereignisse besteht. So plädiert die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem für eine Thematisierung der Nakba im Schulunterricht – freilich ohne dieses Ereignis mit dem Holocaust gleichzusetzen.

In einem Interview mit Yad Vashem führt der palästinensische Professor Mohammed S. Dajani Daoudi dazu aus:

Die verschiedenen historischen Ungerechtigkeiten, die die beiden Völker erleiden mussten, sind jede für sich traumatisch. Die fehlende Bereitschaft des jeweilig "anderen", diese Realität anzuerkennen, setzt letztlich das Leiden fort und verursacht Feindseligkeit. Deshalb ist es von essenzieller Bedeutung, die Shoah und die Nakba in beiden Gesellschaften zu unterrichten.

Über diesen wichtigen Aspekt der jüdischen Geschichte zu lernen, ist für Palästinenser ein Zeichen der Stärke und eine Übung in intellektueller und moralischer Freiheit. Dem gegenüber ist die Entscheidung, sich nicht damit zu beschäftigen, ein Zeichen der Unsicherheit und der Angst, nicht der Stärke. Das Leugnen oder sogar bewusste Ignorieren des Holocaust bringt für die Palästinenser einen großen Nachteil, wenn es darum geht, mit Israel und der internationalen Gemeinschaft zu verhandeln.

Umgekehrt trifft dieses Argument aber auch auf die Israelis zu. Es kann nur im israelischen Interesse sein, von der Nakba und dem palästinensischen Leiden zu erfahren.

Letzter Satz aus dem Yad-Vashem-Interview sei dann auch die Antwort an unseren Leser.