Virtueller Raum oder Weltraum?

Seite 2: 1. Das Metaversum

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Einen Vorschein auf das künftige Leben im Netz und dessen Rückwirkung auf die urbane Lebenswelt schildert der Science-Fiction-Roman Snow Crash (München 1994) von Neal Stephenson. Liest man Snow Crash zusammen mit den Ausführungen von Mike Davis über Los Angeles (City of Quartz, Berlin/Göttingen 1994, sowie: Urbane Kontrolle - die Ökologie der Angst, in S.Iglhaut, A.Medosch, F.Rötzer (Hg.): Stadt am Netz. Ansichten von Telepolis, Mannheim 1996), so gewinnt man einen Eindruck über die mit Ängsten und Hoffnungen durchwucherte Zukunft des urbanen Raums. Die Soziologie der Zukunft ist längst in die Science Fiction ausgewandert. Städte und deren Gemeinschaften zerfallen immer mehr in suburbane, voneinander abgeriegelte Zonen, Gettos oder Wehrsiedlungen, die sich einschließen.

Auch diese Tendenz zur Einschließung und zur Homogenisierung der Bewohner hat ihre Vorbilder in der Geschichte, vor allem in der der Utopie. Utopische Städte waren stets klein, übersichtlich und ihre Bewohner nicht zerrissen durch soziale Konflikte. Sie waren keine Orte der Anonymität, der Lust, der Überschreitung sozialer und moralischer Konventionen, der Kämpfe zwischen Klassen und Schichten, sondern in ihnen lebten friedlich miteinander umgehende Mitglieder von Gemeinschaften. Utopien vom Großstadtleben wurden nur selten entwickelt. Als während der industriellen Revolution die Städte explodierten, träumte man von Gartenstädten, suchte man den großen Agglomerationen immer wieder kleinere, geschlossene Einheiten entgegenzusetzen, grassierte stets eher das Bild einer dörflichen Gemeinschaft als das einer urbanen Gesellschaft, selbst wenn sich dies nur in Trabantenstädten oder Wohneinheiten niederschlug. Diese Reaktion auf die Massengesellschaft und ihr urbanes Leben setzte sich auch in den Utopien der 60er Jahre fort und läßt sich noch in Marshall McLuhans Metapher von der durch elektronische Kommunikationsmittel konstituierten Gemeinschaft als globales Dorf oder in den wild wuchernden digitalen Städten finden. Nachdem die Utopien der Moderne gescheitert oder vielleicht eher verlassen worden sind, die stets auf die Verwirklichung in der Gesellschaft basierten und deren Veränderung anstrebten, scheint sich die Sehnsucht nach Gemeinschaft heute durch den Cyberspace erfüllen zu lassen, während sie gleichzeitig im realen Raum durch die Errichtung neuer Mauern in der dualen Stadt eingelöst wird.

Neal Stephenson hat die soziologischen Analysen über die duale Stadt von Saskia Sassen, Mike Davis oder Manuell Castells subtil als selbstverständliche gewordene Lebenswirklichkeit in seinen Roman einfließen lassen. Nationalstaaten und deren Regierungen gibt es nur noch als machtlose Instanzen, während die Territorien in Gettos aufgeteilt wurden. Jeder wird kontrolliert, der in sie eintreten will. Die Welt ist aufgeteilt in Stadtstaaten, ein pluralistischer Fleckenteppich von Gettos. In Snow Crash ist eines dieser Gettos beispielsweise Mr. Lees Groß-Hongkong. Es ist keine zusammenhängende Stadt, sondern eine zerstreute Ansammlung von geschützten Enklaven: Mr Lees Groß-Hongkong ist ein privates, rundherum extraterritoriales, unabhängiges, quasinationales Gebilde, das von anderen Nationalitäten nicht anerkannt wird.

Der Zerfall der Städte läßt Ängste entstehen, die Überwachung und Kontrolle forcieren und die Bevölkerungsschichten voneinander isolieren. Der Kampf zwischen den Armen und Reichen, zwischen Alten und Jungen, zwischen verschiedenen Ethnien ist an der Tagesordnung. Politische Macht, gebunden an ein Territorium, wird durch diese lokale Fragmentierung ebenso zerrieben wie durch die international agierenden Unternehmen, die sich im globalen Netzwerk verankern und dieses betreiben. Snow Crash spielt in Los Angeles, der Stadt der Zukunft, in der das Wachstum nur noch in den Tälern und Canyons stattfindet, aus der die Menschen flüchten und sie dadurch nur immer größer werden lassen, während die anderen Flüchtlinge in sie einwandern: Die einzigen, die in den Städten geblieben sind, sind die Straßenmenschen, die sich von Abfall ernähren; Einwanderer, die der Zusammenbruch der asiatischen Mächte wie Granatsplitter zerstreut hat; und die Technomedia-Priesterschaft von Mr. Lees Groß-Hongkong. Kluge junge Leute wie Da5id und Hiro, die das Risiko auf sich nehmen, in der Stadt zu leben, weil sie Stimulation mögen und wissen, wie man damit umgeht - und weil sie jederzeit in die künstliche Welt eintauchen können, die viel attraktiver als die wirkliche ist.

Nur im Metaversum, der virtuellen Stadt, gibt es noch eine begrenzt gemeinsame Lebenswelt, in der sich Millionen von Menschen gleichzeitig aufhalten. Doch auch in dieser virtuellen Welt spiegeln sich die gesellschaftlichen Brüche der wirklichen Welt. Nur wer Geld oder Programmierkompetenz besitzt, kann sich in dieser Parallelwelt frei bewegen, sich private Grundstücke kaufen oder sich in einem maßgeschneiderten Avatar repräsentieren. Besitzt man in Stephensons Metaversum einen eigenen Computer und hatte man das Geld, sich ein Grundstück zu erwerben und darauf sein privates Haus zu bauen, so materialisiert man sich in diesem. Besucher, die sich etwa von öffentlichen Terminals einloggen, gelangen über Schleusen, Flughäfen vergleichbar, auf die endlose Hauptstraße des Metaversums. Man erkennt sie daran, daß ihre Avatars schwarzweiß und gering aufgelöst dargestellt werden, daß sie schlicht billig sind.