Virtueller Salon der Digerati

Während die E-Zines der Intellektuellen ökonomisch darben, gedeihen die Salons im Cyberspace. In einem schicken Salon mit dem Namen "edge" haben sich die amerikanischen Digerati versammelt - und bleiben unter sich.

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.
John Perry Barlow - The Connector

Gesucht: Nicht-amerikanische Digerati

Wir armen Intellektuellen haben es doch schwer. Keiner will uns haben. Und Geld machen nur wenige von uns als freie Produzenten von Information, allerdings von einer, die offensichtlich nur schwer als Ware umzusetzen ist, wenn man das Feld der klassischen Medien verläßt. Im Informationszeitalter sollen wir leben - und die Computernetze sollen eben jene Medien sein, in denen die Informationen nicht nur zirkulieren, sondern möglicherweise auch ihren finanziellen Niederschlag finden. Doch eben letzteres scheint so einfach nicht zu sein.

Esther Dyson - The Pattern-Recognizer

Wenn man nicht Sex, Software oder andere heiße Informationen anbietet, sondern nur den guten alten Diskurs einer wie auch immer über sich aufgeklärten oder abgeklärten Aufklärung, sieht man alt aus, paßt man nicht nur zur vielgepriesenen Info-Elite. Nicht umsonst wird daher neuerdings das Heil in der Umwandlung des Netzes zum Push-Medium für den müde von der Arbeit Heimkommenden selbst von Wired, dem selbsternannten Träger der digitalen Revolution, gepriesen. Der Konsument will vielleicht der Avantgarde angehören und sich, wie alle anderen, von allen anderen durch bestimmte Attitüden, Waren, Zeichen oder Verhaltensweisen unterscheiden, für sein Geld will er aber etwas geboten haben - und nicht noch zusätzlich Arbeit leisten.

If Wired is about youth at all, it's about '60syouth culture. The digital revolution is being led primarly by two kinds of people: The core group, composed of the early hippie nerds and thinkers who have since become wealthy and influential; and a second group, the 'early adopters', who pioneered using digital technology in many fields and who rose quickly in their professions during the '80s and early '90s because of it. Wired is principally aimed at those two demographic niches, which are composed mostly of middle-aged white men.

Paul Keegan
Bill Gates - The Software Developper

Wie auch immer, den Content-Lieferanten, die man einst - vielleicht vor einem Jahr noch - als die großen Gewinner der Zukunft betrachtete, geht es schlecht. Vielleicht sehen ja rote Zahlen besser aus als schwarze, aber wer soll das alles lesen und konsumieren, was all die anderweitig nicht Unterkommenden als Content absondern. Globalisierung heißt ja nicht, daß immer mehr Schreiberlinge und sonstige Info-Ware Anbietende, selbst wenn sie den Untergang der Gutenberg-Galaxis verkünden, ihre Arbeitslosigkeit verhindern können, indem sie einen gefälligen Kontext für Werbung schaffen. Der Weltmarkt der Information erhöht vor allem die Konkurrenz. Und immaterielle oder digitale Güter sind offensichtlich nicht notwendig, wie manche Apologeten der digitalen Revolution verkündet haben, auch geistig, was immer das näher bedeuten mag.

Aber was soll's: Aufklärer und Avantgardisten müssen, wenn sie denn ihre Profession überzeugend spielen wollen, auch Außenseiter sein. Der Glaube, sie könnten durch Aneignung eines neuen Mediums sich plötzlich zu einem Mainstream aufblähen, ist zwar ihrer Ideologie inhärent, würde aber zugleich ihr Image und ihr Selbstbild zerstören, das auch dann noch gedeiht, wenn sie glücklicherweise viel Geld umsetzen und wie Wired als Printversion, jedoch nicht in der Softversion, die Propaganda der digitalen Revolution zum Markenartikel und daher zur Ware machen. Irgendwann ist eine kritische Masse erreicht - jetzt? - und die digitale Revolution wird zum Alltag, der nicht mehr sonderlich aufregend ist. Und die Revolutionäre suchen ihre Schlupflöcher in Stiftungen, um sich dem kommerziellen Ansprüchen nicht stellen zu müssen. Das ist schon gut, aber halt doch eine Nische.

Ein Forum der Digerati

Die Digerati bekehren und vernetzen die Menschen. Sie passen sich schnell an. Sie schätzen es, mit ihren Anhängern zu sprechen, weil sie das zur Höchstleistung zwingt und sie ihre interessantesten neuen Ideen erklären können. Sie geben einander die Möglichkeit, groß zu sein. Denn mit den Großen wollen sie über die sie faszinierenden Dinge sprechen, um zu sehen, ob sie funktionieren. Sie fragen einander die Fragen, die sie sich selbst stellen, und das ist ein Element, was diese Cyberelite erfolgreich macht.

Zitat aus 'Edge'
Sherry Turkle - The Cyberanalyst

Die ausgerufene Revolution entläßt ihre Kinder, selbst wenn sie nicht erwachsen werden wollen. Zumindest bildet sich eine Kaste der Führenden und Erfolgreichen heraus, die sich ihre eigenen Institutionen schaffen. Heute nennt man sie Digerati - und sie wählen sich offensichtlich selbst auf ihre Positionen. Die digitale Revolution ist amerikanisch, also finden im Club der Digerati nur Amerikaner und überdies weiße ihren Platz. Entgegen aller Globalität ist man dennoch nationalistisch befangen. Der "American Dream", den schon das "Manifest für den Cyberspace" zu seiner Grundlage machte, ist eben ein Aufruf an die Amerikaner, die Welt durch Mission zu beglücken, und kein kosmopolitischer Traum. Beleidigt stellte denn auch Wired die englische Ausgabe unlängst ein. Wir wollten euch die "digitale Revolution" bringen, aber ihr, so liest man zwischen den Zeilen, habt sie und uns verschmäht. Jetzt müßt ihr halt selber sehen, was ihr mit der Botschaft ohne die legitimen Boten anfangen könnt. Ohne uns wahrscheinlich nicht viel.

Wer sind die 'Digerati' und warum sind sie die 'Cyberelite'? Sie sind die Macher, Denker und Autoren, die einen gewaltigen Einfluß auf die entstehende Kommunikationsrevolution ausüben. Sie stehen nicht an der Frontier, sie sind die Frontier.

Zitat aus 'Edge'
Howard Rheingold - The Citizen

Am Rand, am Horizont, an der Spitze, jedenfalls weit vorne sind die selbsterkorenen amerikanischen Digerati . Und jetzt haben sie einen öffentlichen, aber in Form einer Stiftung gesponserten Platz gefunden, an dem sie endlich ungeniert und ungestört für ein potentiell weltweites Publikum die Tagungen ihres Zentralkommitees inszenieren können. Edge heißt der Ort, an dem sich die Crème der digitalen Revolution wie einst die Aufklärer und Literaten in einem Stammcafe trifft und ihre Dritte Kultur feiert, die immer noch meint, anders zu sein. Im virtuellen Cafe ist man bekannt und unter sich, aber parliert gleichzeitig - vielleicht - in der staunenden Öffentlichkeit. Edge ist das Äquivalent des klassischen Salons im digitalen und vernetzten Zeitalter. Natürlich ist Edge nur ein weiterer Versuch, die digitale Kultur mit Salons zu verstehen. Davor gab es bereits Brain Tennis bei Hot Wired und das Plauderstübchen Brainstorms oder neuerdings Minds des Wired-Dissidenten Howard Rheingold.

Louis Rossetto - The Buccaneer

Aber so ein virtueller Salon wie Edge ist nicht sehr gemütlich, auch wenn diese Einschätzung vielleicht nur das Ressentiment eines Alteuropäers widerspiegelt. Dafür ist er aber gesund. Keine Rauchschwaden trüben seine Luft. Es gibt weder Kaffee noch Wein. Man, ja vor allem Mann, sitzt vor seinem Bildschirm und drischt auf die Tastatur ein. Weiblicherseits ist die 40 Mann starke "Cyberelite" lediglich durch Sherry Turkle, Linda Stone, Jane Metcalfe und Esther Dyson vertreten. Männlicherseits gehören u.a. dazu John Brockmann, John Perry Barlow, Stewart Brand, Bill Gates, David Gelernter, Mike Godwin, Daniel Hillis, Kevin Kelly, Jaron Lanier oder Louis Rossetto Auch die schönen Frauen fehlen, die das Ambiente inszenieren und die Gockelkämpfe erst reizvoll machen. Zumindest sieht man sie nicht. Möglicherweise lauschen sie aber im Hintergrund. (Vielleicht sollte Edge an die Einrichtung eines 3D-MUDs denken, in dem sowohl die Digerati als auch das Publikum in extravaganten Avatars auftreten können, damit die erotische, den Diskurs belebende Atmosphäre besser als in dem bislang gepflegten Puritanismus zum Tragen kommt.)

Women are biologically different than men ... Men are content to sit in front of a screen for hours on end and do things with, interact with inanimate objects, and men have been doing that, from computers back to cars, back to factory equipment, back to farm implements, back to whatever. Women are more socially; they prefer to spend their time interacting with others rather than solitary quests.

Louis Rossetto
Jaron Lanier - The Prodigy

Trotzdem geht es manchmal heiß her. Zum Beispiel wenn der einer der erkorenen Digerati - normalerweise männlichen Geschlechts - von außen niedergemacht wird, was unlängst etwa mit Louis Rossetto, dem Herausgeber von Wired, durch Artikel von David Bunnell und Paul Keegan in Upside geschehen ist. Da treten dann die Heroen des Neuen auf das Kampffeld, um sich im vermeintlichen Dienste des anderen zu verteidigen. Die Digerati leben und sterben schließlich gemeinsam.

Kevin Kelly - The Saint

Natürlich darf und muß es auch Differenzen geben. Ohne sie wäre es dann doch zu langweilig. Im virtuellen Salon, genannt The Reality Club, kommen die Digerati zur Sache und fragen die anderen, wie es so schön heißt, was sie immer schon sich selbst fragen wollten. So diskutieren sie etwa das Konzept der Meme von Richard Dawkins, das Jaron Lanier nicht schätzt, weil hier Kreativität mit einer geistigen gleichgesetzt werde, während etwa Mike Godwin es gut findet, weil es ein Paradigma zum Verständnis darstellt, wie Ideen sich in Kulturen, Massenmedien und in der Zunahme des Wissens entwickeln. Recht viel weiter kommt man auch nach einigen Emails nicht. Lanier sind die Meme zu biologisch, während er die Metapher von geistigen Viren offenbar besser verstehen kann. Das sind eben die Mysterien der Digerati.

Angespornt vom amerikanischen Beispiel, dem wir folgen sollen, um die deutsche Müdigkeit abzuschütteln und einen Fuß in die Zukunft zu setzen, haben wir uns einmal umgehört, wer denn zu den Nicht-US-Digerati gehören könnte - und bitten auch um Beteiligung.

Gesucht: Nicht-amerikanische Digerati

Die Fotos der Digerati stammen aus der Liste von Edge