Vom Mythos Internet

Die Erwartungen, die der Titel Mythos Internet dieses im Frühjahr von Suhrkamp herausgebrachten Buches weckt, sind groß. Groß war und ist nämlich der Hype, mit dem das Internet seit des Aufkommens des World Wide Web von Politik und Wirtschaft, von Zeitungen und Magazinen begrüßt und zelebriert wurde. Zu groß scheinen auch heute noch die Hoffnungen und Erwartungen, die auf das Hypermedium und seine alle Bereiche der Gesellschaft revolutionierende Kraft gerichtet werden, so daß eine Dekonstruktion des Mythos Internet mehr als nötig erscheint.

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Das Internet realisiert auf exemplarische Weise die telematische Basistechnologie der Informationsgesellschaft, die aus der Verschmelzung der digitalen Medien mit der Telekommunikationsinfrastruktur hervorgegangen ist. Es symbolisiert aber zugleich auch auf geradezu paradigmatische Weise die Ideen und Ideale, aus denen sich unser gegenwärtiges Bild der zukünftigen Gesellschaft zusammensetzt... Mehr als eine Technologie ist das Internet zu einem Mythos geworden, an den sich Hoffnungen und Ängste knüpfen. Diesen Mythos gilt es kritisch zu untersuchen.

Die kritischen Ansprüche der Herausgeber an das Buch sind demnach hoch; und im Vorwort erfährt man tatsächlich manch Interessantes - wenn auch nicht unbedingt Neues - über das Wesen des Mythos: "Mythen sind Geschichten, welche Menschen aller Zeiten und Kulturen sich angesichts scheinbar unerklärlicher und dabei zugleich ebenso erschreckender wie verführerischer Phänomene erzählen: der mythische Narrativ bannt die beängstigende Fremdheit seines Gegenstands, bewahrt aber zumeist die faszinierende Ambivalenz, die dem Unerklärlichen anhaftet" Der Mythos Internet ist also eine Reaktion auf das Unbekannte und Neue des vernetzten Mediums. Er erfüllt die wichtigste Funktion des gesamten Genres: er dient als Gründungsmythos, an dem Hacker und Wissenschaftler, Politiker wie Unternehmer stricken, in einer nie gekannten Einheit von Freigeistlern, Konservativen und Neoliberalen, in einem Gedankenmix, den Barbrook und Cameron als die "kalifornische Ideologie" beschrieben haben.

Aus dem Klappentext von "Mythos Internet"

Wer aber im weiteren eine konsequente Verfolgung dieses Ansatzes, eine klare Beschreibung einzelner Mythenfelder - angefangen vom Mythos des freien Cybermarktes über die Geschichte der Neugeburt der Demokratie oder der von der Neuauflage des McLuhanschen Global Village bis hin zu den Mythen der Entstehung eines Global Mind oder gar eines neuen Menschen in Form des Cyborgs - im Rahmen der großen und hypertextuell verknüpften Erzählung Internet erwartet, wird durch die Auswahl der folgenden Artikel zunächst einmal enttäuscht. Ob in den angekündigten "Bausteinen einer erst noch zu formulierenden philosophischen Theorie der elektronischen Netzwelten", in der Vorstellung virtueller Gemeinschaften oder den Beleuchtungen ökonomischer bzw. kultureller Aspekte des Netzes - das Thema vom Mythos verliert sich meist in einer Umhüllung von recht allgemein mit dem Netz zusammenhängenden Beschreibungen. Die Manifestationen des Mythischen muß sich der Leser in der Regel selbst aus den einzelnen Beiträgen extrahieren, denn oft werden die mythischen Dimensionen des Netzes gar nicht explizit als solche benannt.

Zudem dürften dem englischsprachigen Lesepublikum zumindest die Artikel der amerikanischen Autoren bereits gut bekannt sein, handelt es sich doch ausnahmslos um reine Übersetzungen bereits ein bis zwei Jahre alter Geschichten. Was William Mitchell über die "neue Ökonomie der Präsenz" und in diesem Zusammenhang über Teleroboter, Agenten und Avatare schreibt, dürfte daher wirklich bereits in den allgemeinen Sprachgebrauch der Bevölkerung Eingang gefunden haben. Und auch Mark Posters Absage an alte Formen der Öffentlichkeit in seinem Essay über "Elektronische Identitäten und Demokratie" ist im englischsprachigen Original bereits seit 1994 im Web sowie in verschiedenen Printversionen als "Postmodern Virtualities" zu finden.

Wer sich allerdings die Mühe macht, in den einzelnen Texten Mythenfelder eigenäugig aufzuspüren, über mehrere Beiträge zu verfolgen und neu zu kombinieren, kann anhand des auf fast 400 Seiten verstreuten Gedankenmaterials durchaus eine Ahnung vom verzweigten Mythos Internet bekommen. Hilfreich wäre es dazu, wenn das Buch tatsächlich als verknüpfter Hypertext vorläge - eine Ironie, mit dem das Internet seinen bibliozentrischen Erforschern geradezu ein Schnippchen zu schlagen scheint.

Mit dem Wesen des Hypertextes, seinem Gewebe und seiner Verknüpfung unterschiedlichster Erzählstränge, scheint zugleich eine Grundstruktur des Mythos Internet aufzuscheinen. Zumindest wird die neue Referenzstruktur des World Wide Web mit seinen geradezu magisch leuchtenden blauen Links in vielen Beiträgen als wesentliche Neuheit und als wichtigste transformierende Kraft des Netzes beschrieben. Jay D. Bolter etwa überträgt die Hypertextstruktur auf die Gemeinschaft der Netizens und die individuelle Identität der Benutzer. Er legt dar, daß die Leitmedien der Menschheit immer auch die Vorstellungen von der Subjekthaftigkeit des Individuums prägen - und umgekehrt. So beschreibt er etwa "das gedruckte Selbst" als eine insgesamt "recht stabile Figur", während sich in der zunächst oral geprägten Kultur Griechenlands der Mensch "über seine rhetorische Präsenz" bestimmte und dem Wesen des Dialogs entsprechend sehr konsensbedürftig war. Dem elektronischen Schreiben entspräche nun eine "Fragmentierung der individuellen Identität - und es wird im fragmentierten Selbst reflektiert."

Das Internet gestaltet die Gemeinschaft hypertextuell. Eine Netzwerk-Gemeinschaft ist ein Gewebe aus Links - z.B. den Diskussionssträngen in einer Newsgroup; sie ist ein Hypertext der Botschaften individueller Subskribenten. Möglicherweise beginnen Individuen, die das Internet benutzen, sich selber als hypertextuell zu empfinden - als Summe der Links all der unterschiedlichen Gemeinschaften, denen sie zu einem bestimmten Zeitpunkt angehören.

Jay D. Bolter

Auch die Analyse des Mythos "Künstliche Kommunikation" von Sybille Krämer nimmt als Fixpunkt das Textuniversum des Internet mit seinen hypertextuellen Verknüpfungen. Ihrer Ansicht nach entwickelt sich durch den Hypertext im Internet eine völlig neue Kommunikationsform, eine neue Lesart von Texten, die weder mit dem Begriff der mündlichen, interpersonellen Verständigung noch mit dem der Schriftkommunikation zwischen Leser und Text bzw. Autor beschrieben werden kann. Hypertext sei vielmehr als "eine Form von Textualität" zu interpretieren, "deren Besonderheit es ist, Interaktionsmöglichkeiten zwischen Leser und Text zu eröffnen, insofern der Text auf Fragen durch Umgestaltung, also mit neuen Texten 'antworten' kann". Es gibt also nie für mehrere Leser einen identischen Text - was ja gerade das Prinzip der Schrift und vor allem des Buchdrucks war -, sondern "so viele Texte, wie individuelle Leserouten im Textuniversum eingeschlagen werden." Die von Julia Kristeva bereits für postmoderne Schrifttexte deklarierte Intertextualität sei damit in der "simultanen Verweisungsstruktur des Netzes" endgültig realisiert - ein Gedanke, den auch Uwe Wirth ganz genau so in seinem Beitrag über Literatur im Internet vorbringt.

Während die Intertextualität der Druckkultur eine virtuelle ist, die sich im Gedächtnis des Interpreten herstellt, ist die Intertextualität im Netz eine sichtbargemachte.

Uwe Wirth

Für Wirth liegt der Sinn dieser verzweigten Inter- oder Hypertextualität in sich selbst: Die Struktur ist - ganz im Sinne von McLuhan - die Botschaft, ähnlich wie "strukturell gesehen das wertvollste Wissen, das die Bibliothek repräsentiert", nicht das Wissen selbst, sondern "die Erkenntnis seiner labyrinthischen Organisationsform" ist. Wer die rhizomatische Struktur des Web folglich durchschaut hat, hat das Internet in seinem Wesen bereits entschlüsselt und kennt die hypertextuelle "Weltkarte des Wissens". Ganz anders dagegen die Schlußfolgerungen Krämers: Sie sieht in dem bereits von Ted Nelson beschriebenen Hypertextgeflecht und Docuversum eine "Form des kollektiven Gedächtnis" entstehen: "Es entsteht die Möglichkeit einer Interaktion zwischen individuellem Nutzer und kollektiven Gedächtnis, bei dem Aktualisierung und Perspektivierung nicht einfach kognitive Vorgänge bleiben, sondern symbolisch objektiviert werden können." Ob diese These, die von Sybille Krämer bewußt als "Rahmen" für weitere Untersuchungen dargestellt wird, nicht selbst einer genaueren Mythenanalyse anheim fällt, muß sich allerdings erst beweisen.

In diesem Sinne werden von den beschriebenen Texten zwar durchaus Spuren des Mythos Internet und Grundzüge für seine weitere Analyse aufgezeigt. Die Hypertextstruktur des Web wird zum Anlaß genommen, um auf die Enstehung einer neuen Kommunikationsform hinzuweisen, die unsere altbekannten Paradigma von Interaktion und sich daraus ableitenden Identitätsvorstellungen in Frage stellt. Die Idee, ob Hypertext an sich mythische Formen aufweist, wird allerdings von keinem der Autoren untersucht. Anhand der Mythenanalyse Lévi-Strauss' könnte man beispielsweise zeigen, daß die Struktur des Mythos, die Lévi-Strauss an nord- und südindianischen Erzählungen festmacht, eine große Parallelität zur Struktur des Hypertextes im Internet aufweist: beide sind endlos verzweigt, dezentral, vernetzt, selbstreferenteil sowie in ihrer Gesamtheit "autorlos" und wachsen rhizomartig (vgl. Debatin 1997. Man könnte also die Mythologica von Lévi-Strauss als Beschreibung eines großen Hypertextes neu lesen - und umgekehrt das Hypermedium Internet als bereits in seiner Struktur her mythisches Medium betrachten, was die enge Beziehung des Netzes zu auch inhaltlich mythischen Erzählungen erklären könnte.

Einzelne mythische Ausformungen der "großen Erzählung" Internet wird dagegen in den Beiträgen einzelner Autoren durchaus nachgegangen. So versucht sich Stefan Münker beispielsweise an einer philosophischen Erklärung des Begriffs "Virtuelle Realität", in der er als Grundübel für die "Verdammung" oder Hintansetzung der virtuellen gegenüber den physischen Realität den Fehler ausmacht, überhaupt von einer "einzigen eigentlichen und wahren Wirklichkeit" auszugehen. Wenn man dagegen den Cyberspace als ästhetische Form ansieht, als "Verschiebung von Raum und Zeit, sinnlichen Wahrnehmungs- und logischen Vorstellungswelten; ja sogar der persönlichen Identität", könne man dieser "Seinsdifferenz", die letztlich auf Parmenides zurückgeht, entkommen. Dann brauche man nicht Befürchtungen einer "alternativen Wirklichkeit" streuen, sondern würde lieber die "Möglichkeiten, die das Virtuelle verspricht, zumindest probehalber" realisieren.

Alexander Roesler entdeckt in der Debatte über Öffentlichkeit und Demokratie im Netz ebenfalls einen mythischen Grundirrtum: daß "Öffentlichkeit ein technisches Problem darstellt, das sich mit einem geeigneten technologischen Instrumentarium lösen läßt." Das Internet berge zwar durchaus das Potential zu einer stärkeren Demokratisierung der Gesellschaft - automatisch entstehe dadurch allerdings keine ideale Öffentlichkeit, zumal da "Ausgrenzung und Diskriminierung" allein durch mangelnde Sprachkenntnisse oder die Übermacht der Programmierer im Netz eine theoretische Gleichheit aller Netzbürger verhinderten. Rudolf Maresch geht sogar noch eine Stufe weiter und sieht - ebenso wie Saskia Sassen - "neue Hierarchien und Zentralitäten entstehen". Er stellt die These von einer "neuen Renaissance der Geheimhaltungspolitik" angesichts der oberflächlichen Offenheit in den Netzdiskursen auf und erteilt dem Wunschtraum und Mythos einer elektronischen Agora im Netz eine deutliche Absage.

Die Politik namens Staatsräson mündet, die Träume und Utopien räsonierender Untertanen überspringend, nahtlos in eine Medienräson. Je mehr Bereiche des Privaten dem wachsenden Sog nach Veröffentlichung erliegen, desto mehr nimmt die Bedeutung der "hidden information" zu. Statt von Informationsgesellschaft muß künftig von "Informationsverhinderungsgesellschaft" gesprochen werden.

Rudolf Maresch

Selbst dem Mythos von einer blühenden Informationswirtschaft im Internet bescheinigt Günter Müller deutliche Lackkratzer. Noch sei das neue Medium bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht akzeptiert, sei das Netz nicht genügend an bereits bestehende Infrastrukturen im Telekommunikationsbereich angebunden, und noch liege der erhoffte Mehrwert weit hinter den Kosten für den Zugang zum Netzwerk. Die Ware Information, mit der sich das Jahrbuch Telekommunikation und Gesellschaft ausführlich auseinandersetzt, "ist noch keinesfalls das wesentliche Produkt, aus dem Reichtum und Wohlstand für ganze Völker entsteht."

Auch zwei Schlüsseltexten der mythischen Erzählung Internet widmen sich - unverständlicherweise erst am Ende des Buches - zwei Beiträge: Florian Rötzer beschreibt die "Magna Carta for the Knowledge Age" im Rahmen seiner Analyse von "Raumutopien des digitalen Zeitalters" als wirklichkeitsfremdes Pamphlet, dessen neoliberale Autoren - Esther Dyson, George Gilder, George Keyworth und Alvin Toffler - "auf der Suche nach einer neuen 'Frontier' im Cyberspace" allein "Deregulierung" und den "Rückzug des Staates als Kontrollmacht" als Erfolgsrezepte zu vermarkten suchen. Geert Lovink und Pit Schultz setzen sich in ihrer "Netzkritik" vor allem mit der "Unabhängigkeitserklärung für den Cyberspace" von J. P. Barlow auseinander und runden so den Reigen rund um den Mythos Internet ab.

Insgesamt bietet der Reader also eine - in der Reihenfolge nicht immer ganz nachvollziehbare - Zusammenstellung meist "populärer" Texte rund um die bestehenden Strukturen und möglichen Anwendungsformen des Netzes. Wer noch nicht lange zu der Spezies der Netizens gehört, kann dort einige Grundtexte der Netzdebatte finden und sich die mythischen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Beiträgen selbst "erlesen". Erfahrenen Cybernauten wird das Buch dagegen nur wenig Neues bringen. Und falls sie auf der Suche nach einer zielgerichteten Analyse des Mythos Internet sind, ist eher ein Rückgriff auf die englischsprachige Literatur empfehlenswert. Beispielsweise auf die Zusammenstellung und Kommentierung "klassischer", mythologisch aufgeladener Texte rund ums Netz in Mark Stefiks Buch über die "Internet Dreams" und die damit verbundenen "Archetypes, Myths, and Metaphors".

Mythos Internet. Herausgegeben von Stefan Münker und Alexander Roesler. Suhrkamp Taschenbuch.