Vom Wasser an Land

Einer der ersten Vierbeiner, die an Land kamen, kroch vermutlich vorwärts wie eine Raupe

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Schwedische Evolutionsbiologen haben alle vorhandenen Fossilfunde des Devon-Tetrapoden Ichthyostega neu ausgewertet. Das Fossil, das erstmals 1932 von Säve-Söderbergh und 1980 von Jarvik beschrieben wurde, stand bislang im Ruf, der älteste bekannte Vierfüßer zu sein. Doch bisherige Untersuchungen haben viele Fragen zu seiner Anatomie offen gelassen.

Die schwedischen Wissenschaftler haben alle Fossilien ein weiteres Mal ausgewertet und den Körperbau neu rekonstruiert. Ihre überraschenden Ergebnisse haben sie im aktuellen Nature veröffentlicht.

Zwischen Wasser und Land

Zu den Schlüsselereignissen der Evolution zählt die Entwicklung der ersten Landwirbeltiere aus den frühen Fischen und ihre Übersiedelung an Land. Eines der ältesten Fossilien, an denen dieser Prozess sichtbar wird, ist Ichthyostega. Er lebte vor zirka 360 Millionen Jahren (Devon-Zeitalter) in Grönland, etwa zehn Millionen Jahre später starb er aus.

Für Evolutionsbiologen ist er von herausragender Bedeutung, weil er vermutlich eines der ersten Wirbeltiere war, das mit vier Beinen und einer Lunge ausgestattet aufs Festland zog. Damit steht Ichthyostega ganz dicht am Ursprung der Stammesgeschichte dieser wichtigen Tiergruppe. Außerdem sind er und Acanthosstega die einzigen beiden Tetrapoden des Devon, deren Postkranium fast vollständig erhalten ist.

Der „Fisch auf vier Beinen“

Ichthyostega entwickelte sich aus dem Quastenflosser; er ist eine Übergangsform zwischen Fisch und Amphibium. Der Vierfüßer war etwa einen Meter lang, sein Schädel etwas länger als breit mit großen Augenhöhlen. Seine Extremitäten sind kurz und stämmig. Massive Rippen bildeten im vorderen Rumpfbereich einen sehr starren Knochenpanzer.

Ichthyostega besitzt immer noch viele Gemeinsamkeiten mit dem Quastenflosser, doch Extremitäten, Schulter- und Beckengürtel sowie Schädelform und Lungen weisen bereits auf die Amphibien hin.

Singuläres an der Wirbelsäule

Ein Forscherteam der Universität Uppsala unter Leitung von Per Ahlberg hat sich sämtliche vorhandenen Fossilfunde von Ichthyostega noch einmal vorgenommen und den Körperbau von Ichthyostega neu rekonstruiert. Dabei entdeckten die Evolutionsbiologen besonders an der Wirbelsäule Eigentümlichkeiten – sie sind bisherigen Untersuchungen offenbar entgangen –, die ihm ermöglichten den Rumpf über dem Boden zu halten; gleichzeitig waren die Rippen am Ende des Schwanzes so gebaut, dass sie sich gut fürs Schwimmen eigneten.

Wie Ahlberg und Kollegen herausfanden, waren Brust-, Kreuz-, Lenden- und Schwanzwirbel von Ichthyostega in ihrer Morphologie erstaunlich differenziert. Dies ist ein wichtiges Merkmal höher entwickelter Wirbeltiere wie auch des Menschen. Im Gegensatz zu anderen frühen Amphibien, bei denen die Rumpfwirbel entlang der Wirbelsäule alle in die gleiche Richtung weisen, sind sie bei Ichthyostega je nach Region unterschiedlich ausgerichtet: im Bereich hinter dem Schultergürtel weisen sie nach hinten, oberhalb des Beckens nach vorn. Beim Vergleich mit anderen frühen Tetrapoden stellt Ahl fest:

Die Morphologie der Knochen zeigt eine Differenzierung der axialen Muskulatur, die bei so einem primitiven Tetrapoden erstaunlich ist und die viele Fragen hinsichtlich Lokomotion und Lebensweise von Ichthyostega aufwirft.

Für Ahl und seine Kollegen weisen diese besonderen anatomischen Charakteristika auf den Verlust von Beweglichkeit des Oberkörpers hin – Ichthyostega konnte den Oberkörper nicht seitlich bewegen – die mit einer größeren Flexibilität des Schwanzes einhergingen. Die Entwicklungslinie, in der Ichthyostega stand, hat ihren Wechsel vom Wasser aufs Land also durch Veränderungen vollzogen, die ihre Bewegungsfähigkeit in beiden Umgebungen verbesserte.

Zwei „Gangarten“ halten die Wissenschaftler für möglich: Entweder „ging“ Ichthyostega mit diagonal synchronisierten Beinbewegungen oder er „kroch wie eine Raupe“, indem er die Vorderbeine ausstreckte, die Brust vordrückte und mit den Hinterbeinen nachschob. Doch erst detailliertere Analysen der Extremitäten und Gelenkoberflächen werden hier Gewissheit bringen. Offen bleibt weiterhin die Anatomie von Füßen und Fußgelenken.

Evolutionäre Sackgasse

Obwohl sich Ichthyostega offenbar an zwei Lebensräume gleichzeitig anpasste, war er kein erfolgreiches Modell. Es gibt so gut wie keine Fossilien, an denen eine Verwandtschaft zu ihm belegbar wäre. Wie Robert L. Carroll vom Redpath Museum, Montreal, in seinem begleitenden News-&Views-Artikel anmerkt, gilt das jedoch nicht nur für ihn. Von insgesamt 11 Entwicklungslinien weiterentwickelter Quastenflosser und früher Amphibien des Devon weist nur eine einzige eine einigermaßen plausible Verwandtschaft mit heutigen Wirbeltieren auf.

Wie Carroll schreibt, illustrieren die Fossilfunde einen 15 Millionen Jahre dauernden „Prozess des Experimentierens“. Eine ähnliche Vielfalt letztendlich erfolgloser Versuche kennzeichne auch die anderen großen Transformationen des Entstehungsprozesses der Wirbeltiere, ebenso wie die frühe Evolution der Säugetiere, den Ursprung der Wale und die Entstehung des Menschen.

Die Ergebnisse des schwedischen Evolutionsbiologen-Teams holen den frühen Grönland-Bewohner von seinem Status als „frühester Vierfüßer“. Neben den ganz spezifischen Charakteristika von Ichthyostega treten laut Ahl anatomische Ähnlichkeiten mit frühen Devon-Lebewesen wie Whatcheeria, Pederpes und Tulerpeton immer deutlicher hervor. Seine Stellung innerhalb der Diversifizierung der frühen Tetrapoden gewinnt immer klarere Konturen.

Ichthyostega verkörpert einen frühen und letztendlich erfolglosen Versuch, der Anpassung des (Körper-)Bauplans der Tetrapoden an eine Fortbewegung auf dem Land. Er weicht ab, steht aber in der Nähe der Entwicklungslinie, die diese Anpassungsprobleme erfolgreich gelöst hat und schließlich den Weg frei machte für alle lebenden Vierfüßer.