Von Ratten-, Krebs- und Eimermenschen: Provoziert die Politik sozialen Protest?

Seite 4: "Die Knochen des Volkes sind zermürbt…"

Das alles sind, zugegeben schwache Signale, aber trotzdem erste politische Symptome eines rapiden und folgenschweren Vertrauensschwunds zwischen deutschen politischen Repräsentanten auf der einen Seite und der Bevölkerung auf der anderen – inklusive steigender Vergiftung des politischen Klimas.

Der Raymond-Aron-Schüler, Prof. Pierre Manent, analysiert denn auch treffend nach der französischen Präsidentschaftswahl: "Wir machen derzeit die kollektive Erfahrung, dass die Knochen des Volkes zermürbt sind und seine Muskeln geschwunden. Die Arbeiterschaft zum Beispiel ist nicht mehr sichtbar, die Gewerkschaften ausgedünnt..."

Und er zieht eine weise Schlussfolgerung, zu der Präsident Macron sich auch nach 5-jähriger Amtszeit nicht fähig zeigt: "Die Führungsschichten und das 'peuple populiste' müssen ihren gegenseitigen Widerwillen abbauen."5

Doch eine Grundregel der Politik des 21. Jahrhunderts lautet: Die politischen Führungen haben - wie beim Ausbruch der Gelbwestenaufstände in Frankreich – die Auslöser für soziale Unruhen nicht auf dem Schirm. Sie sind zu sehr mit sich beschäftigt und neigen zur Selbstgefälligkeit. Außerdem kleben sie an ihren Privilegien fest als wären sie das Ancien Régime und treten nur ab, wenn sie absolut dazu gezwungen werden.

Mangels politischer Partizipation bleibt nur die Straße

Es ist vielleicht ein weiteres aussagekräftiges Indiz, dass in den USA ein Mann dem Ex-Präsidenten Trump den Weg zurück ins Amt ebnet, der eine eigene Symbolkraft besitzt: Es handelt sich um den republikanischen Abgeordneten J.D. Vance.

Er stammt aus dem "white trash", dem Milieu der von der Gesellschaft abgehängten Hillbillys und hat über seinen Aufstieg aus diesem "nichtsnutzigen Milieu" einen Bestseller geschrieben. Er vertritt den Hass und die neue Chuzpe der verachteten und gequetschten unteren Mittelschicht gegenüber dem Establishment.

In dem anderen Land, in Frankreich, ist jetzt zum wiederholten Mal ein radikal neoliberaler Präsident an der Spitze, der mit allen Mitteln versuchen wird, einen populären rechten oder linken Premierminister zu verhindern. Während auf der anderen Seite der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon die linke Mitte mit radikal anti-liberalen Forderungen zur Gefolgschaft zwingt.

Scheitert aber Mélenchon, was möglich ist, dann wird sich der Protest des von oben bekämpften linken und rechten Lagers auf die Straße verlagern und dort umso brutaler entladen. Das haben Kommentatoren bereits vor den Präsidentschaftswahlen vorausgesagt.6

Linke Politik ohne Auge für soziale Dramatik: "Größeres und gefährliches Vakuum"

Ähnliches scheint inzwischen auch für Deutschland möglich. Die linken Parteien SPD, Grüne und Linke vernachlässigen die soziale Dramatik und hinterlassen ein immer größeres und gefährlicheres Vakuum. Noch schlimmer: Sie verraten unter dem Druck der Regierungsverantwortung, des Machterhalts oder der Machtgewinnung nicht nur ihre eigenen Werte und Ziele, sondern opfern die Interessen der kleinen Leute, des "petit peuple", einer Ideologie der Bessergestellten.

Sie tun das, weil ihre Funktionärsschichten inzwischen ganz einfach selbst zu diesen bessergestellten urbanen Eliten gehören, die keinen oder zu wenig Kontakt zur Normalbevölkerung haben, aber einen umso arroganteren Macht- und Moralanspruch erheben. So erkennen wir bei ihnen erste Symptome ihrer eigenen fehlgeleiteten Attitüde der Abschottung und Selbstgerechtigkeit: Sie glauben inzwischen selbst an ihre künstlich erzeugten Feindbilder von den unwissenden und irregeleiteten populistischen Bevölkerungsschichten.

Und diese reagieren darauf mit teilweise ebenso abstrusen Verschwörungstheorien. Im Endergebnis aber finden die leidtragenden und verschuldeten und in Existenznöten befangenen großen gesellschaftlichen Gruppen kaum noch politische Ansprechpartner.

Die autoritäre Corona-Politik Berlins, die die Macht in den Händen weniger und nicht unbedingt verfassungsgemäß legitimierter Zirkel konzentrierte und die nicht nur das Parlament schwächte und missbrauchte, sondern auch die Zivilgesellschaft an die Corona-Leine unverhältnismäßiger Maßnahmen legte und die Debattenräume verbunkerte, hat so beste Voraussetzungen geschaffen, um die Zivilgesellschaft zu neuen Eruptionen zu provozieren.

Hans-Christian Lange ist Buchautor und Vorsitzender der deutschen Band- und Leiharbeitergewerkschaft SocialPeace.

Aus ihr ist das Bündnis gleichen Namens hervorgegangen, das in München zu ersten Protestdemos gegen den Preisdruck von oben und die Privilegien einer abgehobenen Führungsschicht aufruft.

Im Westendverlag ist von ihm das Buch: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen erschienen.