Von Rumorkliniken und Gerüchteküchen

Wie sich der Graben zwischen Publikum und Presse vertieft und warum aus Küchen wieder Kliniken werden müssen

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Der Kollege Paul Schreyer hat unlängst in einem ausführlichen Stück (Zwischen Lesern und Lobbynetzwerken) einen Blick auf die neue Frontstellung zwischen Lesern und Leitartiklern geworfen, die wie der SZ-Außenpolitikchef Stefan Kornelius eng mit Vereinigungen vernetzt sind, welche man als "transatlantische Burschenschaften" oder "schlagende Nato-Verbindungen" bezeichnen könnte - was aber, nach eigener Aussage, keinerlei Einfluss auf ihr Schreiben hat. Natürlich nicht - weshalb man die Kommentare der Leser, denen dieser offensichtliche Einfluss massenhaft aufgefallen war, seit 1. September einfach mal abgeschaltet hat.

Nicht komplett allerdings - wie es einige prominente Leitartikler am liebsten sehen würden (Leserkommentare abschalten?). In Leserforen auf der Webseite der SZ darf noch diskutiert werden, ob japanischer Whisky besser als schottischer ist. Damit wir auch wissen, womit wir auf den Untergang der Tageszeitungen anstoßen können, nachdem ihnen Lobbyisten vom Kaliber Kornelius das Grab geschaufelt und die Glaubwürdigkeit endgültig in den Keller gewirtschaftet haben.

Rumor Clinic beim Boston Herald. Bild: Life 1942

Dass hier - und nicht allein im Wandel des Mediums vom Papier aufs Tablet - der Knackpunkt der "Zeitungskrise" und des Niedergangs der "Qualitätspresse" liegt, scheint bei den Verlagen noch niemand wirklich bemerkt zu haben. So auch bei der "Zeit", wo Jochen Bittner die neue Serie "Verschwörung der Woche" mit einem Stück über 9/11 startete, das den Verdacht einer Komplizenschaft der CIA als absurd und unlogisch lächerlich macht, ohne die Indizien für diesen Verdacht zu benennen und gar zu widerlegen. Ganz das klassische Muster also: Verschwörungstheorien sind "geistiges Gift" und wer ihnen anheim fällt, ist dumm.

In meinem Buch JFK-Staatsstreich in Amerika schrieb ich letztes Jahr über die Geburtsstunde des Begriffs "Verschwörungstheorie" als Diffamierungswaffe: Im Januar 1967 - drei Jahre nach dem Mord an Kennedy, als die erste ordentliche staatsanwaltlichen Ermittlungen von Jim Garisson in New Orleans begonnen hatten - versandte die Abteilung für Psychological Warfare der Central Intelligence Agency (CIA) ein Memo an alle Dienststellen und ihre verdeckten Mitarbeiter in den großen Medien, in denen sie Anweisungen und Tipps gab, wie mit den wachsenden Zweifeln an der Einzeltäter-These des Warren-Reports umzugehen und "Verschwörungstheorien" zu kontern seien.

Mit diesem erst sehr viel später öffentlich bekannt gewordenen Memo der CIA wird der neutrale Ausdruck "Verschwörungstheorie" erstmals zu einem Kampfbegriff der psychologischen Kriegsführung und des öffentlichen Wahrnehmungsmanagements gemünzt - und werden Kritiker der offiziellen Version grundsätzlich als unseriös, staatsfeindlich oder nur kommerziellen Interessen folgend abgestempelt.

Die Deutungshoheit der Großmedien und das Internet

Nach den Anschlägen des 11.September erlebte diese alte Waffe aus dem Arsenal der psychologischen Kriegsführung ihre Renaissance: "Lasst uns niemals frevelhafte Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit den Anschlägen des 11. September tolerieren, boshafte Lügen, die bezwecken, die Schuld von den Terroristen selbst abzulenken, weg von den Schuldigen." Also sprach George W. Bush vor der UNO im November 2001, nachdem seine Regierung gerade eine umfassende Untersuchung der Attacken abgelehnt hatte, weil - so die Begründung - die Aufklärung der Verbrechen die Behörden von der Verhinderung weiterer Anschläge abhalte.

Erst ein Jahr später wurde auf Druck von Opferangehörigen eine handverlesene Regierungskommission mit sehr beschränkten Vollmachten eingesetzt, deren Report im Sommer 2004 erschien (Harry Plotter und die Teppichmesser des Schreckens).

Die weitverbreiteten und tiefsitzenden Zweifel an der Einzeltäter-These von Osama und 19 "Hijackern" konnten damit aber keineswegs ausgeräumt werden - und so feierte die Diskurswaffe aus dem Propagandaarsenal der Geheimdienste fröhliche Urstände.

Diese erstaunliche Karriere des Begriffs "Verschwörungstheorie" - vom neutralen Ausdruck zum Schimpfwort, vom deskriptiven Begriff für eine auf Indizien und Spuren beruhenden Hypothesenbildung zur diskriminierenden Diskurskeule, vom analytischen Werkzeug zum Tabu (Verschwörungstheorie? Aber sicher!) - hat vor allem damit zu tun, dass die Deutungshoheit der Großmedien durch das Internet untergraben worden ist. Die Tatsache, dass mittlerweile nahezu jede/r in der Lage ist, eine Sichtweise auf ein Ereignis zu publizieren und alternative Sichtweisen zur Kenntnis zu nehmen, hat das Interpretationsmonopol der von Regierungen und Konzernen kontrollierten Massenmedien nachhaltig geschwächt.

Und die Pressefreiheit - nach dem FAZ-Gründer Paul Sethe "die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten" - nachhaltig erweitert - um die Meinung, Wahrnehmung und Analyse tausender "armer" Leute. Dies machte eine Aufrüstung der Propagandawaffe "Verschwörungstheorie" nötig.

Ein Berater des US-Präsidenten Obama empfahl deshalb, das 9/11 Truth-Movement mit Agenten zu unterwandern und die Forderung nach einer Neu-Untersuchung durch "kognitive Infiltrierung" zu diskreditieren. Die offizielle Verschwörungstheorie - und nichts anderes ist ja die Behauptung der Alleintäterschaft von Al Qaida - sollte dadurch gestärkt werden, dass sich die Regierung nun selbst alternativer Verschwörungstheorien annahm. Es gibt dafür andere Methoden.

Rumor Clinics

Die 1942 vom "Boston Herald" und bald in vielen US-Städten von anderen Zeitungen eingerichteten "Rumor Clinics" dienten dazu, auf der Straße kursierende Gerüchte mit Fakten zu kontern.

Man konnte - allerdings nicht anonym - gehörte oder gelesene Gerüchte einreichen, deren Wahrheitsgehalt dann überprüft und veröffentlicht wurde. In Kriegszeiten vor allem als Propagandawerkzeug eingesetzt, existierten die Gerüchtekliniken teilweise noch bis in die 1950er Jahre - um Gerüchte aus der Welt zu schaffen, indem man ihnen nachvollziehbare, unabweisbare Tatsachen gegenüberstellte.

Diese ebenso simple wie effiziente Methode kam nach dem Kennedy-Mord nicht zur Anwendung: Statt die Gerüchte mit Fakten zu widerlegen, wurde ihre Verbreiter als staatsfeindliche "Verschwörungstheoretiker" attackiert - mit dem Ergebnis, dass auch 50 Jahre nach dem Mord weniger als die Hälfte der Bevölkerung von der offiziellen Einzeltäter-Theorie überzeugt ist.

Ähnlich bescheiden sah zehn Jahre nach 9/11 die Zustimmung für die offizielle Version der Ereignisse aus, weshalb dann der "Informations-Zar" der US-Regierung die offensive Verbreitung von Gerüchten und die Infiltrierung der Wahrheitsbewegung empfahl. Noch mehr als im JFK-Fall reichten in Sachen 9/11 die mageren Fakten nicht hin, um die Lücken und Widersprüche des offiziellen Narrativs zu erklären, und selbst das Dauerfeuer mit der Diffamierungswaffe "Verschwörungstheorie" konnte die Skeptiker nicht zur Ruhe bringen, weshalb die Gerüchteklinik zur Gerüchteküche erweitert wurden.

Rumor Kitchens

Statt Vermutungen, Verdächtigungen, Hypothesen - Verschwörungstheorien also - "klinisch" zu Leibe zu rücken, indem man den Spuren und Indizien nachgeht und sie durch Fakten und Recherche entweder erhärtet oder verwirft, um so die Wahrheit zu ermitteln, sind in den "Rumor Kitchens" nunmehr Spindoktoren am Werk, um Verwirrung und Vernebelung zu stiften, bzw. FUD - Fear, Uncertainity & Doubt - wie es in der Sprache der Werbestrategen heißt

Ist es auch einer solchen FUD-Strategie geschuldet, dass die zwei massenmörderischen Ereignisse, die den jüngsten Bürgerkrieg in der Ukraine eskalierten - die Scharfschützen auf dem Maidan und der Abschuss der MH 17 -, bis heute nicht aufgeklärt sind? Ist es nur Nachlässigkeit der Leitmedien, dass sie eine solche Aufklärung gar nicht mehr fordern und als kontrollierende "vierte Gewalt" den (Rechts-)Staat unter Druck setzen, diese auch zu leisten? Haben sie ihre Rolle als Kontrolleure und Kritiker der Macht abgegeben, um als Akteure und Werkzeuge dieser Strategie nur noch als Gerüchteküchen und Spinanstalten zu fungieren?

Dieses Eindrucks kann man sich schwer erwehren, wenn man etwa den Medienwatchblog Propagandaschau durchscrollt, der die Spins und Drehs der öffentlich-rechtlichen Berichterstattung zur Ukrainekrise akribisch unter die Lupe nimmt - wie zuletzt zum Beispiel das Märchen vom angeblich "einsamen Putin" beim Dinner der G20-Chefs.

Dass die Programmverantwortlichen die manipulativen Bilder und Töne auch noch verteidigen, obwohl die "Daily Mail" den Chefkoch des präsidialen Caterings zitiert, nach dem an Putins Tisch sogar mehr los war als an den meisten anderen, deutet an, wie wenig journalistische Standards noch gelten: man muss sich selbst für grobe Verletzungen nicht mal mehr entschuldigen. Und die Proteste und Leserkommentare des Publikums werden einfach ausgesperrt: sind ja eh alles nur moskaugesteuerte Trolle oder Idioten.

Steinmeier konstatiert "eine erstaunliche Homogenität in deutschen Redaktionen"

Öffentlich-rechtliche Medien, Kommentare und klinischer Faktencheck

Dass von privaten Unternehmen betriebene Zeitungen ihren Kunden das Kommentieren der Artikel untersagen, weil sie den Aufwand der Moderation scheuen und Kritik ausblenden wollen, mag noch nachvollziehbar sein - zumal der Leser entscheiden kann, dieses Angebot dann einfach nicht mehr zu nutzen. Bei den mit Zwangsabgaben finanzierten öffentlich-rechtlichen Medien aber liegt die Sache ein wenig anders: der unfreiwillig zahlenden Kunde muss hier selbstverständlich das Recht haben, zumindest seine Meinung zu hinterlassen.

Wer als Forum der politischen Willensbildung ein Milliardenbudget an Steuergeldern für sich beansprucht, kann nicht nach Gusto einfach Foren schließen und das zahlende Publikum aussperren. Vor allem dann nicht, wenn dessen Kritik an dem groben Schwarz-Weiß der Ukraine-Berichterstattung nahezu deckungsgleich mit der internen Analyse des ARD-Programmausschusses ausfällt.

Und die im Kern darauf hinausläuft, dass die "Nachrichten" nicht mehr über reale Geschehnisse berichten, sondern virtuelle Ereignisse erschaffen und als Realität verkaufen - also nichts anderes tun, als Gerüchte in die Welt zu setzen, die ihres dubiosen Charakters allein dadurch entledigt werden, dass sie zur "Nachricht" erhoben und durch die Wiederholungsschleifen der "Qualitätspresse" gejagt werden. Klinischer Faktencheck? Fehlanzeige.

So kommt es dann, dass zwei Tage lang auf allen Kanälen eine "russische Invasions-Armee" in der Ostukraine behauptetet wird, um dann kleinlaut als Tagesschau-Twitter abzusetzen, dass es sich bei "Invasion" um einen Übersetzungsfehler der Agentur Reuters gehandelt habe. Seinen Zweck im Sinne der Massenbeeinflussung und des "social engineering" hat das Gerücht mittlerweile schon erfüllt, seine Botschaft ist angekommen, die storyline vom aggressiven Iwan einmal mehr zementiert.

Wenn derart selbst die per Gesetz und qua Steuer auf sachgemäßen, "ausgewogenen" Journalismus verpflichteten öffentlich-rechtlichen Medien zu Gerüchteküchen degenerieren, scheint nicht nur eine Reform dieser Institutionen unumgänglich. Sondern auch eine Überprüfung des Selbstverständnisses der sogenannten "Qualitätsmedien" insgesamt, die sich mit diesem Nimbus eher selbst beweihräuchern als ihn mit ihren Produkten noch einzulösen.

Besonders deutlich zu sehen war dieser Niveauverlust in den Reaktionen auf das Putin-Interview des NDR-Journalisten Hubert Seipel, ein - für ein Politikerinterview - vergleichsweise sachliches und floskelarmes Gespräch. "Wie Putin die Fakten verdreht", textete darauf "Spiegel Online"- um als Höhepunkt dieser Enthüllung dann darzulegen, dass neben den positiven Wachstumsprognosen für die russische Wirtschaft, die er nannte, auch noch negative Prognosen anderer Institute existieren.

Da viel mehr an Unstimmigkeiten beim Faktencheck des gut 20-minütigen Gesprächs offenbar nicht herauskam, verlagerte sich der Rest der Reaktionen auf generelles Bashing. Den russischen Präsidenten im Interview seine Sicht der Lage benennen zu lassen, ist dann "Kuschelkurs mit Putin" (Focus) und verwandelt die ARD in "Kreml TV" (Die Welt), in dem Putin "Märchen erzählen" darf (FAZ). Die "Zeit" kommt in einem länglichen Beitrag über die "Pläne Putins" und die Russen zu dem erstaunten Schluss, "wie klar sich jetzt erkennen lässt, dass sie direkten Einfluss auf die politische Entwicklung in der Großregion nehmen".

Wozu man - mit Trappatoni - eigentlich nur noch sagen kann "Was erlauben Putin?", Einfluss auf die politische Entwicklung bei den Nachbarn nehmen ... unerhört !

Hat sich die Degeneration der Leitmedien - weg von der "Gerüchteklinik" mit ihrer Intensivstation des Faktenchecks, der klinischen Trennung von Tatsache und Behauptung, Bericht und Meinung, hin zur Gerüchteküche und industriellen Gehirnwaschanstalt - im Zuge der Ukraine-Russland-Berichterstattung verschärft oder ist dieser Eindruck nur der neuen "Trendsportart Medienbashing" geschuldet, die Außenminister Steinmeier jüngst in einer Rede thematisiert hat:

Medienbashing ist in diesen Tagen zu einer Art Trendsportart geworden. Wer... über verlogene, korrupte oder gemeine Journalisten...schimpft, verkauft viele Bücher. Wenn dagegen ein Korrespondent in Krisengebieten falsch recherchiert oder ein Kommentator eine unpopuläre These zuspitzt, kann er sich auf Beschimpfungen und Verschwörungstheorien in den sozialen Medien gefasst machen.

Hier haben wir sie wieder - wie in der Nussschale der CIA-Regieanweisung von 1967: die Kritiker als unseriöse, staatsfeindliche oder nur kommerziellen Interessen folgende "Verschwörungstheoretiker". Trotz dieser Diskurskeule kommt allerdings auch Frank-Walter Steinmeier nicht umhin, "eine erstaunliche Homogenität in deutschen Redaktionen" zu registrieren - dem ein viel breiteres Meinungsspektrum in der Bevölkerung gegenübersteht; und dass die "Glaubwürdigkeitskrise" der Medien durchaus auch damit zu tun haben könnte, dass die Journalisten ihre "Deutungshoheit" überschätzt haben.

Das scheint in der Tat so - und als Weg, die Glaubwürdigkeit zurück zu gewinnen, ist das Aussperren dieses Meinungsspektrums mit Sicherheit genau die falsche Methode. Auch die Diffamierung des Publikums als Dummköpfe und Verschwörungstheoretiker taugt nicht zur Leser-Blatt-Bindung. Was tun? Die Antwort auf die Millionendollar-Frage, wie der Zeitungskrise zu begegnen ist, ist eigentlich naheliegend und lautet, um in unserem Bild zu bleiben: Aus der Küche muss wieder eine Klinik werden.

Eine investigative Intensivstation, die Gerüchte und Tatsachen, Behauptungen und Fakten auf chirurgische Weise trennt; die Verdächtigungen über mögliche "Erreger" (Verschwörungen) auf akribische Weise nachgeht; die, wenn Staat und Behörden unter dem Regime von FUD Beweismaterial zurückhalten, dieses notfalls gerichtlich einfordert - einer solchen Presse, die im Idealfall ihren faktengesättigten Nachrichtenteil von dem mit den Meinungen und Kommentaren vollkommen trennt, sodass man letzteren mit den Werbeprospekten ggf. gleich entsorgen kann, würden die "hearts and minds" sowie die Abonnements mit Sicherheit wieder zufliegen.

Journalisten müssten nicht fürchten, künftig überflüssig zu werden wie einst die Heizer auf der Elektrolok, wenn sie sich ihrer Wächterrolle wieder besinnen, für die ihnen in demokratischen Verfassungen auch besondere Rechte verliehen wurden. Weil ihnen als Auge, Ohr und Kontrollorgan des Souveräns - des Volks - besonderer Schutz gebührt - und nicht, um als Stenographen der Macht und Lautsprecher der Eliten zu fungieren.

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