Von der Angst, das Wichtige zu verpassen

Je mehr Überblick die Medien bieten, desto stärker wird die Unübersichtlichkeit, sagt der Kunstwissenschaftler Boris Groys in einem Gespräch und erklärt, was die Realität ist

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wir sind strukturell paranoid. Seit der Aufklärung begleitet uns das frustrierende Gefühl, das Wichtigste zu verpassen und das Ganze nicht zu sehen, sagt Boris Groys, Professor für Kunstwissenschaft, Philosophie und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung (HfG) Karlsruhe. Die Massenmedien beuten diese Paranoia systematisch aus. Sie bieten Überblicke über das vermeintlich Wichtige an, enthalten aber vor, wie es gemacht wird. So bleibt der Verdacht zurück, dass da mehr sein könnte. Folgt man Boris Groys, gibt es nur einen Weg, diesen Verdacht zu entschärfen. Wir müssen von der Software zur Hardware übergehen. Wir müssen Kunst machen.

Verhilft die Lektüre einer Zeitung dem modernen Menschen zum ersehnten Überblick?

Boris Groys: Die Zeitung wird dazu gedruckt, um nicht gelesen zu werden. Das heißt die Idee, die Zeitung überhaupt zu lesen, ist widernatürlich. Man wird durch die Zeitung in erster Linie frustriert, und zwar dadurch, dass man entscheiden muss, was man liest und was man nicht liest, was man wählt oder was man nicht wählt, wobei ganz klar ist: Die Wahl ist immer schlecht.

Mir scheint, als würde die Medienlandschaft in dieser Sache gerade eine Korrektur vornehmen. Die Medien wollen diejenigen sein, die den Menschen den Überblick zurückgeben. Die "Berliner Zeitung" verspricht ihren Lesern mit einer Überblicksseite, über das Wichtigste in sieben Minuten zu informieren. Der Welt kompakt bescheinigen Leser, sie lese sich schnell und sei auf das Wesentliche reduziert und auch die Tagesthemen bringen inzwischen zu Beginn der Sendung einen Überblick des Nachrichtenüberblicks.

Boris Groys: Ja, je mehr Überblicke ich habe, um so mehr verschärft sich die Unübersichtlichkeit. Ich informiere mich darüber, was ich eigentlich verpasst habe. Man schaut in die Zeitung und bekommt Informationen zu irgendeinem Ereignis. Wenn man nicht weiß, dass es dieses Ereignis überhaupt gibt, ist man vielleicht nicht so frustriert oder weniger frustriert, als wenn man weiß, dass es dieses Ereignis gibt und es auch Informationen dazu gibt. Das heißt, jeder Überblick verschärft die ursprüngliche Frustration.

Der Überblick ist eine Illusion?

Boris Groys: Ich denke, ich sehe das aus der Perspektive eines normalen Bürgers, der keine Zeitungen macht, sondern der durch die Zeitung und andere Medien den Überblick bekommt. Das heißt, der normale Bürger hat eigentlich einen totalen Überblick. Was er allerdings vermutet, ist die Tatsache, dass dieser Überblick vorgespielt wird oder manipuliert ist. Daher entsteht beim Leser der Wunsch, diese Oberfläche des Überblickes zu durchdringen und zum Inneren, zum Kern zu kommen. Aber es gelingt dem Leser nicht. Denn der Kern ist nicht, was berichtet wird, sondern wie berichtet wird. Das heißt, der Leser ist strukturell paranoid und diese strukturelle Paranoia ist das Verhältnis des Lesers zur Presse. Wenn wir die Position nun wechseln und fragen: Was tut der Journalist? Er beutet diese Paranoia systematisch aus, indem er gleichzeitig ständig Überblicke liefert und die Art und Weise, wie er sie liefert, nach wie vor verbirgt.

Die Überblicksangbote sind demnach eine Mogelpackung. Der Kontext, in dem ein Text oder ein Bild steht, wird systematisch verwischt.

Boris Groys: Er wird verwischt, aber automatisch. Es ist nicht so, dass es absichtlich gemacht wird. Es funktioniert wie das Ankleiden. Man verhüllt ja unter dem Kleid den Körper. Entkleiden sich Menschen dann in der Öffentlichkeit, um sich so zu zeigen, wie sie sind, glauben wir an einen Werbespot oder denken an ein medizinisches Prospekt. Wir sind paranoid, wir werden paranoid gemacht, wir wollen wissen: Was ist die Realität, die dahinter steckt. Dieses paranoide Spiel bringt die Presse nach vorn, sie ist die Maschine der Paranoia, die ständig diese mediale Welt am Leben hält.

Als Gegenentwurf zum Überblick schlagen Sie für das Museum eine Mimesis der Unübersichtlichkeit vor. Wäre das auch für die Medienpraxis denkbar?

Boris Groys: Das kann es nicht geben. Das ist unmöglich und deshalb brauchen wir die Kunst. Unsere Zivilisation verfügt über zwei Operationen, eine Operation ist Reproduktion und die andere Operation ist Installation, wenn man will. Solange die Zeitung reproduziert wird, bleibt sie an der medialen Oberfläche. Die Zeitung ist nur dann in ihrer Unwirklichkeit, in ihrer Tragik, in ihrer Paradoxie, in ihrer Not zu erleben, wenn sie einmalig ist. Wenn also Robinson statt seinem Helfer Freitag, die Zeitung "Freitag" hat, dann ist sie die einzige und unerschöpfliche Quelle seiner Aufklärung und Welterfahrung. Dann wird jedes Wort hundert Mal gelesen und interpretiert und aufbewahrt. Diese Situation auf der einsamen Insel nur mit einer Zeitung ist die Situation der Installation. Warum? Wenn man eine Kopie in eine Installation hineinlegt, dann wird sie beschützt und aufbewahrt, so wie die Mona Lisa. Sie ist für alle Ewigkeit ohne Wiederholung. In diesem Gegengestus zur Reproduktion erhält man eine Perspektive, aus der man eigentlich die generelle Lage reflektieren kann.

Wenn die Arbeitsweise selbst zum Gegenstand der Berichterstattung gemacht wird, wenn zum Beispiel die Strategien der Auswahl eines Textes oder Bildes beschrieben werden, wäre das dann eine Form der Kunst?

Boris Groys: Nein. Das ist eine reine Form der Medialisierung von Kunst. Installation und Reproduktion, das sind zwei Grundbewegungen in unserer Kultur. Sie können Berichterstattung machen und sie können eine Biennale über die Berichterstattung machen. Sie haben gefragt, unter welchen Bedingungen sich die mediale Oberfläche unter Umständen reflektieren lässt. Die Antwort wäre, wenn man von der Software zur Hardware übergeht. Diesen Übergang von der Software zur Hardware nennen wir Kunst. Was auch immer Sie schreiben, was auch immer Sie drucken, es spielt keine Rolle, solange es sich um Kopien handelt. Der Leser verachtet die Kopie zutiefst, weil er weiß, dass es tausend andere davon gibt. Ich kann sie in den Müll werfen und es ist kein Verlust für die Menschheit. Wenn aber dieser gleiche Gegenstand der einzige auf der Insel wäre, beginne ich mich brennend dafür zu interessieren.

Dann wären die Massenmedien so etwas wie die Perfektion der Software. Denn die Medien treiben den Überblick zur Perfektion und schärfen bei Ihnen um so mehr den ontologischen Verdacht...

Boris Groys: Ja, aber ich kann es entschärfen, indem ich nur eine Zeitung nehme oder einen Computer und unterwerfe sie dem Schicksal einer einsamen Insel. Sie vergehen, werden von Mäusen gefressen. Und dann bin ich in der realen Welt zurück, das ist die Realität. Die Realität ist nicht, was in der Zeitung steht, sondern dass sie von Mäusen gefressen werden kann.

Das Gespräch ist eine gekürzte Fassung des Interviews, das zuerst in der Zeitschrift freitag erschienen ist.