Von der NATO zum nuklearen Gleichgewicht
Seite 4: Falken und Tauben
Auch in der neuen Regierung Johnson schien es Leute zu geben, die zu weich gegen den Kommunismus waren. Eine Diskussion des neuen NATO-Chefs mit einer Abordnung aus den USA zeugt von gewissen Differenzen. So waren die Gäste davon überrascht, dass das US-Militär konstant illegale Spionageflüge über dem Gebiet der DDR vornahm. Als Anfang 1964 ein US-Jet über der DDR abgeschossen wurde, sprach Lemnitzer von "absolute murder". Als ein halbes Jahr später russische Jets ein US-Spionageflugzeug 15 km über westdeutschem Territorium abdrängten, bewertete die Politik den Vorfall zu Lemnitzers Enttäuschung nicht als NATO-Problem, sondern als eines von Westdeutschland. Wieder wurde es nichts mit dem Krieg. Seine Soldaten durfte er auch dann nicht zu den Waffen rufen, als 1968 der Prager Frühling zu Spannungen zwischen den Supermächten führte. Bei der Diskussion, ob man Truppen an die Grenze verlegen solle, verwies Lemnitzer darauf, die NATO sei nur ein Verteidigungsbündnis. Als zuverlässigste Quelle erwies sich in diesen Tagen die Künstlerin Shirley Temple Black, die in Prag ein Gastspiel gegeben hatte. Beim Zypernkonflikt zwischen den damals als Militärdiktaturen geführten NATO-Mitgliedern Türkei und Griechenland bemühte sich Lemnitzer anfangs sogar diplomatisch.
Italien
Hinter der eigenen Front gab es jedoch Schlachten zu schlagen. In Italien war es 1963 zu einem politischen Linksruck gekommen, den Kennedy klaglos akzeptiert hatte. Fünf Monate nach dessen Ermordung kam es unter Beteiligung der italienischen Gladio-Strukturen zu einem verdeckten Putschversuch durch den Carabinieri-General Giovanni De Lorenzo, während die NATO offiziell ein großes Manöver bei Rom durchführte. Die Putschisten gaben sich in Verhandlungen mit Staatschef Aldo Moro mit einer Umgruppierung des Kabinetts zufrieden. Sie bauten Stasi-ähnliche Datenbanken mit Kompromat über einflussreiche Italiener auf, wie es Hoover in den USA vorgemacht hatte.
Belgien
Nachdem de Gaulle inzwischen selbst die Bombe hatte, stellte er selbstbewusst den Amerikanern ein Ultimatum, bis zu dem sie ihre militärischen Einrichtungen in Frankreich unter französische Kontrolle stellen sollten. Da die USA hierauf nicht reagierten, setzte er die NATO mit samt ihren Einrichtungen binnen Jahresfrist vor die Tür - inklusive über 100.000 NATO-Angehörigen und ihren Familien in Frankreich. Gegen Lemnitzer persönlich hatte der stolze Franzose nichts, zeichnete ihn sogar mit dem Großen Kreuz der Ehrenlegion aus, das er ihm am Grab Napoleons verlieh. Die inzwischen zerfallende OAS ersetzte de Gaulle durch eine von ihm kontrollierte, garantiert GLADIO-freie Miliz Service d'Action Civique (SAC).
Am neuen NATO-Hauptquartier im belgischen Casteau konnte man einen Empfang durch die örtliche Bevölkerung, ausgestattet mit Mistgabeln u.ä., durch Kundgabe eines falschen Termins verhindern. Ein Dorfbewohner kommentierte: "Als die Nazis kamen, habe ich Nägel auf die Straße gestreut. Wenn die NATO kommt, streue ich noch mehr." Wenigstens residierte Lemnitzer nun standesgemäß in einem echten Schloss, wenn auch in einem halb verfallenen.
Bei einer Gedenkveranstaltung fiel Lemnitzer durch seine militärische Ehrenbezeugung für Beethovens Ode "An die Freude" auf, die er für die belgische Nationalhymne hielt Die Offiziere eiferten ihrem Chef treu nach. Die Belgier gewöhnten sich schließlich an die Dollars der NATO.
Griechenland
Zu den geheimen NATO-Plänen gehörten auch solche zum Putsch linker Regierungen wie der "Prometheus Plan" von 1959, der den Rat gab "Zerschlagen Sie, ohne zu zögern, jeglichen feindlichen Widerstand." Als sich 1967 in Griechenland ein Wahlsieg des linken Spektrums abzeichnete, wurde auf Grundlage des Prometheus-Plans ein strategisch perfekt durchgeführter Staatsstreich vollzogen, der das Land, in dem die Demokratie erfunden wurde, in eine Militärdiktatur verwandelte, die Männern sogar das Tragen langer Haare verbot.