Von der NATO zum nuklearen Gleichgewicht
Seite 6: Zapfenstreich
Während seiner Amtszeit als NATO-Zar war Lemnitzer in erster Linie mit organisatorischen Dingen befasst gewesen. Die Ausgaben des Militärbündnisses hatten inzwischen die Grenze von 100 Milliarden Dollar erreicht. Nachdem Lemnitzer mit den kriegsmüden Europäern keine richtigen Kriege hatte führen können, wurde er Mitte 1969 mit großem militärischen Zeremoniell inklusive Fliegerstaffel verabschiedet. In Westeuropa ließ er ein Vermächtnis von 7.000 taktischen Atomwaffen zurück. Soweit sich die Rote Armee auf NATO-Gebiet sehen ließ, war sie friedlich geblieben.
Gegen den Vietnamkrieg formierte sich weltweit immer massiver die Friedensbewegung, welche Strategen wie Lemnitzer und LeMay einfach nicht verstehen wollte. Ähnlich wie Lemnitzers Großvater desertierten 50.000 wehrpflichtige Amerikaner nach Kanada, die den 58.000 gefallenen und den 300.000 traumatisierten GIs nicht nachfolgen wollten. 1970 zündeten an der Kent State University, Ohio, Studenten auf dem Campus Gebäude an, worauf die Nationalgarde unter bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen vier Studenten erschoss. Ausgerechnet an der Kent State University wurde 1982 das "Lemnitzer Center for NATO and European Union Studies eingeweiht.
Kurz vor Ablauf seiner Amtszeit als NATO-Chef hatte Lemnitzer entdeckt, dass Kennedy ihn als General pensioniert hatte, ohne dass ihm das jemals mitgeteilt worden war. Nixon ehrte den Kalten Krieger vor TV-Kameras. Der Haudegen wurde ein gefragter Redner, wo er in der Zeit der Vietnamkriegsproteste die Sowjetunion als nur äußerlich freundlich geißelte. Ein Zubrot verdiente er sich als Aufsichtsrat beim Rüstungsproduzenten (Teledyne-) Ryan, wo er ein besonderes Interesse an unbemannten Flugzeugen hatte. Ryan ist nunmehr ebenso wie Hughes Helicopters im Northrop Grumman-Konzern aufgegangen, der den futuristischen Global Hawk baut. Lemnitzer war nun da angekommen, wovor die Nation sein Idol Eisenhower gewarnt hatte: im "Militärisch-Industriellen Komplex". Doch es dauerte bis zur Ära Reagan, bis futuristische Waffen und Geheimkriege wieder so richtig gefragt waren.
Rockefeller-Kommission
Nach Nixons unrühmlichen Rücktritt berief Präsident Ford den bei den Konservativen beliebten General Lemnitzer in seinen Beirat über Auslands-Geheimdienste. Lemnitzer saß zudem diversen Gremien zur Außenpolitik vor und pflegte sein Old Boys-Netzwerk in Europa.
Im Zuge des Watergate-Skandals wurde bekannt, dass die amerikanischen Geheimdienste hinter dem Rücken des Kongresses zahlreiche schmutzige Operationen wie Morde an ausländischen Staatschefs durchgeführt und sogar im Inland operiert hatten. Schlüsselfiguren wie CIA-Mann Howard Hunt hatten auch unter Nixon Karriere gemacht, der nie verriet, was genau er mit "the whole bay of pigs-thing" gemeint hatte. Auf Fotos und Filmen, die beim Kennedy-Attentat in Dallas entstanden, weisen mehrere Personen Ähnlichkeiten mit CIA-Leuten auf.
Um Licht in das Dunkel zu bringen, wurde 1975 ein Untersuchungsausschuss gebildet, dem Vizepräsident Nelson Rockefeller vorsaß. In seine Kommission berief Rockefeller auch einen ausgewiesenen Fachmann für tödliche Staatsgeheimnisse: Lemnitzer. Zu den Fragen, die das Komitee untersuchte, gehörte insbesondere der Verdacht, die Ex-CIA-Männer wie Nixon-"Klempner" Frank Sturgis und E. Howard Hunt, seien in das Kennedy-Attentat verwickelt. Wie der Rockefeller-Report feststellte, war dem natürlich nicht so. Ein weiteres Kommissionsmitglied war der spätere Präsident Ronald Reagan, der schon 1962 verstanden hatte, dass es mit den Sowjets keine Koexistenz geben konnte.
Nunmehr wurde der einfallsreiche General von Ford in das Committee on the Present Danger (CPD) berufen, einem von der CIA initiierten Ausschuss, der Kampagnen gegen die Sowjetunion plante. Ebenso General William H. Craig, der seinerzeit die Vorschläge zu Northwoods beigesteuert hatte. Leiter der CIA war inzwischen der Ex-Marinepilot George H.W. Bush.
Church-Kommission
Die von der Rockefeller-Kommission fortgesetzte Tradition handzahmer Ausschüsse vermochte diesmal jedoch nicht zu überzeugen, so dass die CIA in einer neuen Untersuchung des hartnäckigen Senators Frank Church schließlich doch noch gewisse Federn lassen musste.
House Select Committee on Assassinations-Untersuchungen
Bei einem weiteren Ausschuss, der sich den CIA-Attentaten annahm, verschwand u.a. ein Audioband, das Oswald von seinem angeblichen Besuch der russischen Botschaft in Mexiko entlastete. Wie viele Fehlspuren beim Kennedy-Mord erinnerten diese Praktiken auffällig an Desinformationskampagnen der CIA. Wie schon nach dem Attentat selbst und während der streitbaren Garrison-Untersuchung wurde die Aufklärung durch eine Reihe von Morden und seltsamen Todesfällen behindert. Als besonders tragisch erwies sich das erstaunlich frühe Ableben des CIA-Killers David Sanchéz Morales, auf den sich die Hinweise auf eine unmittelbare Beteiligung am Kennedy-Attentat verdichten. Die Untersuchung der Attentate musste vorzeitig beendet werden, da der Kommission keine finanziellen Mittel mehr zu Verfügung standen.
Regierung Reagan
1980 trat Lemnitzer endlich in die Republikanische Partei ein. Der neue Präsident Ronald Reagan hatte eingesehen, dass es wieder amerikanischer Erstschlagskapazität bedurfte. Reagan fing wieder an, den Weltraum zu militarisieren, forcierte den Tarnkappenbomber B 2, nahm Lemnitzers gescheitertes Raketenabfangprogramm wieder auf und relativierte das atomare Gleichgewicht, indem er durch Stationierung der Pershing II-Raketen in Westdeutschland die Reaktionszeit auf unrealistische 8 Minuten verkürzte. Der inzwischen in "NSDD-13" umbenannte Doomsday-Plan ist derzeit noch unter Verschluss. Die Sowjets interpretierten Reagans aggressives Säbelrasseln als Vorbereitung eines nuklearen Erstschlags, so dass der Lemnitzer-Fan im Herbst 1983 beinahe einen Atomkrieg provoziert hätte, ohne es zu merken. Auch die Invasion einer Insel, bevor diese dem Kommunismus anheim fallen könnte, wurde nachgeholt.
PsyOps
Auch auf das politische Klima bei den NATO-Partnern nahmen in der Reagan-Ära im Stile Lemnitzers nicht nur die Geheimdienste verdeckten psychologischen Einfluss, sondern auch das Militär selbst: Als sich Anfang der 80er Jahre der schwedische Politiker Olof Palme für ein Beenden des Kalten Kriegs einsetzte, brachten ihn geheimnisvolle, scheinbar russische U-Boote in Misskredit, die vermehrt in schwedischen Hoheitsgewässern gesichtet worden waren. Nachdem die schwedische Marine mit dem Einsatz von Wasserbomben begonnen hatte, wurde sie von ganz oben eilig zurückgepfiffen. Erst 2000 räumt der seinerzeit verantwortliche US-Verteidigungsminister Caspar Weinberger ein, dass es sich in Wirklichkeit um amerikanische U-Boote gehandelt hatte. Auch sonst hatte Weinberger allerhand zu verbergen.
Während die psychologische Operation mit den U-Booten heute unstreitig ist, gibt es noch immer zahlreiche ungeklärte Attentate, die Rüstungsgegner und Parteien im linken Spektrum in Misskredit brachten und verängstigte Wähler solchen Parteien zutrieben, die sich zur NATO unter amerikanischer Dominanz bekannten.