Von der Risiko- zur Möglichkeitsgesellschaft

Seite 2: Globalisierung und Nationalstaat

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Eine Umverteilung des Reichtums setzt politische Handlungsfähigkeit und einen Staat voraus, der Gelder über Steuern erheben und verteilen kann. Aber genau dies scheint gegenwärtig nicht mehr möglich sein. Die Unternehmen und die gesellschaftliche Elite gehen dorthin, wo sie möglichst wenig Steuern zahlen müssen und möglichst wenig Auflagen bekommen. Die Menschen, die es sich leisten können, ziehen sich in die Gettos der Reichen zurück. Die Akzeptanz der Umverteilung des Reichtums setzt eine gewisse Solidarität voraus, die so etwas wie eine soziale Klammer über die verschiedenen Schichten hinweg darstellt. Die Globalisierung der Wirtschaft führt hingegen zu einer immer schärferen Polarisierung der Einkommen und zu einer Entsolidarisierung innerhalb der Staaten. In den USA wurde von Bill Clinton erst kürzlich die Sozialfürsorge weiter zurückgefahren, um die vermeintlich faulen oder passiven Menschen in die Arbeit zu drängen. Außer einigen Lippenbekenntnissen sieht man eigentlich noch keine Tendenz einer wirklichen Veränderung.

Ulrich Beck: Ja, man sieht diese Tendenz nicht. Aber die Erosion der Erwerbsarbeit verdeckt die Konflikte, auch die intellektuellen und politischen Konflikte, die entstehen und die aufzudecken oder zu inszenieren sind. Zwischen der alten Vorstellung der Vollbeschäftigung und dem Versuch zu fragen, was eigentlich geschieht, wenn Erwerbsarbeit nicht mehr das Zentrum der Gesellschaft und der Lebensführung ist, klafft eine Lücke. Wir sollten fragen, welche Optionen dies enthält, welche Möglichkeiten und Institutionen es gibt, um die Menschen dennoch zu integrieren und zu aktivieren. Das Schrumpfen der Erwerbsarbeit ist überall feststellbar und vollzieht sich unabhängig von den Regierungsformen. Die einzige Alternative ist die amerikanische, nämlich die Suppe immer dünner zu machen, also Doppelbeschäftigung oder working poor vorzuprogrammieren.

Ein anderes Thema des Übergangs von der ersten zur zweiten Moderne ist, wie Sie dies auch sagten, die Globalisierung, die mit der Austrockung der Staatsfinanzen und den neuen Spielräumen für die Unternehmen einhergeht, dort die Steuern zu zahlen, wo es für sie am günstigsten ist, und zu leben, wo die Infrastrukturen für sie am besten sind. Das hat aber noch viele andere Folgen. Der Konflikt zwischen dem Nationalstaat und den globalen Wirtschaftsakteuren wird nicht genug beachtet. Die Neoliberalen sind im nationalstaatlichen Rahmen letztlich die Abwickler ihrer selbst, weil sie auf das Schrumpfen des Staates in allen Funktionen setzen, was letztlich dazu führt, daß die Politik abgeschafft wird.

Ich bin allerdings über die Diskussion in Deutschland sehr unglücklich, weil ich längere Zeit in Großbritannien war, wo sichtbar wurde, daß hier die Debatte ganz anders läuft. Erstens ist Großbritannien aus einer imperialistischen Geschichte heraus immer eine sich stärker global verstehende Nation gewesen. Globalisierung ist hier nichts Externes und Bedrohliches, sondern etwas, was die Diskussion schon von innen her bestimmt. Zweitens wird Globalisierung nicht auf ökonomische Fragen verkürzt, die nur noch protektionistische Antworten zulassen. Es wird erkannt, daß die Vorstellung, in abgeschlossenen Räumen zu leben und denken, daß diese kulturelle Exklusionsvorstellung fiktiv geworden ist.

Andererseits beharren die Engländer doch immer sehr stark auf ihre Abgrenzung zum Kontinent und hadern mit der Unterordnung der Nation in die Europäische Gemeinschaft.

Ulrich Beck: Europa ist immer noch eine lokale Orientierung. Das ist das Interessante. Globalisierung wird immer noch als ein nationalstaatliches Schema gesehen, aber sie geht darüber hinaus. Und das ist ein Teil des englischen Selbstbewußtseins.

Durch die Globalisierung werden Staaten, Regionen und Städte, also alle lokal verankerten Gesellschaftsformationen von den multinational agierenden Unternehmen erpressbar und gegeneinander ausspielbar. Welche Alternative gibt es denn dazu? Den Globalstaat, der die Wirtschaftsstrukturen wieder als Innenpolitik in den Griff bekommt? Andererseits bleiben immer Verankerungen im Raum, in lokalen Standorten und Märkten. Ganz in den Cyberspace aussteigen kann man noch nicht. Daher muß es auch noch politische Lösungen im regionalen Raum geben, zumindest wenn es sich um einen interessanten Markt handelt. Entfernt sich also wirklich die Ökonomie ganz von der politischen Beeinflussung, was das Ende der Politik wäre, oder gibt es noch wirkliche politische Steuerungsmöglichkeiten?

Ulrich Beck: Zunächst einmal muß man erkennen, daß die Vorstellungen von Globalisierung, wie Sie diese dargestellt haben, ein Risiko sind. Sie sind keine Realität, sondern eine drohende Möglichkeit. In der angelsächsischen Diskussion unterscheidet man, was hierzulande noch viel zu wenig beachtet wird, zwischen Internationalisierung und Globalisierung der Wirtschaft. Internationalisierung heißt, daß sich der Austausch auf bestimmte, letztenendes immer noch fixierten Regionen beschränkt. Das ist deswegen eine wichtige Unterscheidung, weil, was etwa Deutschland betrifft, die Internationalisierung der Produktion noch immer weitgehend auf den europäischen Markt beschränkt ist und sich im übrigen in mit Nationalstaaten vergleichbaren Konditionen bewegt. Der Anteil der globalisierten Wirtschaft ist im Verhältnis zu dem der internationalen noch immer sehr gering. Was wir augenblicklich erleben, ist ein sehr geschickt inszeniertes Ausspielen des Globalisierungsrisikos. Man muß also sehr viel stärker die Inszenierung der Probleme mit den realen Entwicklungen konfrontieren.

Gleichzeitig mit der Globalisierung vollziehen sich neue Grenzziehungen. Die Märkte und Kapitalströme werden offen, während die Nationalstaaten etwa die Migrationsströme durch neue Mauern abwehren. Dient das Inszenieren des Globalisierungsrisikos politisch genau dieser Tendenz zur Abschottung und Zitadellenbildung von homogeneren Staaten, Regionen, Ethnien, Schichten und Gemeinschaften?

Ulrich Beck: Hier liegt der zentrale Widerspruch. Man kann dies wieder in einer historischen Parallele von erster und zweiter Moderne zeigen. In der ersten Moderne gab es die nationalstaatliche Fixierung, aber ihr entsprach auch die wirtschaftliche Entwicklung. Politisch war man noch kleinräumlicher organisiert, und der Nationalstaat war die größere Organisationseinheit. Heute haben wir eine Situation, in der der Bourgeois inzwischen ein globaler Akteur ist, aber der Citoyen noch in nationalstaatlichen Kategorien befangen ist. Deswegen hat die protektionistische Reaktion immer etwas Ideologisches. Die Vorstellung von abschließbaren Räumen ist fiktiv.

Aber wirklich fiktiv ist sie wiederum doch nicht, denn der begrenzte Raum ist weiterhin eine Tatsache. Staaten haben etwa einen abgeschlossenen Rechtsraum mit erheblichen Konsequenzen.

Ulrich Beck: Da muß man eben die kulturelle Ebene sehen, weil häufig als Reaktion auf die globalen Räumen wieder ethnische und nationale Identitäten verschärft werden. Untergründig haben wir es auch nicht mit einer multikulturellen Identität zu tun, die eine viel zu oberflächliche Argumentationsfigur darstellt, sondern im Alltag und im Privatleben mischen sich globale und lokale Aspekte. Martin Albrow hat eine Reihe von Studien in Großbritannien durchgeführt, in denen er zeigen konnte, daß die Begrifflichkeit, die wir für bestimmte Räume haben, wie Gemeinde, Klasse, oder Familie, die alle lokal gedacht werden, nicht mehr stimmig ist. All das, was wir bislang an einen bestimmten Raum gebunden gesehen haben, hat sich bereits in vielschichtigen Formen globalisiert oder interkulturalisiert. Das kann man an Adressen, Lebensgewohnheiten, Vorlieben oder entstehenden Identitäten festmachen, die alle sehr viel mehr als früher gemischt sind. Er hat eine sehr interessante Untersuchung über einen afrikanischen Karneval in Nottingham gemacht, an dem nichts mehr afrikanisch ist. Er ist ein reines Produkt der afrikanischen Mischkulturen Großbritanniens, die das erfunden haben, um hier eine Verschmelzung zwischen britischer Identität und farbigem Selbstbewußtsein zu entwickeln.

Das klingt jetzt natürlich sehr optimistisch und nach einem gelingenden "Schmelztiegel" der Ethnien und Kulturen.

Ulrich Beck: Das ist faktisch so.

Genausogut ließe sich sagen, daß die Konflikte zwischen Ethnien und Kulturen wieder zunehmen und die größeren Einheiten innerlich zerfallen. Samuel Huntington etwa hat in seinem Buch "Kampf der Kulturen" den Schluß gezogen, daß nach der Zeit der westlichen Vorherrschaft, des westlich geprägten Internationalismus oder der ersten Moderne wieder die Suche nach einer kulturellen Identität im Unterschied zu anderen sich durchzusetzen beginnt - auf der Grundlage der ökonomischen und technischen Globalisierung. Globalisierung heißt für ihn also das Wiedererstarken der kulturellen Einschließung, die sich auch im geographischen Raum realisiert. An den Grenzen zwischen den großen Kulturen, so seine Diagnose, wird es zu neuen Kämpfen kommen. So ist für ihn die Grenze zwischen christlichen, orthodoxen und islamischen Kulturen, Beispiel Bosnien, eine blutige Grenze. Die moderne Klammer der internationalen westlichen Ideologie und Lebensform und damit auch die Mischformen, auf die Sie hingewiesen haben, zerfallen in dieser Perspektive und weichen abgegrenzten und homogeneren Kulturräumen.

Ulrich Beck: Es gibt die systematische Problematik, wie wir mit der neuen offenen Situation der zweiten Moderne umgehen. Das ist ein Möglichkeitsraum, der verschiedene Entwicklungsvarianten zuläßt. Ich habe keine Schwierigkeiten, mir Horrorszenarien auszudenken, aber wir haben, wie ich finde, davon eher ein Überangebot, wobei meist nicht deutlich wird, daß es nur Szenarien sind, die auf bestimmten Voraussetzungen beruhen.

Samuel Huntington berücksichtigt nicht genug, daß die Vorstellung abgeschlossener Weltkulturen völlig fiktiv ist. Wir haben schon in der Forschung gesehen, daß das, was als radikaler islamischer Fundamentalismus gilt, ein westliches Produkt ist. Es gibt sehr viele unterschiedliche Formen islamischer Kultur. Der islamische Fundamentalimus ist nur eine unter ihnen, und noch dazu wurde der Begriff vom Westen entworfen und in die entsprechenden Regionen projiziert. Die Situation ist außerordentlich kompliziert geworden. Es ist nicht ausgeschlossen, daß eine Selbstdefinition dieser Art eine Realität schafft, die sich bestätigt, aber das ist nicht die einzige Variante. Die offene Situation nur in einen Krieg der Weltkulturen umzudenken, finde ich überdies relativ phantasielos. Man hat aus dem bisherigen Erfahrungshorizont heraus, daß es immer irgendwelche Konflikte gibt, das jetzt nur auf die Kulturen projiziert. Die erste empirische Kontrolle zeigt schon, daß das so nicht stimmt. Die Konflikte basieren nur teilweise auf kulturellen Unterschieden. Solche Szenarien sind nicht das, was wir wirklichen brauchen. Intellektuell interessant wäre hingegen eine Debatte über den Möglichkeitsraum der zweiten Moderne, in der nicht nur immer alles untergeht oder zu Konflikten führt. Das hängt im übrigen auch immer von den Selbstdefinitionen ab, weil die Strukturen wesentlich an politisches Handeln, das aus Wissen entsteht, gebunden sind.

Ich empfinde ein starkes Ungenügen zwischen dem Zusammenbruch an Selbstverständlichkeiten und theoretischen Ausgangspositionen durch das Ende des Kalten Krieges und der sehr lahmen Antwort darauf. Alle drehen ihre alten Mühlen einfach weiter. Die einen denken alles in Systemen weiter, wie das Niklas Luhmann mit großem Scharfsinn macht, oder man sieht irgendwelche großen Kulturkonflikte entstehen. Das alles ist ein Ausdruck der intellektuellen Ratlosigkeit. Für die Eröffnung einer Debatte über die Herausforderungen der zweiten Moderne müßte man herausfinden, welche Konfliktlinien sich heute schon absehen lassen, ohne in einen Fatalismus zu verfallen.